Cover
Titel
Symphonie-Kulturtransfer. Untersuchungen zum Studienaufenthalt polnischer Komponisten in Deutschland und zu ihrer Auseinandersetzung mit der symphonischen Tradition 1867-1918


Autor(en)
Keym, Stefan
Reihe
Studien und Materialien zur Musikwissenschaft 56
Anzahl Seiten
672 S.
Preis
€ 54,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Peter Oliver Loew, Deutsches Polen-Institut Darmstadt

Nachdem die musikhistorische Forschung in der großen Familie der historischen Wissenschaften lange ein weitgehend isoliertes Nischendasein geführt hatte und auch die klassische Geschichtswissenschaft sich nur mit großer Vorsicht musikalischer Prozesse annahm, scheint sich hier in den letzten Jahren eine Änderung anzubahnen. Bestes Beispiel hierfür ist die historische Ostmitteleuropaforschung: Auf eine Reihe primär historiographischer Arbeiten, etwa zum Musiktheater, zum Phänomen der nationalen Musikkulturen oder zur Ost-West-Transfergeschichte des Jazz1, liegt nun erstmals eine umfangreiche musikwissenschaftliche Arbeit vor, die ein zentrales Forschungsparadigma der historischen Kulturwissenschaften aufgreift – den Kulturtransfer.

Stefan Keym beschäftigt sich mit den Studienaufenthalten polnischer Komponisten in Deutschland und den sich daraus ergebenden Auswirkungen auf ihr symphonisches Werk im halben Jahrhundert vor dem Ersten Weltkrieg. Das ist in mehrfacher Hinsicht ein ungewöhnliches Thema: Die Symphonik stand im Polen der Teilungszeit, auch aufgrund des Fehlens geeigneter Orchester und Aufführungsmöglichkeiten (erst 1901 entstand ein beständiges Symphonieorchester), im Schatten von Bühnenwerken, Vokal- und Kammermusik; die trotzdem entstehenden symphonischen Werke galten im Ausland meist als konservativ-akademisch und sind bis in die Gegenwart weitgehend unbekannt geblieben. Als nach der Wiedererlangung der polnischen Unabhängigkeit 1918 die Tradition akademischer (Fort-)Bildung an deutschen Hochschulen abbrach und eine antigermanische Grundstimmung das Kulturleben erfasste, galt es in Polen geradezu als unschicklich, auf die offensichtlichen deutsch-polnischen Bezüge hinzuweisen, geschweige denn sie zu erforschen. Dadurch geriet in Vergessenheit, dass – wie ein polnischer Musikkritiker 1907 schrieb – „von allen Künsten […] die Musik im polnischen Leben am stärksten, oder jedenfalls am deutlichsten unter deutschem Einfluss“ steht (S. 3).

Wer sich nun von Keyms Studie eine Weiterentwicklung theoretischer Überlegungen zum Kulturtransfer verspricht, wird enttäuscht; die methodischen Erörterungen beschränken sich auf wenige Absätze. Die Enttäuschung weicht jedoch bald großer Bewunderung, denn im Gegenzug erhält der Leser in Überfülle empirisches Material zum Hintergrund und zu den Wirkungen konkreter Transferprozesse. Dabei konzentriert sich der Autor – ausgehend von einer umfangreichen, auf breiter Quellenbasis vorgenommenen Untersuchung der deutsch-polnischen Musikbeziehungen – auf einige führende polnische Komponisten. Der aus Warschau stammende Zygmunt Noskowski (1846-1909) etwa verbrachte zweieinhalb Jahre in Berlin, um hier die akademischen deutschen Kompositionstugenden zu erlernen. Anschließend wurde er für mehrere Jahre Chorleiter im provinziellen Konstanz, wo er, aus einem musikalisch vermeintlich viel tieferstehenden Land stammend, „gleichsam künstlerische Entwicklungshilfe“ (S. 105) leistete. Nach seiner Rückkehr nach Warschau engagierte er sich sehr für „den Transfer des deutschen Musikbegriffs nach Polen“ (S. 117), also für das Konzept der „ernsten“, „absoluten“ Musik, etwa indem er sich immer wieder für Orchestergründungen einsetzte.

