D. Weltecke: „Der Narr spricht: Es ist kein Gott“

Cover
Titel
„Der Narr spricht: Es ist kein Gott“. Atheismus, Unglauben und Glaubenszweifel vom 12. Jahrhundert bis zur Neuzeit


Autor(en)
Weltecke, Dorothea
Reihe
Campus Historische Studien 50
Erschienen
Frankfurt am Main 2010: Campus Verlag
Anzahl Seiten
578 S.
Preis
€ 49,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Sita Steckel, Mahindra Humanities Center, Harvard University

Für Neuzeithistoriker, Soziologen und Religionswissenschaftler mag die Frage nach Atheismus im christlichen Mittelalter, dem Inbegriff vormoderner Religiosität, möglicherweise randständig wirken. Sie führt jedoch mitten hinein in Debatten, in denen derzeit um eine geschichtswissenschaftlich fundierte Darstellung europäischer Religionsgeschichte gerungen wird, die überholte modernisierungstheoretische und säkularisierungstheoretische Narrative hinter sich lässt.

Dorothea Weltecke gelingt es in ihrer anregenden Studie zu Atheismus, Unglauben und Zweifel im christlichen 12. bis 15. Jahrhundert meisterhaft, aufklärerische wie romantisierende Bilder einer mittelalterlichen religiösen Einheitswelt aufzulösen. An ihre Stelle setzt sie Neues, namentlich eine Auseinandersetzung mit einigen zeitgenössischen Begriffen und Konzepten. Vor allem jedoch widmet sie sich der Aufarbeitung von Erkenntnishindernissen und der Klärung methodischer Vorüberlegungen für weitere Forschungen, was auch ausdrücklich als Ziel der Untersuchung genannt wird.

Welteckes problemorientierter Zugriff führt zu einem fast ausschließlich kritisch-dekonstruierenden Duktus, dürfte interessierten Lesern und Leserinnen verschiedener Disziplinen aber dennoch nicht zum Nachteil gereichen. Tatsächlich lassen sich die methodischen Aporien, die der Erforschung von ‚Atheismus im Mittelalter‘ anhängen, nämlich nicht einfach hinwegdefinieren: ‚Atheismus‘ selbst ist als Begriff im christlichen Mittelalter nicht belegt, sondern tritt erst in der Frühen Neuzeit auf. Wie geht man also einem Phänomen nach, das es im Mittelalter eben nur annäherungsweise gegeben haben könnte? Und wie kann man den Begriff operationalisieren, ohne dabei auf Irrwege zu geraten – nämlich in das eingleisige Fahrwasser einer genauso traditionsreichen wie triumphalistischen Tradition der Ketzer-, Freidenker- und Aufklärungsgeschichte, die stets geradezu besessen davon war, auch im Mittelalter schon Atheismus, Aufklärung, Zweifel und kritischen Geist zu konstatieren? Wie geht man schließlich damit um, dass man sich auch bei kritischer Diskussion der (teils ja sehr kenntnisreichen und verdienstvollen) Erforschung von religiösem Zweifel und ‚Aufklärung im Mittelalter‘ meist auf sehr schwankenden methodischen Boden begibt? Spätestens in Aufnahme von Leo Strauss nahmen moderne Studien ja stets gern an, dass Verfolgungssituationen vormoderne Zweifler dazu zwangen, ihren Unglauben geheimzuhalten oder unter einer frommen Oberfläche zu verstecken. Sie stellten sich daher gern weitreichende interpretatorische und definitorische Vollmachten aus.

Um derartige Problematiken systematisch in den Griff zu bekommen, tut Welteckes Studie das einzig Folgerichtige: Sie historisiert nicht nur den Begriff des Atheismus, den sie eng als Leugnung der Existenz Gottes fasst, sowie die verwandten Kategorien des Unglaubens und Glaubenszweifels für das Mittelalter. Sie dekonstruiert zunächst und sehr wirkungsvoll auch die neuzeitlichen ‚heroischen‘ Narrative darüber. Das Buch beginnt mit einem äußerst lesenswerten Überblick (S. 23–99) über verschieden intendierte, aber stets ähnlich strukturierte neuzeitliche Narrative. Der Durchgang durch die Debatten der Frühen Neuzeit zeigt die Wurzeln eines ursprünglich noch sehr breiten Diskurses der (negativen) ‚Gottlosigkeit‘ bzw. der (positiven) ‚Aufklärung‘. Dessen Erbe übernahm die zunehmend „heroische“ theologische, philosophische oder politische „Polemik“ (S. 97f.) des 19. und 20. Jahrhunderts, auf der bis heute auch wissenschaftliche Arbeiten aufbauen. Der kurze, eher überblickshafte Abriss würdigt vorliegende Arbeiten und zeigt dennoch ihr Hauptproblem: Sie bleiben aufgrund mangelnder Aufarbeitung in Meistererzählungen der Neuzeit verstrickt, vor allem der bis heute kraftvollen Modernisierungs- und Säkularisierungstheorie, die derzeit auch aus anderer Perspektive historisiert wird (S. 96–99).1 Sie kranken daher an klaren Teleologien und entsprechenden methodischen Unsauberkeiten wie anachronistischen Rückprojektionen, unterkomplexen Begriffsbildungen und willkürlichen Zuschreibungen.

