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Titel
Konsum im Kaiserreich. Eine statistisch-analytische Untersuchung privater Haushalte im wilhelminischen Deutschland


Autor(en)
Fischer, Hendrik K.
Reihe
Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte. Beihefte 15
Erschienen
Berlin 2011: Akademie Verlag
Anzahl Seiten
€ 99,80
Preis
467 S.
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Ulrich Pfister, Historisches Seminar, Universität Münster

Die Leistung der Studie besteht in der Entwicklung und der sorgfältigen Dokumentation eines Datensatzes von knapp 4.000 Haushaltsrechnungen aus gut hundert empirischen Studien aus der Zeit des Kaiserreichs. Die Daten werden einerseits zur Schätzung einfacher Konsumfunktionen für breite Güterkategorien genutzt, andererseits wird mit Hilfe einer Clusteranalyse die Höhe der jährlichen Haushaltsausgaben für Nahrung, Energie, Wohnen, Kleidung, Körperpflege, Kultur, Freizeit und Sonstiges im Hinblick auf möglichst homogene Typen von Konsummustern untersucht.

Zwei Befunde hebt Fischer besonders hervor: Erstens betont er die innere Differenziertheit der Muster der Bedarfsdeckung im Arbeitermilieu gegen Triebels These der Einheit des proletarischen Konsums.1 Dies ergibt sich für ihn daraus, dass Arbeiterhaushalte über mehrere große Cluster mit jeweils homogenen Ausgabenmustern verteilt sind. Zwar unterscheiden sich die Cluster mit einem hohen Anteil an Arbeiterhaushalten vor allem hinsichtlich des Einkommens und des daraus sich ergebenden absoluten Ausgabenniveaus, doch existieren zwei Varianten bzw. Untergruppen: Die eine ist trotz vergleichsweise komfortablen Einkommens durch einen hohen Anteil an Nahrungsmittelausgaben geprägt, was alternativ mit einer großen Kinderanzahl bzw. mit einer vermuteten Neigung zu einem hedonistischen Lebensstil zusammenhängt. Die andere Gruppe, die das höchste Einkommen innerhalb der Unterschicht aufweist, gibt einen vergleichsweise größeren Anteil für Wohnen aus. Darin widerspiegelt sich auch der Befund, dass die Nachfrage nach Wohnen bezogen auf das Einkommen einheitselastisch, die Einkommenselastizität der Nachfrage nach Nahrungsmittel dagegen inelastisch ist (S. 180 f.).

Zweitens widerspricht Fischer der Vorstellung, Konsummuster in der Kaiserzeit wären stark nach Klassenlinien geschieden gewesen. Vielmehr wiesen gerade die beiden soeben angesprochenen Konsummuster eine Durchmischung von Arbeitern, Unterbeamten und kleinen Angestellten sowie Gewerbetreibenden auf. Insgesamt sei somit der Konsum im Kaiserreich außerhalb der Landwirtschaft primär durch die Einkommenshöhe und allenfalls sekundär durch klassen- und gruppenspezifische Präferenzen bestimmt worden.

Die Studie bringt vor allem durch die Bereitstellung eines sorgfältig dokumentierten großen Datensatzes die Forschung zum Konsum in den Jahrzehnten vor dem Ersten Weltkrieg deutlich voran. Hinsichtlich der Auswertung hätte jedoch etliches anders angegangen werden können. Erstens ist die Anlage der Clusteranalyse problematisch, indem Fischer untransformierte Betragsummen der einzelnen Ausgabekategorien als Basis der Analyse nimmt (S. 189-191). Konsumtheoretisch interessieren aber Differenzen und nicht absolute Niveaus, weshalb logarithmische Transformationen durchzuführen sind (so Fischer selber bei der Schätzung von Konsumfunktionen, S. 179 f.). Zu beachten ist auch, dass das der Clusteranalyse zugrunde gelegte euklidische Distanzmaß sensitiv auf Unterschiede zwischen Variablen hinsichtlich ihres Maßstabs ist, weshalb letztere in der Regel z-standardisiert werden. Im vorliegenden Fall bedeutet das Unterbleiben dieser Operation, dass die Cluster-Einteilung bezogen auf die Mittel- und Unterschichten maßgeblich durch die absolute Höhe der Nahrungsmittelausgaben, sekundär durch diejenigen für Wohnung, Kleidung und Übriges bestimmt wird; Unterschiede bezogen auf weitere Variablen mit geringen Ausgabebeträgen gehen unter. Mindestens wäre es angezeigt gewesen, unterschiedliche denkbare Ansätze (auch mit Ausgabeanteilen statt Beträgen) durchzurechnen und die Sensitivität der gezogenen Schlüsse in Bezug auf die Anlage der Analyse zu erörtern.

Zweitens sei betont, dass die Cluster-Analyse ein exploratives Verfahren ist und somit keine Methode zum Testen von Hypothesen darstellt. Auch wenn explorative Verfahren wertvolle Hinweise auf die Struktur eines Datensatzes geben können, vermag somit eine Cluster-Analyse die die Studie anleitende Frage nach der relativen Bedeutung des Einkommens bzw. von klassen- und gruppenspezifischen Präferenzen bei der Prägung von Konsummustern (S. 40–42) nicht zu entscheiden. Eine Alternative besteht in der Schätzung von Konsumfunktionen, denen zum Beispiel Dummy-Variablen für spezifische Schichtpositionen hinzugefügt werden. Die von Fischer implementierte Spezifikation von Konsumfunktionen (S. 177–182) ist allerdings aufgrund der Nicht-Berücksichtigung der Preis- und der Kreuzpreiselastizitäten unzulänglich. Zusätzlich würde die Schätzung von Konsumfunktionen für einzelne Güter, auch wenn dafür aufgrund von Lücken nur ein Teil der Daten herangezogen werden könnte, eine wesentlich präzisere Analyse der Determinanten von Konsummustern erlauben, als dies aufgrund der von der Studie verwendeten breiten Kategorien möglich ist.2 Der nun vorliegende Datensatz eröffnet somit ein umfangreiches Feld weiterführender Untersuchungen.

Anmerkungen:
1 Vgl. Armin Triebel, Zwei Klassen und die Vielfalt des Konsums. Haushaltsbudgetierung bei abhängig Erwerbstätigen in Deutschland im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts, Berlin 1991.
2 Dies zeigt etwa Sara Horrell, Home demand and British industrialization, in: Journal of Economic History 56 (1996), S. 561–604, die unter anderem auch Effekte der Arbeitsmarktteilnahme von Frauen und Kindern sowie den Familienzyklus berücksichtigt.

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