S. Steinbacher: Wie der Sex nach Deutschland kam

Cover
Titel
Wie der Sex nach Deutschland kam. Der Kampf um Sittlichkeit und Anstand in der frühen Bundesrepublik


Autor(en)
Steinbacher, Sybille
Erschienen
München 2011: Siedler Verlag
Anzahl Seiten
576 S.
Preis
€ 28,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Massimo Perinelli, Historisches Seminar, Universität zu Köln

Das Cover von Sybille Steinbachers Band verweist bereits grafisch auf den zu erwartenden historischen Befund der Sexualitätsgeschichte der jungen Bundesrepublik Deutschland. In ansonsten schwarzen Lettern ist das Wort „Sex“ in roter und das Wort „Deutschland“ in grauer Schriftfarbe gedruckt. Das historische Bild, das der Siedler-Verlag in seiner Cover-Gestaltung suggeriert, wirkt klassisch – die muffig-mausgrauen Jahre des Wirtschaftswunder-Deutschlands erlebten den Einbruch eines blutrot-pulsierenden und aufregend neuen Phänomens: Sex!

Sybille Steinbacher untersucht die Sexualitäts- und Sittlichkeitsdiskurse der ersten drei Nachkriegsjahrzehnte sowie das Ringen um gesellschaftliche Hegemonie auf knapp 360 Seiten; der 140-seitige Fußnotenapparat und die 70-seitige Literaturliste verweisen auf die Habilitationsschrift, die diesem Buch zugrunde liegt. Es geht der Autorin primär um die Selbstverständigung einer Gesellschaft über das Sexuelle. Als Kern ihrer Arbeit betont sie immer wieder die „gesellschaftliche Selbstsuche, die der soziale Konflikt um Sexualität verdeutlicht“ (S. 133).

Steinbacher zufolge kam die Debatte um den Sex mit Alfred C. Kinsey in den frühen 1950er-Jahren nach (West-)Deutschland. Sie spricht Kinsey entscheidende Bedeutung zu: „Sein Name stand für eine Zeitenwende im Umgang mit Sexualität.“ (S. 148) Bereits 1953 ließ die Veröffentlichung von Kinseys Band über die Frau in den USA auch hierzulande das publizistische Interesse „explodieren“ und erzwang eine Öffnung der diskursiven Ordnung – trotz massiver Abwehrkämpfe der Sittlichkeitsverfechter. Deren Bemühungen räumt Steinbacher viel Platz in ihrem Buch ein – vor allem dem unablässigen Kampf des katholischen Volkswartbunds und seines Dauervorsitzenden Michael Calmes, der in enger Zusammenarbeit mit der katholischen Kirche um Kardinal Josef Frings gegen „Schmutz und Schund“ vorgehen wollte. Mit einem sehr geschulten Auge für die Lebensläufe der einzelnen Akteure im Nationalsozialismus zeigt die Autorin, wie sehr die einflussreichen Männer der jungen Bundesrepublik in ihrer Sprache und Mentalität noch mit der NS-Zeit verwoben waren. So wünschten sich nicht wenige Minister, Kardinäle, Mediziner, Kriminalbeamte und Soziologen „Jugendschutzlager“ (S. 41), redeten von moralischen „Zersetzungserscheinungen“ und „Entartung“ (S. 292), forderten eine „Volkszensur“ (S. 121) gegen das „amerikanische Idol der Pressefreiheit“ (S. 57) und schwadronierten im Zuge der Entrüstung über die Kinsey-Studie von „Entgeistigung, Entmenschlichung, Verflachung, Vernichtung, Chaos“ (S. 191).

Steinbacher sieht darin in erster Linie einen seit dem Kaiserreich tobenden Abwehrkampf konservativer Kräfte gegen „die Moderne“. Darin folgt sie vor allem dem Historiker Ulrich Herbert; sie versteht die selbsternannten Sittlichkeitsverfechter als Ausdruck für ein „Bedürfnis nach Rückversicherung“ (S. 16) in einer sich vor allem ökonomisch immer schneller drehenden modernen Welt. Die Orientierung an Herbert bedeutet, dass sich Steinbacher von einem Sexualitätsverständnis im Sinne Michel Foucaults distanziert. Zwar teilt sie dessen Prämissen, kritisiert seine machtpolitischen und disziplinargesellschaftlichen Deutungen des Sex jedoch als zu theoretisch. Ihre eigene Historisierung nimmt den Sex indes nicht auf der Ebene der Körper wahr, sondern als ordnungspolitische Chiffre. Das sexuelle Begehren selber taucht dabei nur am Rande auf – als proletarisches Begehren schimmert es hier und da im Hintergrund der politischen Auseinandersetzungen. Während für die Bildungsbürger Sexualität als Zeichen moderner Lebensweisen per se allerlei „tief sitzende Ängste“ freisetzte (S. 34), schien bei der breiten Masse der Menschen ohnehin Freizügigkeit vorzuherrschen. Immerhin hatte die Bundesrepublik mit Beate Uhses Unternehmen den weltweit größten Erotik-Versandhandel, und der erste Sex-Shop der Welt öffnete hierzulande seine Türen. Woher „Neugier und Bedürfnisse der Zeitgenossen“ (S. 295) jedoch kamen und inwiefern diese historisiert werden können, bleibt offen.

