Cover
Titel
Czechoslovakia. The State That Failed


Autor(en)
Heimann, Mary
Erschienen
Anzahl Seiten
432 S.
Preis
$ 45.00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Volker Zimmermann, Collegium Carolinum, München

Ende 1992, im Zuge der Auflösung der Tschechoslowakei, gab Rolf-Josef Eibicht eine Textsammlung mit dem Titel „Die Tschechoslowakei. Das Ende einer Fehlkonstruktion“ heraus.1 Der Publizist und frühere Mitarbeiter des Sudetendeutschen Rates – nach eigenen Angaben ein „engagierter Vertreter der mittleren Generation der Heimatvertriebenen“2 – war schon zuvor mit Darstellungen zur sudetendeutschen Geschichte bzw. Opferrolle in die Öffentlichkeit getreten. Nun hatte er erneut Autoren um sich versammelt, die den tschechoslowakischen Staat im Allgemeinen und seine Minderheitenpolitik im Besonderen scharf angriffen. Der Titel der Schrift war natürlich programmatisch zu verstehen: Die von Tschechen initiierte und geführte „Fehlkonstruktion“ Tschechoslowakei – ein von den Siegermächten 1918 aus der Taufe gehobener Staat, in dem andere Nationalitäten (vor allem die Deutschen in den böhmischen Ländern) unter tschechische Herrschaft gezwungen worden seien – sei nun endgültig am Ende. Es breche auseinander, was niemals zusammengehört habe.

In ihrer 17 Jahre später veröffentlichten Studie „Czechoslovakia. The State That Failed“ erzählt jetzt Mary Heimann eine ähnliche Geschichte. Die Historikerin, die in den USA studiert hat und in Großbritannien lehrt, berichtet in chronologischer Reihenfolge von der Vorgeschichte der Tschechoslowakei, der Zwischenkriegszeit, der NS-Herrschaft sowie den Jahren 1945 bis 1989/92 unter dem Vorzeichen des (vor allem tschechischen) Nationalismus. Dabei kommt sie zu einem eindeutigen Ergebnis: 1918 sei die Tschechoslowakei gewissermaßen als Zufallsprodukt des Ersten Weltkrieges auf Betreiben vor allem einiger weniger tschechischer (und slowakischer) Nationalisten entstanden, ethnische Minderheiten seien gegen ihren Willen in dieses Gebilde gezwungen worden, man habe ein tschechoslowakisches Staatsvolk konstruiert und tschechische und slowakische Protagonisten seien immer wieder nationalistischen und autoritären Versuchungen verfallen – und schließlich sei dieses Konstrukt 1992 endgültig gescheitert.

Nun ist Heimann weder hinsichtlich ihres wissenschaftlichen Niveaus, ihrer politischen Ausrichtung oder ihres erzählerischen Könnens auf eine Stufe mit Eibicht und seinen Autoren zu stellen. Aber die Frage drängt sich auf, warum die Grundargumentation dieser beiden unterschiedlichen Veröffentlichungen so ähnlich scheint. Heimann präsentiert kaum neue Erkenntnisse, sie erzählt die Geschichte der Tschechoslowakei vor allem auf der Basis englischsprachiger, aber auch tschechischer Sekundärliteratur – wobei grundlegende Werke deutscher Autoren etwa zur NS-Besatzung oder Vertreibung selbst dann nicht berücksichtigt werden, wenn sie in tschechischer Übersetzung vorliegen. Allerdings ist diese Gesamtdarstellung eben aus einer äußerst kritischen Perspektive verfasst. Sie habe erkannt, berichtet Heimann in der Einleitung, dass sich die tschechische Geschichte nicht als die so oft erzählte Helden- bzw. Opfergeschichte mit Eckpunkten wie „München 1938“ und „Prager Frühling 1968“ darstelle, sondern dass „tschechische und slowakische Nationalisten nicht immuner gegen Autoritarismus, Bigotterie und Grausamkeit als andere“ (S. xx und xxi) gewesen seien. Ganz überraschend ist diese Haltung nicht, denn schließlich präsentieren seit einigen Jahren viele jüngere, vor allem amerikanische Autorinnen und Autoren in Studien zur Nationalbewegung, NS-Besatzungszeit und Vertreibung ein differenziertes Bild von der Tschechoslowakei bzw. der tschechischen Nationalgeschichte, das sich deutlich von der in der englischsprachigen Literatur lange dominierenden positiven Sicht unterscheidet.3

Dies ist natürlich legitim, und auch Heimann liegt in weiten Teilen im Grunde richtig. So hinterfragt sie beispielsweise ein Demokratieverständnis, das in der Praxis in erster Linie national begriffen wurde, indem beispielsweise wichtige Entscheidungen de facto in einer kleinen Gruppe tschechischer Parteivertreter vorentschieden wurden. Natürlich ist die Erzählung vom tschechischen Leidensweg während der Jahre 1938 bis 1945 um Aspekte wie Kollaboration zu ergänzen oder mit dem andernorts herrschenden Besatzungsterror nicht zu vergleichen. Und auch die Erzählung vom heldenhaften „Prager Frühling“ 1968 muss im Kontext der von Heimann betonten und ausführlich beschriebenen hausgemachten Hardliner-Herrschaft der KPTsch gesehen werden. Doch sind dies keine so sensationellen Neuigkeiten, als dass man die Darstellung als grundlegend neue Sicht verkaufen könnte. Aber vor allem: Dies ändert nichts daran, dass die Tschechoslowakei bis 1938 ein demokratischer Rechtsstaat geblieben ist und dass, trotz aller Leiden andernorts, die NS-Besatzung auch in den böhmischen Ländern eine schmerzhafte Erfahrung war. Doch die Information des renommierten Verlags Yale University Press unterstreicht die Intention Heimanns unmissverständlich: Dies sei ein „[…] comprehensive and revisionist book […]“.

