R.-D. Müller: Der Feind steht im Osten

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Titel
Der Feind steht im Osten. Hitlers geheime Pläne für einen Krieg gegen die Sowjetunion im Jahre 1939


Autor(en)
Müller, Rolf-Dieter
Erschienen
Anzahl Seiten
294 S.
Preis
29,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Wigbert Benz, Werner-von-Siemens-Schule Karlsruhe

Dem Autor, wissenschaftlicher Direktor am Militärgeschichtlichen Forschungsamt der Bundeswehr (MGFA), oblag von 2004 bis 2008 die Leitung des MGFA-Serienwerks „Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg“, nachdem er schon seit 1983 Mitautor der Reihe gewesen war.1 Die kritisch reflektierte Essenz dieser Forschungen, soweit sie die Planungen eines deutschen Angriffs auf die UdSSR betreffen, legt er nun in seiner aktuellen Studie vor. Dabei relativiert er sowohl die im Anschluss an Andreas Hillgrubers Habilitationsschrift von 19652 bis in die Gegenwart wirksame intentionalistische These eines Stufen- oder Masterplans Hitlers zur Eroberung von Lebensraum im Osten als auch die funktionalistische Auffassung, nach der das Deutsche Reich im Zuge selbst geschaffener Sachzwänge auf der Basis einer Kette improvisierter Entscheidungen Krieg geführt habe.3

Müller zeigt auf, dass Russland bzw. die Sowjetunion schon seit dem Ersten Weltkrieg im Visier der deutschen politischen und militärischen Eliten war, sei es, um mittels militärischer Gewalt wie im Diktatfrieden von Brest-Litowsk 1918 die Aneignung der Ressourcen im Osten zu erreichen, oder im Falle zeitweiliger militärischer Schwäche über Kooperationsabkommen wie den Rapallo-Vertrag 1922. Dass der Gegensatz von machtpolitischen und ökonomischen Motiven für einen Krieg im Osten und dessen Propagierung als nationalistische, völkische Maßnahme keinen wirklichen Antagonismus darstellte, erhellt schon die von Müller zitierte Aussage des Chefs des kaiserlichen Generalstabes Helmuth von Moltke, der bereits 1912 von einem „unausweichlichen Kampf zwischen Germanentum und Slawentum“ sprach, für den alle gerüstet sein müssten, „die Bannerträger germanischer Geisteskultur“ seien (S. 17).

Nachdem die Früchte des Gewaltfriedens von Brest-Litowsk aufgrund des an der Westfront verlorenen Krieges nicht geerntet werden konnten und ein Jahrzehnt der Kooperation zwischen den beiden geschwächten Kriegsverlierern Deutsches Reich und UdSSR folgte, beendete Hitler diese Zusammenarbeit noch 1933. Als Partner für einen künftigen Krieg gegen die Sowjetunion wurde nun Polen umworben. Dem mit Polen abgeschlossenen Nichtangriffsvertrag von 1934 misst Müller eine ähnlich große Bedeutung wie dem Hitler-Stalin-Pakt 1939 zu. In der Literatur immer wieder kolportierte antipolnische Äußerungen Hitlers vor 1939 sieht er auf dem Hintergrund zweifelhafter „ominöser Gespräche [Hitlers] mit Hermann Rauschning“, die nach 1945 zu Unrecht „als eine Schlüsselquelle für Hitlers Einstellung zu Polen angesehen worden sind“ (S. 41). Müller hält in Übereinstimmung mit großen Teilen der Forschung Rauschnings Gespräche mit Hitler für Konstrukte, wenn nicht sogar Fälschungen.4 Tatsächlich habe es mit dem strikt antibolschewistisch eingestellten Polen General Pilsudskis Chancen für eine gemeinsame Frontstellung gegen die UdSSR gegeben. Fünf Jahre lang versuchte die deutsche Führung der polnischen Seite deutlich zu machen, dass die Überlassung der Kontrolle Danzigs und des sogenannten Korridors zwischen Pommern und Ostpreußen als Voraussetzung, eine nördliche Rollbahn zum Angriff der Wehrmacht gegen die Rote Armee zu schaffen, auch für die polnische Seite von Vorteil wäre, zum Beispiel durch die Gewinnung von Teilen der Ukraine.

Ausgehend von der Unterstützung oder auch nur wohlwollenden Neutralität Polens ergaben die militärischen Plan- und Kriegsspiele der Wehrmacht einen leichten Sieg im Osten. Sorge hatte man ausschließlich vor dem Kriegseintritt der Westmächte. Da die Unterlagen der Mitte bis Ende der 1930er-Jahre durchgeführten Planspiele der Heeresführung nur noch in Bruchteilen vorhanden sind, wertete Müller die vollständig überlieferten komplementären Planspiele und Studien der Kriegsmarine aus. Diese lassen keinen Zweifel daran, dass schon für 1939 ein Krieg gegen die Sowjetunion angestrebt werden sollte. So heißt es in Generaladmiral Conrad Albrechts Studie „Ostseekriegsführung“ vom April 1939: „Deutschland fordert von Russland Raum und Rohstoffe. Russland ist demnach als wahrscheinlichster Kriegsgegner einzusetzen.“ (S. 125)

