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Titel
Gerücht und Revolution. Von der Macht des Weitererzählens


Autor(en)
Selbin, Eric
Erschienen
Anzahl Seiten
288 S.
Preis
€ 39,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Andreas Lotz, Sonderforschungsbereich 644 „Transformationen der Antike“, Humboldt-Universität zu Berlin

Mit welchen Begriffen lassen sich die jüngsten Umwälzungen im arabischen Raum am treffendsten beschreiben? Und wie lassen sie sich erklären? Warum kam es nicht bereits früher zu derartigen Aufständen? Welche Faktoren hatten den stärksten Einfluss auf diese Ereignisse? Waren die endemische Korruption und die ökonomischen Missstände oder der repressive Charakter der Regime die Auslöser für den sogenannten arabischen Frühling? Oder spielte dabei der demographische Wandel und die damit zusammenhängende Erosion des traditionellen Familiensystems die entscheidende Rolle?1 Oder gar das Gefühl der Scham?2

Der US-amerikanische Politikwissenschaftler Eric Selbin schreibt, dass mithilfe der etablierten sozialwissenschaftlichen Methodologie nicht hinreichend erklärt werden kann, warum Revolutionen hier und nicht dort ausbrechen, zu diesem Zeitpunkt und nicht zu einem anderen, in diesen Gesellschaften und nicht anderen. Er plädiert deshalb für „einen neuen Ansatz, der sich explizit auf die Gedanken und Gefühle der Menschen bezieht“ (S. 10). Die Geschichten von Revolution, Rebellion und Widerstand stellen für ihn dabei den entscheidenden Erklärungsfaktor dar. Solche Geschichten ermöglichen es den Menschen, sich die Umgestaltung ihres Lebens und der Welt vorzustellen. Was und wer ein Mensch ist, hänge mit den Geschichten zusammen, die er erzählt. „Im Endeffekt sind Geschichten alles“, schreibt Selbin, „und alles ist, in der einen oder anderen Form, eine Geschichte“ (S. 12).

Geschichten würden eine „unverzichtbare, soziale Aufgabe“ (S. 34) erfüllen, indem sie „die immense Komplexität der Welt“ (S. 41) verringern und die Menschen in einer Gemeinschaft vereinen. Selbin hebt hervor, dass Geschichten die für die Wissenschaft essentielle, binäre Trennung von Fakten und Fiktionen aufheben und sie miteinander vermischen. Jede Kultur habe ihre Geschichten, ebenso jedes Zeitalter und jeder einzelne Mensch, doch gebe es auch „eine erstaunliche Menge an Gemeinsamkeiten und Übereinstimmungen“ (S. 36), denn die „Kernelemente bleiben über Zeit, Raum und Kulturen hinweg die gleichen“ (S. 39).

Selbin widerspricht Charles Tillys Analyse, in der die Nützlichkeit von Geschichten in Frage gestellt wird. Er betont mit Nachdruck, dass Geschichten durchaus die Ursache-Wirkungs-Beziehungen der sozialen Prozesse widerspiegeln können – was Tilly bestreitet, da letztere „in sich bereits wie eine Erzählung strukturiert sind“ (S. 51). Zwar sei die Erzählung das Herzstück der Geschichte, jedoch keinesfalls mit ihr identisch: „Eine Geschichte kann mehr sein als die in ihr enthaltene Erzählung“ (S. 54), argumentiert Selbin. Geschichten sind seiner Ansicht nach das ausufernde und tiefreichende Durcheinander der Dinge, die Menschen erzählen. Durch das Konstruieren von Erzählungen entstehen jedoch Zusammenhänge, Kohärenz löst Wirrwarr ab – es wird konkretisiert und verdichtet.

Selbin schreibt, dass Geschichten aus den verschiedensten Teilen älterer Geschichten zusammengesetzt werden. Solch eine bricolage sei ein ziel- und zweckgerichteter Vorgang: „Die Entstehung einer Geschichte ist […] kein wahlloser Prozess, der auf Glück oder Zufall beruht.“ (S. 65) Sondern die bricoleure würden auf Mythen und Erinnerungen als Bestandteile der Alltagskultur zurückgreifen, um den Kontext herzustellen, während die Mimesis als Katalysator zur Erzeugung von Identifikation wirke. Selbin interessiert sich primär für den Nutzen des Mythos, der seiner Ansicht nach vor allem „in der Bewahrung der Beobachtungen und Reflektionen“ (S. 70) und im Transport von Informationen besteht. Selbin argumentiert, dass im kollektiven Gedächtnis mehr enthalten ist als das, was im offiziellen Gedächtnis anerkannt und gepflegt wird, und er fügt hinzu, dass kollektive Erinnerungen stets umkämpft sind. Auch die Mimesis wird von ihm als ein kollektives Konzept verstanden. Er betrachtet sie jedoch nicht als eine unbewusste Imitation oder als eine gewissermaßen konservative Konsolidierung, sondern als „[d]ie bewusste und beabsichtigte Aneignung und Adaption der Handlungen einer Menschengruppe durch eine andere“, womit die Mimesis einen entscheidenden „Faktor für das Potential soziopolitischen Wandels“ (S. 88) darstellt. Diejenigen, die eine Umwälzung der Gesellschaft anstreben oder gar die Welt verändern möchten, richten ihre Geschichten nicht an passive Adressaten, sondern an ein aktiv involviertes Publikum. Selbin betont, dass es sich hierbei um ein dialektisches Verhältnis handelt: „Die Kommunikation muss in beide Richtungen erfolgen und Geschichten sind der Schlüssel dazu“ (S. 108).

