: Gustav Pauli und die Hamburger Kunsthalle. Band 1: Reisebriefe. Berlin 2010 : Deutscher Kunstverlag, ISBN 978-3-422-07032-5 926 S. € 78,00

: Gustav Pauli und die Hamburger Kunsthalle. Band 2: Biographie und Sammlungspolitik. Berlin 2010 : Deutscher Kunstverlag, ISBN 978-3-422-07033-2 374 S. € 38,00

Rezensiert für H-Soz-Kult von
Petra Winter, Zentralarchiv der Staatlichen Museen zu Berlin

Die Erschließung neuer historischer Quellen gilt zurecht als „Fundament des Faches“, ohne das neue Erkenntnisse schwer möglich sind.1 Und so ist jede Edition von bislang schwer zugänglichen Quellen ein grundsätzlich begrüßenswertes Unterfangen, stellt sie doch der wissenschaftlichen Öffentlichkeit neues Material zur Erkenntnisgewinnung zur Verfügung. Mit der seit kurzem vorliegenden Edition der sogenannten Reisebriefe von Gustav Pauli (Direktor der Hamburger Kunsthalle von 1914 bis 1933), Briefe des Museumsdirektors an seine vorgesetzte Behörde, stellt Christian Ring der kunsthistorischen und historischen Forschung ein enorm gehaltvolles Quellenmaterial mit hohem Gebrauchswert zur Verfügung.

„Das Schreiben von Reisebriefen ist eine hanseatische Tradition“ (S. 16), die in der Forschung bislang vor allem durch die Briefe Alfred Lichtwarks, Paulis Vorgänger im Amt, bekannt geworden ist und deren Edition Gustav Pauli bereits 1923 besorgte. Der Singularität dieser Tradition war er sich wohl bewusst, wie er in der Einleitung zu Lichtwarks Briefen betonte: „Die Briefe an die Kommission für die Verwaltung der Kunsthalle [...] sind ein sehr ungewöhnliches Erzeugnis, wie es in den Zeiten einer bureaukratisch organisierten Staatsverwaltung wohl nur in einer Hansestadt gedeihen konnte. Die Voraussetzung dafür ist ein hohes Maß gegenseitigen Vertrauens.“ (S. 16) Die Reisebriefe dienten zunächst als Reiseberichte, wie sie nach Dienstreisen üblicherweise gegenüber Vorgesetzten zu verfassen sind. Zugleich legte Pauli in ihnen aber auch Rechenschaft ab über seine Tätigkeit für die Hamburger Kunsthalle, denn seine Reisen quer durch Deutschland und Europa dienten zuvorderst dem Auf- und Ausbau des eigenen Museums und erst in zweiter Linie der Erlangung des kennerschaftlichen Rüstzeugs eines Kunsthistorikers durch Anschauung von Originalen. Seine Briefe geben Einblick in die Arbeitsweise eines Museumsmannes im ersten Viertel des 20. Jahrhunderts, der nämlich vor allem vergleichende Studien an Originalen vornahm und dabei „gute Photographien“ der Werke der eigenen Sammlung stets mit sich führte, um „so angesichts der beglaubigten Werke anderer Sammlungen auf methodischem Wege zum Ziel zu kommen.“ (S. 48) Unabhängig von Pauli betrieb sein Assistent Carl Georg Heise, der ihm nach 1945 im Amt nachfolgen sollte, die selben Studien, um schließlich die Beobachtungsergebnisse zu vergleichen und gesicherte Zuschreibungen vornehmen zu können.

Insgesamt 138 Reisebriefe aus der Zeit vom 1. August 1914 bis zum 21. März 1932 sind im Archiv der Hamburger Kunsthalle vornehmlich in maschinenschriftlichen Originalen überliefert. Erstaunen muss die intensive Reisetätigkeit in den Jahren des Ersten Weltkrieges, die nur von jener 1925 und 1927 etwas übertroffen wird. Nur am Rande erfährt man überhaupt, dass Deutschland im Krieg steht, etwa wenn Pauli berichtet, dass das Reisen nun doch beschwerlicher geworden ist (S. 117) oder wer von den Museumsbeamten im Felde steht.