An anderen Stellen flicht Heimann zudem einen polemischen Unterton ein. Ein kleines, aber bezeichnendes Beispiel dafür ist eine Bemerkung, in der sie dem Komponisten Antonín Dvořák unterstellt, ohne sein musikalisches patriotisches Engagement hätte er vielleicht weiter Polkas, Mazurkas und Märsche in seiner Dorfkapelle spielen müssen (S. 16). Solche kleinen Seitenhiebe lassen ein Grundproblem – die Frage nach der unbestreitbaren tschechischen Dominanz in der Tschechoslowakei – aus dem Blick geraten: Denn in der Tat wurde dieser Staat von fast allen Beteiligten zu Recht als tschechisches Projekt begriffen, weshalb es ihm aus der Sicht von Nicht-Tschechen zweifelsfrei an Legitimation mangelte. Dass dieses Staatsverständnis bis heute lebendig ist, bewies nicht zuletzt die überaus erfolgreiche Großausstellung „Republika“ 2008/09 im Prager Nationalmuseum über die Geschichte der Ersten Tschechoslowakischen Republik (1918-1938).4 Dort wurden Slowaken kaum und die nationalen Minderheiten bis zum Ende der 1930er-Jahre in erster Linie als bösartige Gegner vorgestellt – und ansonsten tschechische Errungenschaften der Jahre 1918 bis 1938 präsentiert. Diesem Erzählmuster hätte eine nüchterne Analyse der tatsächlich vorhandenen zahlreichen Defizite, Fehler und Egoismen tschechischer (sowie slowakischer, sudetendeutscher etc.) Politik entgegengestellt werden können, ohne einseitig zu urteilen.

Heimanns Buch soll nun als neueste und weitgehend gut lesbare Gesamtdarstellung der Tschechoslowakei für derzeitige und künftige Studierende ohne Tschechisch- oder Deutschkenntnisse eine maßgebende einführende Lektüre sein. Um noch einmal den Verlag zu zitieren: „[…] a ground-breaking book which should become the standard history of Czechoslovakia in years to come“. Dies wäre allerdings ein Problem, und zwar nicht nur wegen einiger inhaltlicher Ungenauigkeiten und Fehler oder der Tatsache, dass für die Argumentation zentrale Perioden wie die 1920er- und 1930er-Jahre im Gegensatz zu dem sehr detailliert beschriebenen Zeitraum 1948 bis 1992 (dem fast die Hälfte des Buches gewidmet ist) nur oberflächlich skizziert werden. Angesichts der zugespitzten Meistererzählung vom demokratischen und kulturellen Musterstaat Tschechoslowakei, der von inneren und äußeren Feinden bedroht und 1938 zerstört worden sei, und der Meistererzählung von der „Fehlkonstruktion“ Tschechoslowakei, die gewissermaßen automatisch früher oder später scheitern musste, würde dann eine zwischen diesen Sichtweisen vermittelnde neuere englischsprachige Gesamtdarstellung fehlen.

Was also unterscheidet die Haltung Eibichts und seiner Mitstreiter von 1992/93 von der Perspektive Heimanns? Neben dem genannten (natürlich großen) Niveauunterschied sicherlich die Motivation, was für die Einschätzung des Buches entscheidend ist. Während die einen voller Ressentiments gegen einen Staat polemisierten, der die deutsche Minderheit vermeintlich hart unterdrückte, resultiert die kritische Sicht bei der anderen aus Überraschung und Enttäuschung: nämlich darüber, dass die lange Zeit dominierende Meistererzählung von der „tschech(oslowak)ischen“ Opfer- und Heldenrolle im 20. Jahrhundert nur die halbe Wahrheit sei. Dies ist allemal ehrenwerter als plumpe politische Propaganda – aber verführt letztlich zu einer moralisch-anklagenden Argumentation genau dort, wo ein differenziertes Hinterfragen überkommener Selbst- und Fremdbilder gefordert wäre.5

Anmerkungen:
1 Rolf-Josef Eibicht (Hrsg.), Die Tschechoslowakei. Das Ende einer Fehlkonstruktion. Die sudetendeutsche Frage bleibt offen, Berg 1992, 2. Aufl. 1993.
2 Ebenda, S. 4.
3 Vgl. z.B. die – im Gegensatz zu Heimann allerdings auf umfangreicher Quellenarbeit beruhenden und in den meisten Fällen überzeugend argumentierenden – Arbeiten von Andrea Orzoff, Battle for the Castle. The Myth of Czechoslovakia in Europe, 1914-1948, Oxford 2009; Tara Zahra, Kidnapped Souls. National Indifference and the Battle for Children in the Bohemian Lands, 1900-1948, Ithaca 2008; Chad Bryant, Prague in Black. Nazi Rule and Czech Nationalism, Cambridge/Mass. 2007; Benjamin Frommer, National Cleansing. Retribution against Nazi Collaborators in Postwar Czechoslovakia, New York 2005; Eagle Glassheim, National Mythologies and Ethnic Cleansing. The Expulsion of Czechoslovak Germans in 1945, in: Central European History 33 (2000), S. 463-486.
4 Vgl. die Internetpräsentation der Ausstellung: Národní muzeum [Nationalmuseum]: Republika. Výstava k 90. výročí vzniku Československa [Die Republik. Ausstellung zum 90. Jahrestag der Enstehung der Tschechoslowakei]. URL: <http://www.nm.cz/vystava-detail.php?f_id=211> (zuletzt aufgerufen am 9.6.2011).
5 Es handelt sich um eine leicht veränderte Version der Besprechung, die ursprünglich erschienen ist in: Bohemia 50 (2010) H. 2, S. 419-422.