Die vielfältigen, verschiedenen Revolutionsgeschichten lassen sich laut Selbin in vier Arten einteilen. Die erste ist die elitäre Geschichte von den demokratisierenden und zivilisierenden Revolutionen. Eines ihrer wesentlichsten Merkmale ist der Bezug auf das antike Erbe Griechenlands und Roms sowie auf die jüdisch-christliche Tradition – kurzum, die Konstruktion einer ‚westlichen Zivilisation‘. Es sind Revolutionen, die mit dem Adjektiv ‚liberal‘ versehen werden könnten. Die zweite Art von Revolutionsgeschichte ist die Geschichte von der Sozialrevolution. Für Selbin ist sie diejenige Revolutionsgeschichte, die diesen Begriff am nachhaltigsten geprägt hat. Was diese Geschichte vor allem auszeichnet, ist die in ihr enthaltene „geradezu greifbare Anwesenheit des Möglichen; der Chance, eine neue Welt zu erschaffen“ (S. 159). Die rein politischen und ökonomischen Umstrukturierungen, die für die zivilisierende und demokratisierende Revolutionsgeschichte von eminenter Bedeutung sind, haben in der Geschichte von der Sozialrevolution einen geringen Stellenwert. Zwar spielt darin der Bezug auf die Vergangenheit ebenfalls eine Rolle, doch liegt der narrative Schwerpunkt vor allem auf dem noch nie Dagewesenen, das Augenmerk ist auf die Zukunft gerichtet. Die dritte Art ist die Geschichte von Freiheit und Befreiung, deren Zusammenspiel durchaus kompliziert und verwirrend sein kann und woraus eine eher lose gestrickte Erzählung resultiert. Solche Geschichten erzählen vor allem von den Kämpfen gegen die Sklaverei, vom anti-imperialistischen und antikolonialen Widerstand und von den nationalen Befreiungskriegen. Die letzte Geschichtsart bezieht sich auf verlorene und vergessene Revolutionen und beinhaltet beispielsweise „kleinere Erzählungen, die nicht von größeren Prozessen eingerahmt sind“ (S. 207) oder „kurze Eindrücke von alltäglichem Widerstand“ (S. 234).

Selbin schreibt, Geschichten seien „beständig, geduldig und überraschend langlebig“ (ebd.) – sowie in manchen Fällen überaus wirkmächtig, könnte man hinzufügen. Eben diese Wirkmächtigkeit hat beispielsweise Stuart J. Kaufman in seinem Buch „Modern Hatreds“ herausgearbeitet.3 Selbins Ansatz hat mich sofort nach dem Beginn der Lektüre an Kaufmans überzeugenden Versuch erinnert, die Entstehung ethnischer Kriege durch die Wirkung von Mythen und Erzählungen zu erklären. Die Wirkmächtigkeit von Geschichten möchte ich also keineswegs hinterfragen, wohl aber Selbins Vernachlässigung des Unterschieds zwischen ‚erdichtet bzw. erfunden‘ und ‚wahr‘ (S. 42-44, 81 f.). Er betont, von Bedeutung sei „allein das, was von einem bestimmten Zeitpunkt an zur Wahrheit erklärt wird, wie zweifelhaft diese auch sein mag“ (S. 44). Aber werden nicht vor allem falsche Erzähler, wie Binjamin Wilkomirski4 im Falle des Holocaust, dadurch ermutigt? Warum ignoriert Selbin das False Memory-Syndrom5, obwohl Erinnerung ein so wichtiger Faktor bei seinem Ansatz ist? Weshalb vernachlässigt er das Problem der Ideologie? Der Begriff ‚Ideologie‘ taucht im Text ganze drei Mal (S. 72 f., 77) und im Register überhaupt nicht auf. Für Selbin kann Ideologie anscheinend gar nicht existieren, weil – wie er behauptet – letztlich alles, „in der einen oder anderen Form, eine Geschichte“ (S. 12) ist.

Zum Schluss möchte ich die Übersetzung des Buches kritisieren. Zum einen wurde die Bibliographie unverändert aus dem Original übernommen, was dazu geführt hat, dass deutschsprachige Autoren wie Jacob Burckhardt oder Karl Marx nach den englischsprachigen Ausgaben ihrer Werke zitiert werden. Zum anderen werden die Zitate dieser Klassiker – was aus meiner Sicht völlig absurd ist – meistens auf Englisch wiedergegeben, zwischendurch jedoch auch mal auf Deutsch, ohne dass dabei irgendeine konsequente Vorgehensweise erkennbar wäre. Es mindert zwar nicht den Lesefluss, wirkt jedoch sehr befremdlich auf den Leser.

Anmerkungen:
1 Vgl. Jéronimo Louis Samuel Barbin, Die unbemerkte Revolution, in: Süddeutsche Zeitung, 15.07.2011, S. 11.
2 Vgl. Christopher Hitchens, The shame factor. When will dictators learn not to treat their people like fools? In: Slate Magazine, <http://www.slate.com/id/2283168/> (16.08.2011).
3 Stuart J. Kaufman, Modern hatreds: the symbolic politics of ethnic wars, Ithaca (NY), 2001.
4 Binjamin Wilkomirski, Bruchstücke. Aus einer Kindheit 1939-1948, Frankfurt am Main 1995.
5 Siehe die Beiträge in Irene Diekmann / Julius H. Schoeps (Hrsg.), Das Wilkomirski-Syndrom. Eingebildete Erinnerungen oder Von der Sehnsucht, Opfer zu sein, Zürich 2002.

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