I. Borowy (Hrsg.): Uneasy Encounters

Titel
Uneasy Encounters. The Politics of Medicine and Health in China 1900-1937


Herausgeber
Borowy, Iris
Erschienen
Frankfurt am Main 2009: Peter Lang/Frankfurt am Main
Anzahl Seiten
230 S.
Preis
€ 42,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Alexandra Pfeiff, Europäisches Hochschulinstitut, Florenz

Der Sammelband „Uneasy Encounters“ diskutiert am Beispiel der Medizinentwicklung Aspekte des chinesischen Modernisierungsprozesses, wozu in dem Band der koloniale Einfluss europäischer Staaten, die Rolle humanitärer internationaler Organisationen und die Spannungen zwischen Tradition und Moderne gezählt werden. Medizin erfüllte im Hinblick auf die Modernisierungsbestrebungen der chinesischen Gesellschaft sowie der imperialistischen Mächte eine Vielzahl von unterschiedlichen Aufgaben, die aus medizinischer, politischer und sozial-wirtschaftlicher Perspektive (S. 11) analysiert werden.

Der Sammelband entspricht der in den letzten Jahren vermehrt gestellten Forderung nach der Herausstellung transnationaler Zusammenhänge im China des 20. Jahrhundert wie der verstärkten Fokussierung auf die Geschichte internationaler Organisationen.1 Zudem leistet der Band einen wichtigen Beitrag zur systematisch nicht ausgearbeiteten Medizingeschichte Chinas aus sozio-politischer Perspektive und erweitert bisherige Studien2 um Fallbeispiele, die einen Einblick in die regionale Unterschiedlichkeit der Gesamtentwicklung erlauben.

So zeichnet Qiusha Ma den Einfluss der westlichen Medizin in China am Beispiel der christlichen Missionen sowie des Medizinprogramms der Rockefeller Foundation (RF) nach. Im Vordergrund seines Vergleiches steht die Dominanz der westlichen medizinischen Modernisierung, zunächst mit dem Ziel der Verbreitung des christlichen Glaubens, dann im Sinne einer zivilgesellschaftlichen und humanitären Entwicklungspolitik, die durch die Etablierung der Volksrepublik unterbrochen wurde, seit den 1980er-Jahren jedoch wieder hervorgetreten ist. Ma konstatiert, dass Fragen nach der Positionierung Chinas zwischen der eigenen und der westlichen medizinischen Tradition, wie sie bereits in den Diskussionen des frühen 20. Jahrhunderts aufgeworfen wurden, nichts von ihrer Aktualität verloren haben (S. 56).

Florence Bretelle-Establet wendet sich in ihrem Beitrag der französischen Kolonialpolitik nach dem Sieg Frankreichs über China 1885 in Südostasien zu. Die Untersuchung der französischen Kolonialpolitik sowie deren Umsetzung durch französische Kolonialärzte verdeutlichen ebenfalls die koloniale Interaktion mit der Lokalbevölkerung. Dass die imperialistische Politik nicht ausschließlich durch brutale Unterdrückung und Implementierung ungewollter Neuerungen gekennzeichnet war, sondern auch durch Kollaboration und Kooperation zeigen die Aktivitäten der Militärärzte, von der die Autorin annimmt, dass über ihr Gelingen mehr die Intelligenz und Ausdauer des medizinischen Personals entschied als die Entscheidungen der kolonialen Autoritäten in Frankreich (S. 84).

Vor dem Hintergrund des Sozialdarwinismus, der durch zahlreiche Übersetzungen ins Chinesische bei reformistisch orientierten Intelektuellen Anklang fand, zeichnet Liping Bu die Versuche der chinesischen Mediziner nach, durch öffentliche Gesundheits- und Hygieneerziehung die gesellschaftlichen Verhältnisse zu verändern. Seine Betrachtungen thematisieren verschiedene Kampagnen der chinesischen Medizingesellschaft (CMS) in Zusammenarbeit mit der YMCA und der RF. Bus Artikel gewährt eine detailreiche Einsicht in die wichtigsten Aktivitäten der damaligen Medizinwelt Chinas, hygienische Standards und Krankheitsprävention, die als „essential ingredient of modernity“ (S. 117) betrachtet wurden, in China zu institutionalisieren – und sie somit den westlichen Maßstäben anzupassen. Die Resultate der nationalen Erziehungsbewegung mündeten in der Erweckung des öffentlichen Bewusstseins für Zusammenhänge zwischen Hygiene und Krankheit, Vorsorge und schließlich die Wichtigkeit der öffentlichen Gesundheitserziehung für den Aufbau einer modernen Nation (S. 117).

Eine relativ kurze Zeitspanne, nämlich die Jahre von 1912-1931, umfasste die Arbeit des Manchurian Plague Prevention Service (MPPS) unter der Leitung des in Cambridge ausgebildeten und einflussreichen chinesischen Mediziners Wu Liande (1879-1960), die Liew Kai Khiun in seinem Artikel behandelt. Seine Schlussfolgerungen stellen dar, dass die chinesischen Mediziner nicht nur selbständig westliche Präventionstechniken anwendeten, sondern diese ebenfalls zum Zweck der politischen Einflussnahme in dem nordchinesischen Territorium nutzten, das von Japan und Russland gleichermaßen umkämpft wurde. Mit der japanischen Besetzung der Mandschurei 1931 endete die Arbeit des MPPS; seine Aktivitäten lassen jedoch Schlüsse über den Versuch Chinas zu, durch die Implementierung von Gesundheitskontrollen, der Ausbildung von Personal und der Errichtung von Krankenhäusern, die chinesischen Interessen auszuweiten, die Liew als „medical diplomacy“ bezeichnet (S. 142). Leider konnte die redaktionelle Bearbeitung des Aufsatzes nicht verhindern, dass eine wichtige Literaturangabe im Forschungsüberblick nicht richtig aufgeführt wird (S. 127). Der Autorenname lautet richtig Carl (und nicht Charles) F. Nathan, und seine Dissertation erschien 1967 unter dem Titel „Manchurian plague prevention and its politics, 1910-1931“ bei Harvard University Press.