Auf seinen Reisen studierte Pauli natürlich Kunstwerke: Originale aller Genre und Zeiten, und er tat dies in Museen, Privatsammlungen, Ausstellungen von Vereinen und Sezessionen, Galerien und Auktionshäusern bis hin zu Ateliers: alte Kunst ebenso wie zeitgenössische Werke, Zeichnungen, Druckgraphik, Gemälde, Skulpturen – der umfassende Anspruch der Sammeltätigkeit des hanseatischen Kunstmuseums verpflichtete ihn zur Vielfalt. An dieser kann der Leser nun teilhaben und dank der umfangreichen, nahezu jeden Namen erfassenden Kommentierung sogleich eintauchen in die Kunst- und Museumswelt der späten Kaiserzeit und der Jahre der Weimarer Republik. Die erwähnten Privatsammler, Künstler, Kunsthändler, aber auch die an den Museen und anderen Institutionen tätigen Fachwissenschaftler und Architekten, die Pauli aufsuchte, mit denen er Freundschaften und Geschäftsbeziehungen pflegte oder die er auch nur erwähnte, werden durch detaillierte Anmerkungen fassbar und erkennbar. Das nach Personen und Orten getrennte Register, wobei letzteres in vorbildlicher Weise auch die erwähnten Museen, Kunsthandlungen, Vereine usw. auflistet, versteht sich als Orientierungshilfe zu den Reisebriefen Gustav Paulis – und geht doch weit darüber hinaus. Dank des Registers stellt diese Edition zugleich ein unschätzbares Nachschlagewerk dar für Personen und Institutionen jeglicher Coloeur im Kunst- und Museumsbetrieb jener Zeit.

Gleichwohl überträgt der Bearbeiter seinen Anspruch, „jede Person bei ihrer ersten Erwähnung im Text durch die Angabe ihrer Lebensdaten und ihres Berufes genauer zu bestimmen“ (S. 24) auch auf Bauwerke, Museen, Galerien, Kunsthandlungen usw. Dies führt zu der Frage, in welchem Verhältnis Text und Kommentierung in einer Edition idealerweise stehen sollen oder anders gefragt: Wieviel Wissen darf eine Edition voraussetzen zugunsten eines schlankeren Anmerkungsapparates? Künstler wie Rubens oder Rembrandt benötigen nicht zwingend Lebensdaten und Berufsbezeichnungen, ebenso muss für erwähnte Künstler und Personen nicht die gesamte Forschungsliteratur rekapituliert werden. Sehr hilfreich und vollkommen berechtigt sind ausführliche Hinweise auf weiterführende Literatur dort, wo Pauli oder die Hamburger Kunsthalle unmittelbar betroffen sind (so zum Beispiel Paulis Beschäftigung mit Philipp Otto Runge, S. 80f.) oder ein direkter Bezug der erwähnten Person zum Hamburger Museum im Text hergestellt wird (zum Beispiel Rosa Schapire S. 173). Aber auch hier hätte eine Beschränkung auf die einschlägige oder jüngste Forschungsliteratur zu mehr Übersichtlichkeit in den Anmerkungen geführt.

Neben den Personen hat Ring unzählige in Paulis Briefen erwähnte Kunstwerke akribisch ermittelt, ganze Privatsammlungen rekonstruiert, Werke in Museen, temporären Ausstellungen und auf Auktionen mittels Katalogen nachgewiesen, bis hin zum Versuch, den heutigen Verbleib der Werke festzustellen, was naturgemäß nicht in jedem Fall zu leisten war. Zwar sind die Werke nur über die Künstler im Register recherchierbar und hier nicht einzeln nachgewiesen, der Wert für die Provenienzforschung ist trotzdem ein nachhaltiger, der durch die anregende Lektüre, bei der man vieles über die Wege von Kunstwerken lernt, nur gesteigert werden kann.