Nachdem die Hinwendung Polens zu Großbritannien dessen Unterstützung für einen deutschen Krieg gegen die UdSSR nicht mehr erwarten ließ, kündigte Hitler am 28. April 1939 den deutsch-polnischen Nichtangriffsvertrag und versuchte Polen, wie schon vorher die Tschechoslowakei, zu isolieren. Sein Vorsatz aber, „Krieg um ‚Lebensraum’ auf sowjetischem Boden zu führen [...] stand felsenfest“ (S. 128). Die militärischen Planungen sahen für den Fall eines Stillhaltens Frankreichs und Großbritanniens bei dem deutschen Angriff auf Polen auch die Option vor, direkt anschließend den Krieg gegen die Sowjetunion weiterzuführen. Deren militärische Stärke und politische Stabilität wurde gering geschätzt. Diese Einschätzung der militärischen und politischen Schwäche der Sowjetunion wurde bis zum Juni 1941 beibehalten. Sorgen machten sich Hitler und der Generalstabschef des Heeres Halder ausschließlich darüber, dass die Wehrmacht in einem Zweifrontenkrieg gegen die Westmächte nicht bestehen könnte, nicht aber darüber, dass in den Jahren 1939, 1940 oder 1941 ein Angriff der Roten Armee drohen würde. Nach dem Krieg gelang es Halder, seine Mitverantwortung für entsprechende Kriegsplanungen zu verschleiern, unter anderem „versuchte [er] sich nach Kriegsende mit seinem ehemaligen Adjutanten [Reinhard Gehlen, W.B.] abzusprechen“ (S. 257).

Durch die für Hitler unerwarteten Kriegserklärungen Großbritanniens und Frankreichs wurde der Krieg gegen die Sowjetunion direkt im Anschluss an den Polenfeldzug obsolet. Doch nach Frankreichs Kapitulation im Juni 1940 wurden die alten Pläne wieder aufgenommen und weitergeführt. Müller weist mittels einer quellenkritischen Analyse von Halders Tagebucheinträgen (S. 195 f., S. 211 f. u. 218 f.) nach, dass „Hitlers bestimmte[m] Entschluß“ vom 31. Juli 1940, die UdSSR im Frühjahr 1941 anzugreifen, entsprechende Initiativen Halders vorausgingen, der sich schon im Juni 1940 „vorauseilend um einen Plan bemüh[te]“. (S. 208) Doch nicht nur Halder, sondern auch sein ehemaliger Adjutant und „‚Barbarossa’-Planer Reinhard Gehlen“, nach dem Krieg Chef des Bundesnachrichtendienstes, sowie Halders Chef der Operationsabteilung, Adolf Heusinger, der unter Adenauer zum Generalinspekteur der Bundeswehr avancierte, hatten nach den Recherchen Müllers aus Eigeninteresse versucht, nach 1945 „Hitler als Alleinschuldigen für den Ostkrieg und das Scheitern eines vermeintlich genialen Feldzugsplans hinzustellen“ (S. 261).

Der besondere Wert von Müllers Studie besteht erstens darin, dass er eine in kein Korsett intentionalistischer oder funktionalistischer Metatheorien eingezwängte Analyse der realen Kriegsplanungen liefert. Zweitens kontrastiert er anhand kritischer Quellenanalyse die tatsächliche Verantwortung Halders, Heusingers und Gehlens mit ihren kontrafaktischen Rechtfertigungen nach 1945. Und schließlich kann Müller nachweisen, dass in keiner Phase der militärischen Planungen von 1938 bis 1941 die Angst vor einem angeblich drohenden Angriff der Roten Armee eine Rolle gespielt hat. Im Gegenteil, man ging von deren Schwäche und einem in wenigen Wochen zu erringenden Sieg aus.

Anmerkungen:

1 Militärgeschichtliches Forschungsamt (Hrsg.), Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg, 10 Bde, Stuttgart u. München 1979-2008. Mitautor war Müller schon in dem einschlägigen Band 4: Der Angriff auf die Sowjetunion, Stuttgart 1983.
2 Andreas Hillgruber, Hitlers Strategie: Politik und Kriegsführung, 1940–1941, Frankfurt am Main 1965.
3 Zum Forschungsstand Rolf-Dieter Müller / Gerd R. Ueberschär, Hitlers Krieg im Osten 1941-1945. Ein Forschungsbericht, Darmstadt 2000; zu jüngerer Literatur vgl. Gerd R. Ueberschär, Das „Unternehmen Barbarossa“ als Vernichtungskrieg im Osten im Spiegel neuerer Literatur seit 1994/95, in: Gerd R. Ueberschär / Wolfram Wette (Hg.), Der deutsche Überfall auf die Sowjetunion. „Unternehmen Barbarossa“ 1941, Frankfurt am Main, erweiterte Neuausgabe 2011, S. 404-420.
4 Vgl. dazu Bernd Lemke: Rezension zu: Rauschning, Hermann: Gespräche mit Hitler. Mit einer Einführung von Marcus Pyka. Zürich 2005, in: H-Soz-u-Kult, 02.08.2006, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2006-3-081>.(20.07.2011)

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