David Luesinks Beitrag greift ebenfalls den Einfluss des Mediziners Wu Liande auf, dessen Standardwerk zur Medizingeschichte („History of Chinese Medicine. Being a Chronicle of Medical Happenings in China from Ancient Times to the Present Period“) 1932 in Tianjin und erneut 1936 in Shanghai publiziert wurde. Das auf Englisch in Zusammenarbeit mit Wang Jimin (1899-1972) verfasste Werk verfolgte das Ziel die traditionelle Medizin Chinas als schwach und unfähig zu erklären und sie der westlichen Allopathie unterzuordnen (S. 163). Die historiographische Auseinandersetzung mit dem Standardwerk, wie sie Luesink verfolgt, eröffnet Einsichten in den chinesischen Diskurs über Modernisierung und Nationalbewusstsein, die Luesink als ein Paradox liest. Während einerseits die chinesische traditionelle Medizin als vollkommen rückständig bezeichnet und der westlichen Entwicklung untergeordnet wird, offenbart für ihn gerade diese Unterordnung Raum für Zweifel an der Unterdrückung der eigenen Traditionen (S. 167).

Eine weitere Perspektive auf die philanthropischen Tätigkeiten in China wird im Beitrag von Socrates Litsiso vorgestellt, der sich mit der medizinischen Mission der Rockefeller Foundation (RF) beschäftigt. Der Autor verdeutlicht, dass die Umsetzung und der Umfang der medizinischen Projekte, wie Präventivarbeit und Ausbildung des Krankenpersonals hauptsächlich von dem persönlichen Engagement amerikanischer Mediziner abhingen – konkret des China Medical Board (CMB) und des Peking Union Medical College (PUMC) –, namentlich Selskar Mike Gunn und John Black Grant. Die China-Mission der RF bezeichnet Litsiso als gescheitert (S. 178), da es den Verantwortlichen nicht gelang, die amerikanischen Projekte in die öffentliche Gesundheitserziehung in China einzubinden und die Koordinierung zwischen New York und den Erziehungskampagnen im städtischen sowie ländlichen China zu koordinieren.

Abschließend beschreibt Iris Borowy die europäische Gesundheitspolitik der League of Nations Health Organisation (LNHO) in China, die ebenfalls wie das Gesundheitsprogram der RF, mit erheblichen Umsetzungsschwierigkeiten konfrontiert wurde. Die Kurzlebigkeit der Republik China unter der Führung der Guomindang sowie der überzogene Ehrgeiz des Projektes, der Umfang des Versuches und die Überspanntheit der Ziele ließen es ruhmlos scheitern (S. 216). Insgesamt, so Borowy, war die Zusammenarbeit der LNHO und der chinesischen Regierung nicht frei von imperialen Zielen, die sich durch die Dominanz – und damit auch Einseitigkeit – der westlichen Organisationsstrukturen und der Allopathie bemerkbar machten (S. 213). Die Kooperationsbereitschaft der chinesischen GMD-Regierung auf der anderen Seite spiegelte den Versuch wider, das Land in internationale Strukturen einzubinden. Das Jahr 1931 leitete allerdings ein Ende beiderseitigen Bemühungen ein, dessen Grundlagen in der Belastung durch Naturkatastrophen, wie die verharrende Überschwemmung des Yangze und weiter Gebiete Chinas sowie den japanischen Angriffen im Norden des Landes lagen. Wäre das Experiment ungehindert durchgeführt werden, hätte es folglich nicht nur die chinesische Gesundheitspolitik verändert, sondern ebenfalls die „Regeln der globalen Gesundheitspolitik“ beeinflusst und das allmähliches Verlassen der kolonialen Einteilung der Welt in „zivilisierte“ und „unzivilisierte“ Regionen eingeleitet (S. 224).

Trotz der ein wenig sprunghaft anmutenden Komposition des Sammelbandes umfassen die Aufsätze doch die wichtigsten Themen des chinesischen medizinischen Modernisierungsweges, wozu man die Professionalisierung und Institutionalisierung sowie ihre Einbettung in den Staatsaufbau zur Zeit der Republik Chinas zählen kann, und leisten einen wichtigen Beitrag zu einem bislang wenig erforschten Gebiet. Wünschenswert wäre es jedoch, die Rolle von Frauen für die Medizin Chinas herauszustellen, wurden als Motiv auf dem Titelbild doch ausgerechnet chinesische Krankenschwestern als Repräsentantinnen der medizinischen Modernisierung ausgewählt.

Anmerkungen:
1 William C. Kirby, The Internationalization of China. Foreign Relations at Home and Abroad in the Republican Era, in: China Quarterly 150, 1997, S. 35-58; Akira Iriye, Global Community. The Role of International Organizations in Making of the Contemporary World Order, New York 2000.
2 Ruth Rogaski, Hygienic Modernity. Meanings of Health and Disease in Treaty-Port China, Berkeley, CA 2004.

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