G. Thiemeyer: Europäische Integration

Cover
Titel
Europäische Integration. Motive - Prozesse - Strukturen


Autor(en)
Thiemeyer, Guido
Reihe
UTB 3297
Erschienen
Köln 2010: Böhlau Verlag
Anzahl Seiten
237 S.
Preis
€ 16,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Wilfried Loth, Historisches Institut, Universität Duisburg-Essen

In dieser Überblicksdarstellung will Guido Thiemeyer die Forschungen zur Geschichte der europäischen Integration umfassend vorstellen. Er greift dazu das Interpretationsmodell der „vier Antriebskräfte“ europäischer Integration auf, das ich vor einigen Jahren entwickelt habe 1, und baut es weiter aus. Europäische Integration ist danach zurückzuführen auf das Streben nach Friedenssicherung unter den Nationalstaaten des europäischen Kontinents, nach Einbindung der potentiellen Hegemonialmacht Deutschland, nach Überwindung nationalstaatlicher Wirtschaftsgrenzen, die die Entwicklung der Produktivität hemmten, und nach Selbstbehauptung der Europäer gegenüber den neuen Weltmächten. Diese vier Motivationskomplexe waren nicht immer gleich stark und sie wirkten auch nicht notwendigerweise immer in die gleiche Richtung; der europäische Integrationsprozess folgt daher auch keiner einheitlichen Entwicklungslogik. Sie wirkten aber immer zusammen, und das über viele Jahrzehnte hinweg – mit dem Ergebnis, dass europäische Integration zu einem irreversiblen Prozess geworden ist.

Thiemeyer gliedert die Motive und Antriebskräfte europäischer Integration in einen politischen, einen wirtschaftlichen und einen kulturellen Bereich. Im politischen Bereich führt er zusätzlich zum Friedensmotiv, zur Lösung der „deutschen Frage“ und zum Motiv der Selbstbehauptung in der Weltpolitik das Motiv der nationalen Selbstbehauptung ein. Gemeint ist damit die „Erlangung“ bzw. die „Erhaltung der nationalen Selbständigkeit durch Selbsteinbindung in der EWG“ (S. 138). Im wirtschaftlichen Bereich wird zwischen der Verflechtung von Märkten und wirtschaftspolitischer Integration unterschieden; diese gliedert sich in negative Integration durch die Beseitigung von Handelsbarrieren und positive Integration im Sinne der Vergemeinschaftung von Politikbereichen. Im Zusammenhang mit den Gemeinschaftspolitiken wird auch Alan Milwards These von der „Rettung des Nationalstaats“ durch Verlagerung wirtschafts- und sozialpolitischer Instrumente auf die europäische Ebene angesprochen. Weiter werden Motive und Antriebskräfte zivilgesellschaftlicher Integration als ein eigenständiger Motivationskomplex behandelt. Schließlich werden kulturelle Motive als „Legitimationsquellen“ (S. 216) für europäische Integrationsmaßnahmen vorgeführt, die in einer „europäischen Öffentlichkeit“ aufeinander abgestimmt werden.

Diese Differenzierung des Antriebskräfte-Modells ermöglicht es Thiemeyer, die aktuelle Forschung zur Integrationsgeschichte tatsächlich in umfassender Weise zu präsentieren. Unterschiedliche Forschungsansätze aus der Diplomatiegeschichte, der Wirtschafts-, Gesellschafts- und Kulturgeschichte, die sich isoliert voneinander entwickelt haben, werden nebeneinander gestellt und miteinander verbunden. Dabei werden auch kontroverse Thesen im Zusammenhang mit der jeweiligen Kritik referiert. Das gibt der Darstellung insgesamt einen etwas uneinheitlichen Charakter. Der Leser wird aber immer hervorragend über den jeweiligen Diskussionsstand informiert. Selbst Spezialisten werden an der einen oder anderen Stelle Beiträge finden, die ihnen bislang entgangen waren.

Der Blick geht immer über die real existierende EG/EU hinaus, sowohl in institutioneller als auch in zeitlicher Hinsicht. Thiemeyer plädiert dafür, die europäische Integrationsgeschichte mit der industriellen Revolution und der Entstehung der modernen Nationalstaaten beginnen zu lassen. Er verweist dazu auf die vielen internationalen Organisationen, die im Europa des 19. Jahrhunderts geschaffen wurden. Insgesamt spricht er von einer „ersten Boomphase der Integration vor dem Ersten Weltkrieg“ (S. 33), die von einer Phase partieller Desintegration 1914-1945 abgelöst wurde; diese habe gleichwohl als „Katalysator des Einigungsprozesses“ (S. 39) gewirkt. Die EU-Integration erscheint damit als ein Langzeit-Phänomen der europäischen Moderne, das trotz vielfältiger Funktionskrisen noch eine lange Zukunft vor sich hat.

Allerdings sind nicht alle Differenzierungen und Ausweitungen des Antriebskräfte-Modells in gleicher Weise analytisch weiterführend. Das Motiv der nationalstaatlichen Selbstbehauptung trifft streng genommen nur auf die Emanzipation der jungen Bundesrepublik Deutschland von der Besatzungsherrschaft zu, mit Abstrichen auch noch auf die Emanzipation Irlands von britischer Wirtschaftsvormacht. Bei den anderen Beispielen, die Thiemeyer anführt (den südeuropäischen Staaten und den osteuropäischen Staaten nach dem Umbruch von 1989), geht es um Unterstützung und Absicherung der Demokratisierung. Das ist ein Motiv, das in enger Verwandtschaft zur Rettung des Nationalstaats als wohlfahrtsstaatlicher Agentur im Sinne Milwards steht. Generell wird man formulieren können, dass wirtschaftliche Abschottung und Bevormundung der Durchsetzung demokratischer Ordnungen im Europa des 20. Jahrhunderts abträglich waren. Insofern stellt das Demokratiemotiv eine Art Querschnittsmotiv zu dem Streben nach Friedenssicherung, Lösung der „deutschen Frage“ und Wohlstandssicherung dar, das für die Lancierung des Integrationsprozesses nach dem Zweiten Weltkrieg grundlegend geworden ist.

Dies zu betonen, heißt auch die kulturellen Traditionen anders einzuordnen, als Thiemeyer dies tut. Legitimationsquellen können nicht per se als Handlungsmotive gelten. Sie werden dies erst in Verbindung mit konkreten Problemen, die einer Lösung bedürfen. Insofern gehören die Traditionen, die zum Idealbild einer demokratischen und sozialstaatlichen Ordnung geführt haben, zum generellen Motivationshintergrund der Antriebskräfte europäischer Integration.

Dass nicht jede Kategorisierung, die Thiemeyer vornimmt, zu überzeugen vermag, tut dem informativen und anregenden Charakter des Werkes freilich keinen Abbruch. Wer über die Information zu grundlegenden Fakten und Zusammenhängen der europäischen Integrationsgeschichte hinaus einen zuverlässigen Überblick über den gegenwärtigen Stand der historischen Integrationsforschung sucht, wird hier bestens bedient.

Anmerkung:
1 Erstmals in: Wilfried Loth, Der Prozess der europäischen Integration. Antriebskräfte, Entscheidungen, Perspektiven, in: Gewerkschaftliche Monatshefte 46 (1995), S. 703-714; eine Fortführung in Auseinandersetzung mit Walter Lipgens und Alan Milward: Wilfried Loth, Beiträge der Geschichtswissenschaft zur Deutung der Europäischen Integration, in: ders. / Wolfgang Wessels (Hrsg.), Theorien europäischer Integration, Opladen 2001, S. 87-106.

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