Steinbacher sieht das Kinsey-Jahr 1953 als den eigentlichen Beginn des „Sex-Booms“, der im üblichen zeithistorischen Verständnis entweder erst mit der Pille zu Beginn der 1960er-Jahre oder mit den studentischen Protesten gegen Ende der Dekade einsetzte. Dass diese frühe Sexwelle nicht das Ende der offiziellen Sittlichkeitskämpfe darstellte, war laut Steinbacher vor allem dem Umstand geschuldet, dass 1951 unzählige Beamte wieder in den Dienst genommen wurden, die vorher als nationalsozialistisch belastet entlassen worden waren. Sehr viele von ihnen wurden in den zahlreichen Prüfstellen und Sonderdezernaten gegen „Schmutz und Schund“ untergebracht; besonders das neugeschaffene Bundeskriminalamt wurde zu einem „Hort ehemaliger Polizeibeamter des Dritten Reiches“ (S. 251). Interessant ist die These der Autorin, dass das „justizielle Aktionsfeld Schmutz und Schund womöglich überhaupt erst geschaffen wurde, um den einstigen NS-Beamten Lohn und Brot zu sichern“ (S. 252). So erkläre sich auch, warum trotz einer liberalen Presse und trotz der Begeisterung der Bevölkerung für Erotika aller Art Justiz, Politik und Polizei nicht müde wurden, Verlage, Filmverleiher, Buchhändler und Zeitungen mit Anzeigen, Razzien und drakonischen Gesetzesinitiativen zu überziehen. Steinbacher betont immer wieder „die handfesten Zusammenhänge zwischen rigider Sexualmoral und nationalsozialistischen Tätern als deren Exekutoren“ (S. 355). Die ehemaligen und wiedereingesetzten Beamten sahen in unverblümt antisemitischer, antiamerikanischer und antikommunistischer Denkweise im Sex den Ausverkauf des deutschen Kulturvolkes und den Einbruch des seelenlosen Massenmenschen. Die Propagierung einer sexuellen Befreiung stellte unter diesen Vorzeichen in mehrfacher Hinsicht einen demokratischen Akt dar.

Die Beispiele, an denen Steinbacher die umfangreichen Debatten vorstellt, sind der „Heftchenmarkt“ der späten 1940er-Jahre, Willi Forsts Skandalfilm „Die Sünderin“ (1951), die Aufstellung von Kondomautomaten, der Aufstieg des Versandhauses Beate Uhse, der Kulturskandal um Ingmar Bergmans Film „Das Schweigen“ (1963), der Fall der „Edelhure“ Rosemarie Nitribitt, der Streit um den erotischen Roman „Fanny Hill“ und viele mehr. Das Muster jedes dieser „Schlachtfelder“ (S. 18) war dabei sehr ähnlich: Kleine, oft religiöse bzw. tiefbraune Gruppen mobilisierten geneigte Kreise in der Politik, diese reagierten mit Repression, die „veröffentlichte Meinung“ (S. 293) antwortete mit Spott und Unverständnis, während Otto Normalverbraucher sich kaum um die Verbote scherte. Am Ende war es dann häufig die Justiz, welche die Initiativen der selbsternannten Wächter des „Sittengesetzes“ und des „gesunden Volksempfindens“ in die Schranken wies. Steinbachers Fazit lautet dabei immer wieder, dass „Sittlichkeit der bürgerliche Reflex auf den allgemeinen Wandlungsdruck war“ (S. 280), während sich „befreite, unreglementierte Sexualität ohne Weiteres als Ausweis von Liberalisierung und als Weg in die demokratische Zukunft deuten ließ“ (S. 279). Dieser Fortschrittsimpetus kontrastiert die bildungsbürgerlichen, von Angst gekennzeichneten, „rückwärtsgewandten Sexualvorstellungen“ (S. 69) von „aus der Zeit gefallenen Leuten“ (S. 271) mit einer nach Demokratie und Konsum strebenden Bevölkerungsmehrheit: Für beide Seiten war Sex als Chiffre individueller Freiheit und Glücksversprechen ein Zeichen der Moderne – gefürchtet von den einen, gewünscht von den anderen. In den Augen der Autorin wurde Sexualität dabei „beispiellos überhöht als Kern sozialen Selbstverständnisses“ (S. 335). Und genau diese Überhöhung macht die Relevanz einer historischen Analyse des bundesdeutschen Sexualitätsdiskurses aus. Nichts weniger als die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus, das Verhältnis zu den USA, das Bekenntnis zum oder die Kritik am konsumorientierten Wohlstand und die Familien- und Geschlechterordnung wurden über die Begriffe des Sexuellen verhandelt.

Trotzdem bleiben Fragen offen: Warum zum Beispiel war die damalige Presse scheinbar selbstverständlich liberal bzw. „modern“, obwohl ihr Personal selbst einen bildungsbürgerlichen, mitunter antimodernen Hintergrund besaß? Und warum war die breite Bevölkerung in ihren Konsumwünschen so offen für alles Neue und Erotische und nicht ebenso rückwärtsgewandt wie die bürgerlichen Schichten? Immerhin waren es ja nicht nur die Eliten, die den Nationalsozialismus ermöglicht hatten. Dem Buchtitel zum Trotz bleibt teilweise unbeantwortet, „wie der Sex nach Deutschland kam“ und was für ein Sex das war – besonders im Hinblick auf die so genannte sexuelle Revolution Ende der 1960er-Jahre, wenn doch eigentlich 1953 das sexuelle Wendejahr war. War „68“ nur eine Folge der 1950er-Jahre, oder besaß es eine eigene, transnationale Logik? Dennoch, das eingängig geschriebene Buch von Sybille Steinbacher ist eine überaus wichtige Studie zur Sexualitäts- (und Demokratie-)Geschichte der Bundesrepublik; es sollte in keiner historischen Bibliothek dieses Landes fehlen.