M. Livi u.a. (Hrsg.): Die 1970er Jahre als schwarzes Jahrzehnt

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Titel
Die 1970er Jahre als schwarzes Jahrzehnt. Politisierung und Mobilisierung zwischen christlicher Demokratie und extremer Rechter


Herausgeber
Livi, Massimiliano; Schmidt, Daniel; Sturm, Michael
Erschienen
Frankfurt am Main 2010: Campus Verlag
Anzahl Seiten
299 S.
Preis
€ 29,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Dominik Geppert, Institut für Geschichtswissenschaft, Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn

Als der Gründervater der Gruppe 47, Hans Werner Richter (1908–1993), im Januar 1967 an einer studentischen Protestdemonstration teilnahm, notierte er anschließend in seinem Tagebuch: „Eine seltsame Demonstration mit Sonnenblume und Leierkasten, der Melodien wie: ‚Püppchen, du bist mein Augenstern’ spielte, Melodien aus der Zeit des Kaiserreichs, eine Demonstration, die jede echte politische Spannung vermissen liess [sic], und scheinbar mehr der Gaudi diente. […] Welch ein Unterschied zu den Demonstrationen von vor dreißig Jahren: damals der Glaube an die Ideologie, politische Spannung, politische Leidenschaft, jetzt: ein Leierkasten. Wenn das die politische linke Jugend ist, dann helfe uns Gott, falls eine neue nationale faschistische Rechte entsteht. Sie wird diese Jugend mit einer Handbewegung wegfegen.“1

Richters zeitgenössischer Eindruck enthält verschiedene Beobachtungen, die sich als Leitmotive durch den hier zu besprechenden Band über die 1970er-Jahre als „schwarzes Jahrzehnt“ ziehen: die Politisierung der Jugend, die sich in bisher unbekannten Formen äußerte und mit fundamentalen Veränderungen des Lebensgefühls, der Freizeitgestaltung und der Konsumgewohnheiten verknüpft war; eine durch diesen Politisierungsschub ausgelöste Polarisierung und die damit – vermeintlich oder tatsächlich – verbundene Gefahr eines rechten Gegenschlages gegen die mehrheitlich links konnotierte studentische Protestbewegung; das Verhältnis von Ideologie, Emotion und Gewalt und der dadurch nahegelegte Rückbezug auf die Zwischenkriegszeit, die noch zur Lebenserinnerung vieler Zeitgenossen gehörte und selbstverständlicher als 15, 20 Jahre später zur Einordnung und Bewertung gegenwärtiger Erfahrungen herangezogen wurde; schließlich die Bedeutung von Generationen als Empfindungsgemeinschaften, die in der Abgrenzung entweder gegenüber anderen Generationen oder gegenüber Mitgliedern der eigenen Altersgruppe gebildet und bestätigt werden.

Der von den drei Münsteraner Historikern Massimiliano Livi, Daniel Schmidt und Michael Sturm herausgegebene Sammelband gehört in den Kontext neuerer zeithistorischer Forschungen, die sich mit der Charakterisierung der 1970er-Jahre als „rotem Jahrzehnt“ nicht zufriedengeben2 und nach „politischen Mobilisierungsprozessen jenseits der Linken“ fragen (S. 13). Der Band geht in zweierlei Hinsicht über den bisherigen Stand der Forschung und Diskussion hinaus: Zum einen erweitert er die Perspektive von den etablierten Mitte-Rechts-Parteien auf das gesamte Spektrum „zwischen christlicher Demokratie und extremer Rechter“. Zum anderen begnügt er sich nicht mit der Untersuchung des westdeutschen Fallbeispiels, sondern nimmt auch Italien, Österreich und Frankreich in den Blick. Im Kern geht es um einen Vergleich zwischen der Bundesrepublik und Italien, denen sechs beziehungsweise drei der zwölf Beiträge gewidmet sind (ein weiterer thematisiert vergleichend Italien und Deutschland), während Österreich und Frankreich nur in je einem Aufsatz behandelt werden.

In Italien wie in der Bundesrepublik, das wird immer wieder deutlich, gab es neben linkem Protest auch beträchtliche Mobilisierungserfolge auf der rechten Seite des politischen Spektrums. Häufig berührten oder überlappten sich die Extreme. Unter den Schlagworten „Revolution“, „Kampf gegen das System“, „Antiliberalismus“, „Antiamerikanismus“, „dritter Weg zwischen dem Imperialismus der beiden Weltmächte UdSSR und USA“ konnten sich sowohl links- als auch rechtsextreme Kräfte wiederfinden. Außerdem lassen sich zahlreiche Übernahmen von Aktions- und Organisationsformen der Neuen Linken durch die Neue Rechte feststellen – bis hin zur Adaption Che Guevaras als Revolutionsikone durch die neofaschistische Jugendorganisation Giovane Italia. Dabei entfremdeten sich Mussolinis Erben in der Movimento Sociale Italiana (MSI) über den Streit, ob die extreme Rechte sich als Partei der Ordnung oder als revolutionäre Bewegung verstehe, von den radikaleren Strömungen in ihren eigenen Jugend- und Studentenorganisationen, wie Loredana Guerrieri und Giancarlo Falcioni zeigen. Ähnliche Spaltungstendenzen zeichnen Fabian Virchow und Christoph Kopke für die bundesdeutsche extreme Rechte im Umfeld der NPD nach.