Auch Ignacy Jan Paderewski (1860-1941) ging nach Berlin, um sich als Komponist weiterzubilden, was später, als er zu einem der wichtigsten parapolitischen Akteure für eine Wiederherstellung Polens geworden war, zu paradoxen Ergebnissen führte – zu einem mit Verve und sozusagen „deutschen Waffen“ vorgetragenen Kampf um die nationale Unabhängigkeit. Seine in der Tradition der deutschen Symphonie stehende, diese Tradition aber bewusst auch verlassende dreisätzige Symphonie „Polonia“ zeigt das ganz deutlich. Mieczysław Karłowicz (1876-1909) studierte ebenfalls mehrere Jahre in Berlin, wo er die Ideen der deutschen Romantik und der „neudeutschen Schule“ übernahm, um später zum Pionier der symphonischen Dichtung in Polen zu werden. Größeren Aufführungserfolg in Deutschland hatte jedoch Ludomir Różycki (1883-1953) , ironischerweise jedoch nicht mit seinen (häufig auf polnisch-nationale Themen komponierten) symphonischen Dichtungen, sondern mit seiner Oper „Eros und Psyche“, die 1917 in Breslau in deutscher Sprache sehr erfolgreich uraufgeführt wurde. Mit dem Kriegsende brachen allerdings auch seine Kontakte in die deutsche Musikwelt weitgehend ab. Karol Szymanowski (1882-1937) – Polens wichtigster Komponist der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts – hatte ebenfalls enge Beziehungen zur deutschen Musikwelt, nicht nur durch den deutschen Musiklehrer seiner Jugendjahre tief in der Ukraine, sondern auch durch seine zahlreichen Aufenthalte in Deutschland und Österreich, die ihn zu einer intensiven Auseinandersetzung mit der deutschen Symphonietradition führten, von der er sich schließlich abwendete.

Nach einem Zwischenteil, in dem es um Publikation und Aufführung polnischer Symphonik in Deutschland geht, widmet sich Keym in seinem zweiten Hauptteil in einer musikwissenschaftlichen Analyse der polnischen Symphonik und ihrem Verhältnis zur deutschen Tradition. Er möchte hier herausarbeiten, „wie die einzelnen Komponisten mit dem patriotischen Erwartungshorizont umgingen, inwieweit sie zu originellen Lösungen fanden und ob sich dabei komponistenübergreifende Konstanten herausbildeten, die als Ansätze einer ‚nationalen Tradition‘ der polnischen Symphonik betrachtet werden können“ (S. 315). Dabei untersucht Keym zunächst die auffällig zahlreichen, dem Motto „per aspera ad astra“ folgenden polnischen „Befreiungssymphonien“, die bezeichnenderweise meist in Moll stehen, aber in Dur enden. Hier kombinierten die Komponisten ihr „deutsches“ Handwerkszeug – etwa die Kontrapunktik – mit einer deutscher Symphonietradition widersprechenden außermusikalischen Programmatik, was Keym am Beispiel Noskowskis als kompositorischen Beitrag zur „organischen Arbeit“ interpretiert (S. 347). Zahlreiche weitere, teils analytisch weit ausgeführte Beispiele – symphonische „Landschaftsgemälde“ oder das Werk des jungen Szymanowski – führen Keym schließlich zu dem Befund, dass die Transferprozesse auf dem Gebiet der Symphonie zwar eklatant und deshalb leicht zu bewerkstelligen seien, „da im Vergleich zur Literatur keine spezifische ‚Übersetzung‘ geleistet werden muss“ (S. 507), der Rück-Transfer in den deutschen Kulturraum jedoch Rezeptionsprobleme aufwarf, weil die Werke – mit Ausnahme von Szymanowski – wenig innovativ wirkten und ihre nationalen Botschaften entweder missverstanden oder gar nicht verstanden wurden. Darin, so Keym, zeige sich erneut, „dass das ‚Nationale in der Musik‘ – und speziell in der Instrumentalmusik – weniger von musikimmanenten, kompositorischen Strukturmerkmalen abhängig ist als vielmehr von dem Kontext, in dem sie präsentiert werden“ (S. 507).

Keyms eindrucksvolle, auf ungewöhnlich breiter und ungewöhnlich unbekannter Materialbasis geschriebene Studie bereichert sowohl die Forschung zum Kulturtransfer um ganz neue Aspekte wie auch die Musik- und Kulturgeschichtsschreibung – die polnische um einen neuen Blick und die Heranziehung zahlreicher bislang nicht ausgewerteter Quellen, und die außerpolnische um einen bislang sträflich vernachlässigten Teil der europäischen Musikkultur.

Anmerkung:
1 Philipp Ther, In der Mitte der Gesellschaft: Operntheater in Zentraleuropa 1815 - 1914, Wien 2006; Rüdiger Ritter, Musik für die Nation: der Komponist Stanisław Moniuszko (1819 - 1872) in der polnischen Nationalbewegung des 19. Jahrhunderts, Frankfurt am Main 2005; Gertrud Pickhan / Rüdiger Ritter (Hrsg.), Jazz Behind the Iron Curtain, Frankfurt am Main 2010.

Redaktion
Veröffentlicht am
Redaktionell betreut durch
Klassifikation
Region(en)
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit
Weitere Informationen
Sprache der Publikation
Sprache der Rezension