Kurilo, Olga (Hrsg.): Seebäder an der Ostsee im 19. und 20. Jahrhundert. . München 2009 : Martin Meidenbauer, ISBN 978-3-899-75151-2 299 S. € 29,00

: Zoppot, Cranz, Rigascher Strand. Ostseebäder im 19. und 20. Jahrhundert. Berlin 2011 : be.bra Verlag, ISBN 978-3-937233-81-9 158 S. € 19,95

Rezensiert für den Rezensionsdienst "Europäische Ethnologie / Kulturanthropologie / Volkskunde" bei H-Soz-Kult von:
Cord Pagenstecher, Center für Digitale Systeme (CeDiS), Freie Universität Berlin

Die Tourismusforschung hat den Ostseeraum bisher wenig beachtet; Bodden, Nehrungen und Schären schienen kultur- und literaturwissenschaftlich, historisch und soziologisch offenbar weniger interessant als Alpengipfel, Arkadien und Palmenstrände. Für die Regionen rund um die Ostsee hat der Tourismus aber – historisch wie gegenwärtig – eine große Bedeutung. Seit Beginn des 19. Jahrhunderts entwickelten sich viele Fischerorte zu bekannten Ostseebädern, in denen Menschen verschiedener Schichten und Nationalitäten Badekarren, Strandkörbe und Seebrücken nutzten. Zwischen Familienstränden, Kaiserbädern und Künstlerkolonien entwickelten, mischten und veränderten sich unterschiedliche Urlaubspraxen. Zwei Weltkriege brachten Grenzziehungen und Systemwechsel; in der Folge kamen neue Gäste und moderne Bauwerke, aber Strandleben und Bäderarchitektur prägen den Ostseeraum noch immer.

Nach Jahrzehnten der Teilung durch den Eisernen Vorhang haben verschiedene Studien und Projekte die Ostsee als gemeinsamen historischen Raum wieder entdeckt – oder neu erfunden. Der Tourismus hat dabei aber selten die ihm zustehende Aufmerksamkeit erhalten. Umso wichtiger ist daher die von Olga Kurilo, Osteuropahistorikerin an der Viadrina-Universität in Frankfurt (Oder), initiierte Kombination von Konferenz, Ausstellung und Begleitband zu diesem Thema.

Der 2009 von Kurilo herausgegebene Sammelband versammelt 14 Beiträge zu Politik, Kultur und Alltag von Ostseebädern in Deutschland, Polen, Russland, Estland, Lettland und Litauen im 19. und 20. Jahrhundert. Er beruht auf einer Tagung in Greifswald, mit der die Academia Baltica im September 2008 die zu verschiedenen Bereichen vorliegenden, aber oftmals zu sehr im Lokalen und Deskriptiven verbleibenden Fallstudien in eine internationale Perspektive stellte.

Die vier englisch- und zehn deutschsprachigen Artikel spannen einen weiten Bogen um das Baltische Meer, wenngleich westdeutsche Fallbeispiele ebenso fehlen wie skandinavische. Die Lokalstudien reichen von Prerow, Binz und Zinnowitz im Berliner Einzugsbereich über Zoppot bei Danzig, Cranz / Zelenogradsk und andere samländische Bäder bei Königsberg, Nidden und Polangen / Palanga in Litauen sowie Jurmala bei Riga bis zu den estnischen Bädern und schließlich Sestroretsk bei St. Petersburg. Allein drei Artikel widmen sich dem lettischen Jurmala / Rigascher Strand. Die Schwerpunktsetzung auf dem östlichen Meeresufer – von Rügen bis St. Petersburg – rechtfertigt sich dadurch, dass es zu diesen ostpreußischen, baltischen und russischen Ostseebädern bislang kaum deutschsprachige Veröffentlichungen gab. Nun gibt es Ansatzpunkte für vergleichende Perspektiven, die in einzelnen Beiträgen bereits angerissen werden.

Gute Überblicke zur historischen Entwicklung der einzelnen Seebäder bieten vor allem die Beiträge von Wiebke Kolbe zu den bis 1918 deutschen Seebädern sowie von Anu Järs zu Estland. Sie dokumentieren ein relativ flächendeckendes Wachstum des „bürgerlichen Projekts“ Seebad (S. 19) mit kontinuierlich zunehmenden Gästezahlen in allen Bädern. Diese gegenüber den britischen – und westdeutschen – Orten insgesamt nachholende Entwicklung fokussierte sich stets an den Bahnlinien. Seebäder mit Eisenbahnanschluss wie Swinemünde wurden unabhängig von ihren anderen Qualitäten rasch zu den wichtigsten Zentren des beginnenden Massentourismus.