Große Aufmerksamkeit richtete Pauli zudem auf die Architektur der besuchten Museen und Galerien, auf die Art der Wandbespannung, der Hängung, der Anordnung, um sich für den Hamburger Neubau umfassend zu orientieren und durch Anschauung zu lernen. Seine detaillierten Beschreibungen der „auswärtigen“ Museen werden häufig ergänzt durch seine Reflektionen auf Hamburg und seine prägnant vorgetragene Auffassung von einem modernen Kunstmuseum. Diese Rückschlüsse sowie die in den Briefen naturgemäß ausführlich beschriebenen Ankäufe von Kunstwerken oder Ankaufsversuche, Pläne für künftige Erwerbungen und weitere Bezüge zur unmittelbaren Geschichte der Hamburger Kunsthalle hat Christian Ring zugleich in einer Biographie Gustav Paulis aufgearbeitet, die unter dem Titel „Gustav Pauli und die Hamburger Kunsthalle. Biographie und Sammlungspolitik“ als zweiter Band der Edition zugeordnet ist. Der Schwerpunkt liegt auf den Jahren der Reisebriefe, die fast deckungsgleich mit Paulis Direktorat sind. Doch erfahren auch Paulis Direktorat an der Bremer Kunsthalle von 1899 bis 1914 sowie seine letzten Lebensjahre als Pensionär 1933 bis 1938 in eigenen Kapiteln eine angemessene Würdigung. Die Biographie folgt keiner chronologischen, sondern vielmehr einer an den Sammlungsbeständen der Hamburger Kunsthalle orientierten Gliederung und beschreibt den Ausbau der verschiedenen Abteilungen: der Alten Meister, des so genannten älteren 19. Jahrhunderts, der Impressionisten sowie der modernen Malerei. Eine umfangreiche Bibliographie der Schriften Paulis rundet schließlich diesen biographischen Band ab.

Immer wieder bereiste Pauli zwischen 1914 und 1932 München, Berlin, Dresden und Frankfurt am Main, aber auch kleinere Städte mit seinerzeit bedeutenden Museen und Sammlungen fanden Niederschlag in seinen Notizen. Paulis oft kritische, aber auch pointierte Beschreibungen von Künstlern („Immer dieselben Meister an denselben Plätzen mit denselben Bildern! [...] Antike Erotica von Stuck, hysterische Damen von Keller, aufgeregte Bildnisse von Samberger [...]“, S. 126) oder Museen (über das Germanische Nationalmuseum in Nürnberg: „Auf dem Fliesenfussboden des ersten langen schmalen Raumes der Altdeutschen bekommt man kalte Füsse, sodass ich mit einem Schemel von Bild zu Bild rückte.“ S. 129f.) und sein bisweilen fast essayistischer Schreibstil machen die opulente Edition zu einer leichten und höchst anregenden Lektüre, die eine sehr willkommene Ergänzung der bereits vorliegenden Erinnerungen von Pauli selbst 2, aber auch von anderen Museumsmännern dieser Zeit 3 darstellt. Die Edition wird fortan Grundlage sein für vielfältige Forschungen zur deutschen Museums-, Kultur- und Kunstgeschichte des frühen 20. Jahrhunderts. Darüber hinaus setzt Christian Ring mit dieser verdienstvollen Arbeit zweifelsohne Maßstäbe für kommende Editionen von Quellenschriften aus der musealen Welt.

Anmerkungen:
1 Bernhard Maaz, Was heißt und zu welchem Ende studiert man historische Quellen? Fragestellungen und Beobachtungen zur kunsthistorischen Editionspraxis, in: Zeitschrift des Deutschen Vereins für Kunstwissenschaft 62 (2008), S.276-283, hier S. 276.
2 Gustav Pauli, Erinnerungen aus sieben Jahrzehnten. Tübingen 1936.
3 Wilhelm von Bode, Mein Leben, herausgegeben von Thomas W. Gaehtgens und Barbara Paul, 2 Bände, Berlin 1997; Ludwig Justi, Leben Wirken: Werden – Wirken – Wissen. Lebenserinnerungen aus fünf Jahrzehnten, aus dem Nachlaß herausgegeben von Thomas W. Gaehtgens und Kurt Winkler, 2 Bände, Berlin 1999; Karl Woermann, Lebenserinnerungen eines Achtzigjährigen, 2 Bände, Leipzig 1924.

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