Ebenso auffällig wie die Parallelentwicklungen diesseits und jenseits der Alpen sind die Unterschiede. Die Gewaltfrage, konstatieren Nicolai Hannig und Massimiliano Livi in ihrem Aufsatz über „1968 als Ausgangspunkt eines bewegten Jahrzehnts in Italien und Deutschland“, habe in Italien während der 1970er-Jahre eine wesentlich stärker integrierende Funktion gehabt als in der Bundesrepublik: Hier „überlagerte die spaltende und isolierende Wirkung die Mobilisierungskraft, während italienische Terrororganisationen wie die Roten Brigaden das linksradikale Spektrum eher zu homogenisieren vermochten“ (S. 47). Die in Westdeutschland besonders wichtige kulturelle, vor allem mediale, Dimension von „1968“ sei in Italien von der Praxis einer körperlichen Gewalt überlagert worden, die anders als in der Bundesrepublik eine zentrale Rolle für die Konzeption und Durchsetzung gesellschaftlicher und politischer Umbrüche eingenommen habe. Auf diese Weise bildete sich in Italien eine im Vergleich zur Bundesrepublik deutlich breitere und aktivere rechtsextreme Gegenkultur.

Umgekehrt kam in Westdeutschland ein großer Teil der Abwehrreflexe gegen die linksradikalen Überschüsse der Protestbewegung nicht der extremen, sondern der gemäßigten Rechten zu Gute. Diese begriff sich – etwa in Gestalt des Rings Christlich-Demokratischer Studenten (RCDS) – gerade in ihrer Mäßigung und ihrem Pragmatismus als die „eigentliche radikale Minderheit“, wie Anna von der Goltz in einem klugen Beitrag über die konservative „Gegen-Generation von 1968“ nachweist. In manchen Aspekten ihrer Zeitdiagnose, so von der Goltz, hätten sich die konservativen „68er“ mit den Vorstellungen der linken Mehrheit durchaus überschnitten. Hinsichtlich ihrer Lösungsangebote und der Orientierung auf Reform statt Revolution hätten sie sich jedoch grundlegend voneinander unterschieden. Ähnliches gilt für die im Bund Freiheit der Wissenschaft organisierte Professorenschaft. Nikolai Wehrs beschreibt sie mit guten Argumenten als liberalkonservative Reformer, die „fest in der pluralistischen Demokratie und in der politischen Kultur des Westens verankert“ gewesen (S. 111) und lediglich von ihren linken Antipoden als Reaktionäre oder gar als Wegbereiter eines „offenen Faschismus“ (Reinhard Kühnl) denunziert worden seien.3

Wie die markanten Differenzen zwischen der italienischen und der westdeutschen Entwicklung zu erklären sind, darauf finden sich in dem Band kaum überzeugende Antworten. Dies mag daran liegen, dass nur ein einziger Beitrag direkt vergleichend vorgeht, aber auch daran, dass die in der Einleitung als Analysekategorie angedeutete „gemeinsame Gegenwart als postfaschistische Staaten und Gesellschaften“ (S. 11) nur selten konsequent in die Argumentationen einbezogen wird. Inwieweit die Spezifika des italienischen Faschismus und des deutschen Nationalsozialismus zusammen mit den unterschiedlich gearteten Formen der „Vergangenheitspolitik“ (Norbert Frei) nach 1945 Auswirkungen bis in die 1970er-Jahre hinein hatten, bleibt eine interessante Frage. Hoffentlich stößt der vorliegende Band, der eher weiteres Nachdenken stimuliert als abschließende Antworten gibt, künftige Forschungen in dieser Richtung an.

Anmerkungen:
1 Zit. nach Dominik Geppert, Hans Werner Richter, die Gruppe 47 und ,1968‘, in: Franz-Werner Kersting / Jürgen Reulecke / Hans-Ulrich Thamer (Hrsg.), Die zweite Gründung der Bundesrepublik. Generationswechsel und intellektuelle Wortergreifungen 1955–1975, Stuttgart 2009, S. 175-187, hier S. 180.
2 Vgl. etwa Axel Schildt, „Die Kräfte der Gegenreform sind auf breiter Front angetreten“. Zur konservativen Tendenzwende in den Siebzigerjahren, in: Archiv für Sozialgeschichte 44 (2004), S. 449-478, auch online unter <http://library.fes.de/jportal/servlets/MCRFileNodeServlet/jportal_derivate_00021400/afs-2004-449.pdf> (5.7.2011); Frank Bösch, Die Krise als Chance. Die Neuformierung der Christdemokraten in den siebziger Jahren, in: Konrad H. Jarausch (Hrsg.), Das Ende der Zuversicht? Die siebziger Jahre als Geschichte, Göttingen 2008, S. 288-301.
3 Zum Begriff des Liberalkonservatismus siehe Jens Hacke, Philosophie der Bürgerlichkeit. Die liberalkonservative Begründung der Bundesrepublik, Göttingen 2006.