Olga Kurilo versteht den Tourismus im zaristischen Baltikum konsequent als ein Phänomen interethnischer Beziehungen und damit der Transkulturalitätsforschung. Ihre „Sicht auf die Bäder als multikulturelle Räume“ (S. 35) verengt sich allerdings – quellenbedingt und von der Autorin reflektiert – auf die deutschbaltisch-adlige Sicht sowie – weniger reflektiert – auf idealisierende Urlaubserinnerungen in der Memoirenliteratur. Klar herausgearbeitet wird aber das Gewicht der „feinen Unterschiede“, mit denen etwa die Deutschbalten den russischen Touristen Spielsucht und Sittenlosigkeit, den Reichsdeutschen Arroganz vorhielten, sich selbst dagegen als naturnah und bescheiden beschrieben. Esten und Letten kommen in dieser Multikulturalität nur als Dienstpersonal vor.

Auf Basis seines 2003 erschienenen Buchs untersucht Frank Bajohr diese Distinktionsbemühungen, die sich in der bürgerlichen Lebenswelt der deutschen Ostseeküste in einem massiven Bäder-Antisemitismus artikulierten. Nach dem Ersten Weltkrieg verschärfte sich der Antisemitismus deutlich – ein Beispiel für den eminent politischen Charakter des vermeintlich unpolitischen Badeurlaubs. Die Berliner Jüdin Toni Cassirer spürte schon 1906 die Ausgrenzung am sonnigen Strand: „Ich fühlte mich grenzenlos verlassen inmitten dieser nett aussehenden, wohlerzogenen, anscheinend harmlosen Spießbürger.“

Einen Schwerpunkt mehrerer Beiträge (Wilhelmi, Sarma, Järs) bildet die allmähliche Lockerung der Bademoden, vor allem im Hinblick auf geschlechtsspezifische Regelungen und – stets interessanter als die Regeln selbst – die Hinweise auf Verstöße dagegen. Wie in anderen Tourismusgeschichten auch, wird dies jedoch häufig zu einfach als freiheitliche Fortschrittsgeschichte erzählt, ohne dabei die mit der zunehmenden Nacktheit einhergehende, moderne Verinnerlichung von Verhaltensregeln im Sinn von Elias oder Foucault zu diskutieren.

Unter der Überschrift „Kulturelles Erbe“ versammeln sich schließlich Artikel zur Bäderarchitektur, die etwa in Zoppot (Buchholz-Todoroska) den internationalen Einflüssen folgte, in Polangen (Omilanowska) dagegen zwischen der preußisch-wilhelminischen Architektur eines Franz Schwechten und dem nationalpolnischen Zakopane-Stil schwankte.

Zwar legen viele Beiträge des Buches nahe, dass Ostseebäder zum Florieren keine idyllische Landschaft, sondern die Kombination von Sandstrand und Eisenbahnanbindung benötigen. Aber auch die – literarisch vorgeformte – Landschaftswahrnehmung spielte eine wichtige Rolle. Die von Bresgott festgestellte Übernahme eingeübter Blickmuster und Bewertungen von Binz nach Heringsdorf regt jedenfalls an zu vergleichenden, möglichst bildgestützten Studien. Doch die Visual History fehlt in diesem Band. Die teilweise schönen Fotos, etwa von Bade- und Schwimmtraditionen in Jurmala, sind sehr dunkel wieder gegeben und werden durchwegs nur illustrativ genutzt. Ein so stark visuell geprägtes Phänomen wie der Tourismus muss aber auch anhand seiner Bildquellen analysiert werden. 1

Wie wichtig – und ästhetisch attraktiv – Bildquellen sind, zeigt die von Olga Kurilo besorgte Ausstellung zu drei Fallbeispielen Zoppot, Cranz und Rigascher Strand, die unter anderem im Marburger Herder-Institut (2010) und in der Frankfurter Viadrina-Universität (2011) gezeigt wurde. Der nun erschienene schmale Begleitband zeigt die Bilder leider nur in Schwarzweiß-Reproduktionen. Er ist allerdings auch kein Ausstellungskatalog, sondern erzählt – nach einer Einleitung des Osteuropahistorikers Karl Schloegel – in anschaulicher und fundierter Weise die Tourismusgeschichten der drei Orte Zoppot, Cranz und Jurmala von ihrer Entstehung bis heute. Neben den Ähnlichkeiten zeigen sich auch die Unterschiede zwischen dem naturnahen Rigaschen Strand und dem mondänen Zoppot. Mehr als im oben besprochenen Sammelband finden sich hier auch Beiträge über die Zeit nach 1945, als etwa Zoppot zur massentouristischen „Sommerhauptstadt“ Polens wurde (S. 72). Auch Cranz / Zelenogradsk und Jurmala wurden zu Zielorten des sozialistischen Massentourismus und mit sowjetischer Architektur überbaut.