Ein zweiter Teil (S. 101–256) schließt dem eine Dekonstruktion der „Ahnengalerie der Atheismus- und Aufklärungsgeschichte“ an. Weltecke verknüpft exemplarische Untersuchungen weniger ‚üblicher Verdächtiger‘ wie des Grafen Jean von Soissons, Friedrichs II. oder der Barbara von Cilli sowie gelehrter Zweifler mit quellenkritischen und thematischen Überlegungen. Indem die Annahme, es könne sich bei den behandelten Personen um ‚Atheisten‘ gehandelt haben, jeweils als unbeweisbar oder als Missverständnis erwiesen wird, treten andere Kontexte zu Tage: Der Vorwurf der Gottlosigkeit erweist sich etwa als Teil eines herrschaftskritischen Diskurses. Das Motiv von Moses, Jesus und Mohammed als den ‚drei Betrügern‘ verfolgt Weltecke in Richtung innerislamischer Polemiken, die prompt religionskritische, aber keineswegs areligiöse Kontexte haben (S. 149f.).

Die Frage nach der späteren Rezeption der Legende der ‚drei Betrüger‘ und nach der Aussage von gelehrten Gottesbeweisen über mögliche Gottesleugnung veranlasst Weltecke schließlich zu einer ersten grundsätzlicheren Diskussion mittelalterlicher Konzepte von Glauben, Wissen und Unglauben. Diese Frage vertieft sich noch im Abschnitt über die ungelehrte Laiin Aude, die ihren schwankenden Glauben an Gott vor der Inquisition des Jacques Fournier und damit auch im Angesicht möglicher Häresieanklagen erklären musste. Wie sich zeigt, operierten sowohl Aude wie auch andere Zeugen und der vorsitzende Inquisitor mit bestimmten, keineswegs identischen Konzepten des Nicht-Glaubens. Deren genaue Konturen mussten aber erst verhandelt und mit der Grenze des Häresievorwurfs abgeglichen werden. Dass Aude ihre Aussagen schließlich mehrfach revidierte, um eine milde Behandlung zu erwirken, führt die Problematiken entsprechender Quellenzeugnisse nochmals vor Augen. Es zeigt auch eindringlich, dass Wissens- und Glaubenskonzepte in einem äußerst komplexen zeitgenössischen Diskurs ständiger Neuverhandlung und Reformulierung unterworfen waren.

Das Kapitel markiert damit einen Übergangspunkt zu einem dritten Teil (S. 257–448) und denjenigen Fragen, die man angesichts der Dekonstruktion älterer ‚heroischer‘ Narrative im Verlauf der Studie schon mit Spannung erwartet: Welche Formationen des Glaubens, Erfahrens, Wissens, Nichtwissens, Zweifelns und Infragestellens lassen sich denn im äußerst reichhaltigen Quellenbestand des Spätmittelalters finden?

Dieser Teil beginnt mit einem problematisierenden Überblick über das semantische Feld des ‚Unglaubens‘ und ‚Zweifels‘, wobei Weltecke beide, im Titel ja aufgeführte Begriffe als unscharf kritisiert und (angesichts ihrer eher engen Fragestellung folgerichtig) verwirft. Ein weiterer wichtiger Abschnitt klärt, wie und ob die Leugnung der Existenz Gottes normativ gefasst wurde. Er überprüft damit die Grundlage der ‚Diskriminationsthese‘ neuzeitlicher Forschung, also deren Tendenz, in scheinbar orthodoxen Aussagen aufgrund bestehender Verfolgungssituationen versteckte kritische Subtexte zu wittern. In der Durchsicht von Rechtsquellen und Inquisitorenhandbüchern (unter anderem unter Berücksichtigung von Blasphemie, Apostasie und vor allem Häresie) hält Weltecke fest, dass es „schlechterdings keine rechtlichen Normen gab, die explizit die reine, totale Abwesenheit eines Gottglaubens verboten hätten“ (S. 321). Auch die öfters zitierte Gleichsetzung von ‚Zweifel im Glauben‘ mit Häresie kann sie zumindest weitgehend dekonstruieren. Die angebliche Verfolgung von ‚Atheismus‘ und Zweifel erweist sich somit als „Mythos“ (S. 367), und der ‚Diskriminationsthese‘ ist einiger Boden entzogen.

