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Titel
Steinbruch Psychoanalyse?. Zur Rezeption der Psychoanalyse in der akademischen Pädagogik des deutschen Sprachraums zwischen 1900–1945


Autor(en)
Wininger, Michael
Reihe
Schriftenreihe der DGfE-Kommission Psychoanalytische Pädagogik 3
Erschienen
Anzahl Seiten
289 S.
Preis
€ 29,90
Rezensiert für die Historische Bildungsforschung Online bei H-Soz-Kult von:
Patrick Bühler, Institut für Erziehungswissenschaft, Universität Bern Email:

Dass die Psychoanalyse schon erstaunlich früh „in vielfacher Verkleidung ihren Eingang“1 in die Pädagogik findet, lässt sich zum Beispiel leicht mit Hilfe pädagogischer Lexika belegen. So weist bereits 1911 das ‚Enzyklopädische Handbuch der Heilpädagogik‘ – die erste psychoanalytische Zeitschrift erscheint 1909 – das Lemma ‚Psychoanalyse‘ auf.2 Nicht einmal zehn Jahre später scheint sich die Bedeutung der Psychoanalyse nicht nur für die Heilpädagogik, sondern für die Pädagogik tout court erwiesen zu haben: 1917 wird der Eintrag ‚Psychoanalyse‘ im ‚Lexikon der Pädagogik‘ aufgenommen.3 In den 1920er- und 1930er-Jahren weisen dann fast alle pädagogischen Nachschlagewerke Einträge zu ‚Psychoanalyse‘ oder zu ‚Sigmund Freud‘ auf. Mit pädagogischen Handbüchern lässt sich also Stefan Zweigs Aperçu von 1931 stützen, dass „Freudische Gedanken – vor zwanzig Jahren noch Blasphemie und Ketzerei –“ inzwischen „völlig flüssig im Blut der Zeit und der Sprache“ zirkulierten.4 Während die Psychoanalyse-Rezeption in anderen Disziplinen und ‚Medien‘ wie etwa der Philosophie, der Psychiatrie, der Psychologie oder der österreichischen, auch medizinischen Presse schon längere Zeit erforscht wird, ist der Psychoanalyse-Rezeption der Pädagogik bislang nur wenig Beachtung geschenkt worden.5 Es ist das große Verdienst Michael Winingers ihr nun eine detaillierte Studie gewidmet zu haben, die auch durch ihre ‚Experimentalanordnung‘ besticht. Zum einen hat sich Wininger für eine umfassende Analyse deutscher pädagogischer Nachschlagwerke zwischen 1903 und 1941 entschieden und damit für eine ‚Gattung‘, die einen sehr guten Indikator pädagogischen Allgemeinwissens abgibt; zum anderen wendet er – seinem Gegenstand durchaus angemessen – eine „Reihe von Detektivkünsten“6 auf sein Korpus an. Wininger spürt Indizien der pädagogischen Psychoanalyse-Rezeption nämlich nicht nur an so offensichtlichen Orten wie den Einträgen zu ‚Sigmund Freud‘ oder ‚Psychoanalyse‘ auf, sondern geht ihnen auch an entlegenen Stellen wie zum Beispiel unter den Stichwörtern zu ‚Biologie und Psychologie‘, ‚Gefühl‘ oder ‚Verwahrlosung‘ nach.