Insgesamt dominieren die Ähnlichkeiten in der historischen Entwicklung der Seebäder, bei der quantitativen Expansion ebenso wie bei touristischen Praktiken, bei der Bademode wie in der Architektur. Der Bruch durch Ersten Weltkrieg und Revolution – im Ostseeraum wohl stärker als anderswo ein zentraler Einschnitt für die Tourismusgeschichte – beendete allenthalben die international geprägte, adlig dominierte Bäderkultur. Der Tourismus wurde eine nationale, im deutschen Zinnowitz gar eine nationalsozialistische Angelegenheit – schon weit vor 1933.

Das im Titel der Bände angekündigte 20. Jahrhundert wird allerdings nur angerissen; der Schwerpunkt liegt eindeutig auf den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg. Vereinzelt werden zwar Entwicklungslinien weiter gezogen; die Epoche des Sozialismus, die die behandelte Region für über 40, teilweise für über 70 Jahre geprägt hat, wird aber vernachlässigt. Bezeichnend ist etwa die Formulierung von Inga Sarma, dass die Schwimmtradition in Jurmala nach 1945 vollständig etabliert sei und keine Änderungen mehr erfahre (S. 169) – eine Einschätzung, die sie selbst in wenigen Bemerkungen zur sowjetischen Zeit (S. 177) widerlegt. Ein Folgeband sollte gerade hier einen – möglichst auch systemvergleichenden – Schwerpunkt setzen.2

Einige Beiträge thematisieren dagegen die postsozialistischen Veränderungen der letzten zwei Jahrzehnte. Ins Auge fällt hier vor allem eine Wiederentdeckung der lokalen, häufig deutsch beeinflussten Tourismusgeschichte. Diese Nostalgie, die auch in manchen Artikeln durchscheint, verbindet Marketingaspekte, etwa beim Souvenirverkauf, mit einer denkmalpflegerischen Stärkung der lokalen Identität, die sich im ostpreußischen Cranz / Zelenogradsk auch gegen die immer stärker zuströmenden Moskauer Neureichen richtet.

Insgesamt öffnen diese Fallstudien ein hochinteressantes Forschungsfeld. So bemerkenswert die über Sprach- und Systemgrenzen reichenden Gemeinsamkeiten sind, so bleibt doch die Frage offen, ob sie die Ostsee als einen gemeinsamen Kulturraum definieren, dem Mittelmeer Fernand Braudels vergleichbar. Diese Ähnlichkeiten lassen sich ja auch interpretieren als ortsungebundene, typische Kennzeichen eines europäischen, ja weltumspannenden, entorteten Tourismus.

Um die dabei jeweils spezifische Mischung aus Lokalität und Globalisierung aus ihrer historischen Entwicklung heraus zu begreifen, bedarf es jedoch genau solcher vergleichender Fallstudien wie sie Olga Kurilos Band versammelt. Umso erfreulicher ist es, dass weitere Konferenzen, Sammelbände und Monographien die Expansion der modernen historischen Tourismusforschung in Mittel- und Osteuropa anzeigen.3

Anmerkungen:
1 Vgl. Cord Pagenstecher, Reisekataloge und Urlaubsalben. Zur Visual History des touristischen Blicks, in: Gerhard Paul (Hrsg.), Visual History. Ein Studienbuch, Göttingen 2006, S. 169 - 187.
2 Anzuknüpfen wäre an Paweł Sowiński, Wakacje w Polsce Ludowej. Polityka władz i ruch turystyczny (1945-1989) [Ferien in Volkspolen. Regierungspolitik und touristische Bewegung (1945-1989)], Warszawa 2005; Anne Gorsuch / Diane Koenker (Hrsg.), Turizm. The Russian and East European Tourist under Capitalism and Socialism, Ithaca 2006; Heike Wolter, „Ich harre aus im Land und geh, ihm fremd“. Die Geschichte des Tourismus in der DDR, Frankfurt am Main 2009.
3 In Vorbereitung sind ein Sammelband zum Tourismus in der Ostseeregion (Nordost-Archiv XX/2011, hrsg. v. Karsten Brüggemann), ein Tagungsband zum Tourismus in Österreich-Ungarn und seinen Nachfolgestaaten (Symposium „Das Fremde im Eigenen“, Prag, 10./11.6.2011) sowie Monographien über den sowjetischen Tourismus (Christian Noack) und den DDR-Tourismus (Christopher Görlich).

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Diese Rezension entstand in Kooperation mit dem Rezensionsdienst "Europäische Ethnologie/Kulturanthropologie/Volkskunde" http://www.euroethno.hu-berlin.de/forschung/publikationen/rezensionen/
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