Erst auf den letzten achtzig Seiten des Buches geht Weltecke dann daran, an den „Grenzen des Glaubens“ zeitgenössische Formen der Glaubensunsicherheit, Gottesleugnung und Areligiosität jenseits der älteren heroischen Erzählungen zu rekonstruieren – denn das Mittelalter kannte diese Phänomene ihrer Einschätzung nach durchaus gut. Dabei kommen Befunde zum Vorschein, die Weltecke zwar nicht ausführlich oder erschöpfend behandeln kann, aber als sinnvolle Ansatzpunkte für weitere Forschungen ausweist. Im Kapitel zur Anwendung der Lasterkategorie acedia auf Laien, also der Trägheit etwa im Gottesdienstbesuch (S. 369–378), zeigt sie, inwiefern man im Spätmittelalter unter Laien eine bis zur Gleichgültigkeit gehende Distanz zu Lehren und Praktiken der Kirche konstatieren und deren inneren Ursachen äußerst differenziert nachgehen konnte. Ähnlich interessant erweisen sich die Kategorien der inneren Anfechtungen sowie des Haderns mit Gott und der Bezweifelung seiner Allmacht und Güte, schließlich auch des offenen Leugnens der Existenz Gottes. Letzteres wird freilich gerade im gelehrten pastoralen Diskurs des Spätmittelalters nicht so sehr als Verbrechen oder undenkbare Kategorie, denn als Sünde und vor allem ‚Narretei‘ ausgewiesen. Die Rolle der gelehrten Autoren solcher Kategorisierungen erweist sich so schließlich als Gegenteil des ihnen gern zugeschriebenen, proto-modernistischen Vorkämpfertums von Skeptizismus und Unglauben.

Insgesamt löst Welteckes Studie ihre Vorhaben ein und macht zukünftigen fundierten historischen Forschungen den Weg frei, indem sie das Dickicht der älteren Atheismusforschung lichtet, Aufklärungsnarrative kritisch abklopft und mögliche Begriffsbildungen und Quellengattungen auf Ergiebigkeit für weitere Fragen untersucht. Dies gelingt ihrer überzeugenden Darstellung fast zu gut: Im Verlauf der Lektüre bewirken die spannenden Einsichten in die Nuanciertheit mittelalterlicher Wissenskonzepte teils, dass man sich wünscht, dieser produktive Teil der Untersuchung wäre gegenüber dem kritischen stärker betont worden. Es würde sich etwa aufdrängen, genauere Querverbindungen zwischen den Konzepten der Gottesleugnung und des Glaubenszweifels sowie benachbarten Diskursen herzustellen – etwa zum komplexen Feld theoretischer und praktischer Wissens- und Glaubenskonzepte in der Auseinandersetzung mit dem gelehrten Diskurs oder zu Phänomenen der religiösen Ambiguität und Indifferenz im Volkssprachlich-Laikalen. Für weitere Forschungen wäre sicher auch interessant, Welteckes Befunde mit jüngeren Forschungen abzugleichen, die das Feld der Religiosität nicht von den Konturen des ‚Atheismus‘, sondern denjenigen der ‚Religion‘ her aufrollen.2

Die Leistung der Studie wird dadurch freilich nur unterstrichen: Gerade ihre Aufarbeitung älterer Traditionen dürfte solche weiteren Forschungen beflügeln und ihnen gleichzeitig den Boden bereiten und mühevolle Sondierungen ersparen. Eine intensive Rezeption ist dem gelungenen Buch daher unbedingt zu wünschen. Seine Auseinandersetzung mit grundlegenden methodischen Fragen dürfte es nicht nur für Mediävist/innen, sondern auch für Neuzeithistoriker/innen und für Leser/innen aus anderen Disziplinen lesenswert machen.

Anmerkungen:
1 Vgl. etwa Manuel Borutta, Genealogie der Säkularisierungstheorie. Zur Historisierung einer großen Erzählung der Moderne, in: Geschichte und Gesellschaft 36.3 (2010), S. 347–376.
2 Vgl. etwa Christine Caldwell Ames, Does Inquisition Belong to Religious History?, in: The American Historical Review 110.1 (2005), S. 11–37.

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