Winingers Korpus besteht aus verschiedenen Auflagen von sechs einflussreichen pädagogischen Nachschlagewerken: Aus dem zehnbändigen ‚Enzyklopädischen Handbuch der Pädagogik‘, das von Wilhelm Rein herausgegeben wurde, dem von Josef Loos herausgegebenen ‚Enzyklopädischen Handbuch der Erziehungskunde‘ in zwei Bänden, dem von Ernst Max Roloff edierten, fünfbändigen ‚Lexikon der Pädagogik‘, aus Hermann Schwartz’ vierbändigem ‚Lexikon der Pädagogik‘, dem von Josef Spieler herausgegebenen ‚Lexikon der Pädagogik der Gegenwart‘ in zwei Bänden sowie aus Wilhelm Hehlmanns ‚Pädagogischem Wörterbuch‘. Um die beachtliche Textmenge etwas zu reduzieren, sucht Wininger in einem ersten Schritt nach ‚explizit‘ psychoanalytischen Einträgen (wie ‚Sigmund Freud‘, ‚Unbewusstes‘). In einem zweiten schließt er ‚unwahrscheinlichere‘ Lemmata (wie ‚Australien‘, ‚Bau des Schulhauses‘, ‚Eislauf‘ oder ‚Dienstwohnung‘) aus und nimmt dann alle verbleibenden in seine Untersuchung auf. Die so erhaltenen Einträge der Nachschlagewerke werden dann daraufhin untersucht, ob und wie sie auf Psychoanalyse verweisen: Behandelt der Eintrag einen Psychoanalytiker oder ein psychoanalytisches Konzept, wird auf Psychoanalyse innerhalb eines nicht-explizit psychoanalytischen Stichworts verwiesen oder nur psychoanalytische Sekundärliteratur angegeben? Der Umfang der Verweise, die Rezeptionshaltung (ablehnend, kritisch-distanziert, referierend, kritisch-zugewandt oder emphatisch) sowie die Einschätzung der pädagogischen Bedeutung der Psychoanalyse (irrelevant, kein Hinweis oder ‚pädagogisch wertvoll‘) werden dabei ebenfalls ausgewertet.

Dank dieses ausgeklügelten Instrumentariums kann Wininger belegen, dass ein „deutlicher Anstieg der Belegzahlen“ erst in den 1920er- und frühen 1930er-Jahren zu beobachten ist (S. 232). Dabei nehmen die meisten Belege der Psychoanalyse gegenüber eine neutrale, referiend-darstellende Haltung ein (S. 243). Relativ wenig Einträge gehen ‚direkt‘ auf die Psychoanalyse ein (S. 241), am häufigsten wird auf Psychoanalyse im Zusammenhang mit anderen Inhalten verwiesen. Psychoanalyse wird also mit Vielem in Verbindung gebracht, das auf den ersten Blick nicht als speziell psychoanalytischer Gegenstand gelten kann (S. 240). Die Auswertung der Lemmata lässt es auch zu, die Rezeption thematisch genauer zu bestimmen. Bis 1920 kommt Psychoanalyse nur in Zusammenhang mit „sexualitäts- bzw. geschlechtbezogenen Belangen“ vor, danach lassen sich dann drei „thematische ‚Cluster‘“ beschreiben: Auf Psychoanalyse wird bei Psychopathologie/Persönlichkeitstheorie, pädagogische Anthropologie und bei der „Beurteilung von pädagogisch relevanten Phänomenen“ verwiesen wie zum Beispiel körperliche Bestrafung (S. 246). Der Psychoanalyse wird dabei meistens keine pädagogische Bedeutung zugemessen, die positive Beurteilung ihres pädagogischen Werts kommt aber öfter vor als die negative (S. 250). Wininger kann zudem zeigen, dass in den Nachschlagewerken die Psychoanalyse häufig „auffallend verkürzt bzw. um ideologisch anstößige Aspekte bereinigt“ dargestellt wird (S. 255).

Winingers Studie überzeugt durch ihre Anlage und stellt eine ebenso gelungene wie aufschlussreiche ‚Stichprobe‘ der akademischen pädagogischen Psychoanalyse-Rezeption dar. Einzig kleinere Schludereien könnten einem kurz die Laune vergällen, so wenn zum Beispiel gewisse Untertitel nicht im Inhaltsverzeichnis stehen, im Fließtext zitierte Sekundärliteratur im Literaturverzeichnis nicht auftaucht oder wenn statt der Universität Basel und Bern zwei Mal der Universität Bern ein Abschnitt gewidmet wird. Die Untersuchung ist auch deshalb für die Erziehungswissenschaft von Belang, weil sie eine Grundlage bietet, auf der man die Entwicklung der pädagogischen Psychoanalyse-Rezeption mit ihrer Rezeption in anderen Fachrichtungen und Ländern vergleichen kann. So scheint Psychoanalyse zu Beginn des 20. Jahrhunderts insgesamt meist stärker und positiver rezipiert worden zu sein, als Sigmund Freud selbst und in seiner Folge die psychoanalytische Historiographie lange Zeit glauben machen wollten. Allerdings scheint die Rezeption zu Beginn des 20. Jahrhunderts grosso modo wohl eher eklektisch verlaufen zu sein. Ihren internationalen Siegeszug hat die Psychoanalyse in den 1920er-Jahren in vielen Ländern und Fachrichtungen sowie im Feuilleton, der Literatur und im Kino angetreten.7 Einer der Gründe für diesen Durchbruch ist vermutlich, dass man durch den Ersten Weltkrieg förmlich in die Psychoanalyse ‚gebombt‘ wurde. Das nimmt zumindest auch 1932 schon der Eintrag ‚Psychotherapie und Pädagogik‘ im ‚Lexikon der Pädagogik der Gegenwart‘ an: Die „Anregungen“ Freuds „wurden praktisch bedeutsam durch den großen Bereich psychotherapeutischer Betätigung im Weltkrieg“ (S. 198).

Anmerkungen:
1 Anna Freud, Einführung, in: Die Schriften der Anna Freud, 1. Band, Frankfurt am Main 1987, S. 3–8, hier S. 3.
2 Anonym, Eintrag „Psychoanalyse“, in: A. Dannemann / H. Schober / E. Schulze (Hrsg.), Enzyklopädisches Handbuch der Heilpädagogik, Halle 1911, Sp. 1249.
3 Johannes Lindworsky, Eintrag „Psychoanalyse“, in: Ernst M. Roloff (Hrsg.), Lexikon der Pädagogik, 5. Band, Freiburg im Breisgau 1917, Sp. 1161–1166.
4 Stefan Zweig, Die Heilung durch den Geist. Mesmer – Mary Baker-Eddy – Freud, Leipzig 1931, S. 321.
5 Vgl. z.B. Tilman J. Elliger, S. Freud und die akademische Psychologie. Ein Beitrag zur Rezeptionsgeschichte der Psychoanalyse in der deutschen Psychologie (1895–1945), Weinheim, Basel 1986; Renate Helena Kimmig, Zur Rezeption der Psychoanalyse in der deutschen Psychiatrie 1918–1928, Diss. masch. Tübingen, 1993; Carl Eduard Scheidt, Die Rezeption der Psychoanalyse in der deutschsprachigen Philosophie vor 1940, Frankfurt am Main 1986; Marina Tichy / Sylvia Zwettler-Otte, Freud in der Presse. Rezeption Sigmund Freuds und der Psychoanalyse in Österreich 1895–1938, Wien 1999.
6 Sigmund Freud, Tatbestandsdiagnostik und Psychoanalyse, in: Gesammelte Werke, 7. Band, 3. Aufl., Frankfurt am Main 1955, S. 3–15, hier S. 9.
7 Vgl. z.B. Alain de Mijolla, Freud et la France 1885–1945, Paris 2010; Martin A. Miller, Freud and the Bolsheviks. Psychoanalysis in Imperial Russia and the Soviet Union, New Haven, London 1998; Graham Richards, Britain on the Couch. The Popularization of Psychoanalysis in Britain 1918–1940, in: Science in Context 13 (2000), S. 183–230.

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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit der Historischen Bildungsforschung Online. (Redaktionelle Betreuung: Philipp Eigenmann, Michael Geiss und Elija Horn). https://bildungsgeschichte.de/
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