: Grenzen der Anstalt. Psychiatrie und Gesellschaft in Deutschland 1860-­1980. Göttingen 2010 : Wallstein Verlag, ISBN 978-3-8353-0623-3 551 S. € 46,00

: Visuelle Gewalt. Menschenbilder aus der Psychiatrie des 20. Jahrhunderts. Bielefeld 2010 : Transcript – Verlag für Kommunikation, Kultur und soziale Praxis, ISBN 978-3-89942-420-1 253 S., 135 Abb. € 27,80

Rezensiert für H-Soz-Kult von
Johannes Platz, Köln

In den vergangenen Jahrzehnten hat die Geschichtsschreibung der Psychiatrie das Feld der Untersuchungen erheblich ausgeweitet. Forschungsprojekte haben neben der Zeit des Nationalsozialismus – auf der weiterhin ein deutliches Schwergewicht liegt – das Kaiserreich, die Weimarer Republik und seit rund zehn Jahren vermehrt auch die Nachkriegszeit in den Blick genommen.1 Cornelia Brinks Freiburger Habilitationsschrift, als Buch erschienen unter dem Titel „Grenzen der Anstalt. Psychiatrie und Gesellschaft in Deutschland 1860–1980“, spannt nun einen weiten zeitlichen Rahmen. Dies macht Einschnitte und Grenzziehungen der Arbeit notwendig, die auf einer umfassenden Auswertung des Forschungsstands sowie der Rekonstruktion juridischer, psychiatriereformerischer und ärztlicher Diskurse beruht. So schließt Brink die Untersuchung der Mikropolitik hinter den Anstaltsmauern aus. Trotzdem nimmt sie keineswegs eine Vogelperspektive ein, sondern integriert in großem Umfang die regional- und lokalhistorischen Untersuchungen zur Psychiatriegeschichte.

Vor allem widmet sich Brink den unterschiedlichen polizei- und „irrenrechtlichen“ Fragestellungen, die definieren, was ein kranker Mensch ist, unter welchen Bedingungen er interniert werden darf und wie sein Rechtsstatus dabei bestimmt werden kann. Ausgehend von der Etablierungsphase der geschlossenen Anstalten in den 1860er-Jahren, als spezialisierte „Irrenanstalten“ mehr und mehr an die Stelle der vormaligen Armen- und Arbeitshäuser traten, beschreibt Brink den Anstaltsboom im Kaiserreich, der bis weit in die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg den Baubestand der Anstaltswelt prägte. Regelmäßig untersucht sie in den Kapiteln zu den einzelnen Zeitabschnitten den zeitgenössischen publizistischen Reformdiskurs und die öffentliche Wahrnehmung des Anstaltswesens. Intensiv analysiert Brink zum Beispiel die als Broschürenliteratur veröffentlichten Selbstzeugnisse von „Irren“, die die Stigmatisierung als Geisteskranke nicht hinzunehmen bereit waren und die Innenwelt der Anstalten kritisierten.

Brink weist auch auf die publizistische Nachbarschaft der Kritiker des Irrenwesens zur mitunter fragwürdigen, weil durchaus irrationalen und wissenschaftsskeptischen, ja -feindlichen Lebensreformbewegung hin und entwickelt so eine kritische Relektüre dieser frühen Reformschriften. Die Vernachlässigung der Internierten im Ersten Weltkrieg und das anschließende Hungersterben in den Anstalten waren erste Varianten der inhumanen Zuspitzung im 20. Jahrhundert. Für die Weimarer Republik beleuchtet die Autorin dann das ambivalente Verhältnis zwischen Reformdiskursen und medizinischem Fortschritt auf der einen Seite sowie der Ausbreitung eugenischen und rassehygienischen Denkens auf der anderen Seite. Das Ineinandergreifen dieser vermeintlich gegenläufigen Tendenzen fand unter dem Druck einer wachsenden Ökonomisierung des Anstaltswesens statt.

Diese Tendenz verstärkte sich im NS-Staat noch, als Pflegesätze immer weiter reduziert wurden. Bereits in den Jahren zwischen 1933 und 1939 gab es vor diesem Hintergrund eine Politik von Zusammenlegungen und immer häufigeren Verlegungen von Patienten. In dieser Atmosphäre konnten die eugenischen Vordenker der Weimarer Republik und die nationalsozialistischen Rassehygieniker eine radikalisierte Variante etablieren, die auf Ausschließung und Ausmerzung der als gemeinschaftsfremd Klassifizierten setzte. Eine Zuspitzung war bereits das „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ vom 1. Januar 1934, infolgedessen es massenhaft zu Zwangssterilisierungen kam. Ihren endgültigen negativen Höhepunkt erlebte die Ausmerzungspolitik mit der Vernichtung von Anstaltsinsassen im Rahmen der nationalsozialistischen „Euthanasie“. Konnte diese aufgrund öffentlicher kirchlicher Proteste und negativer Stimmungsberichte 1941 dem Anschein nach gestoppt werden, so lief doch die stille „Euthanasie“ ununterbrochen weiter – begünstigt durch die unübersichtliche Verlegungspolitik, die Kriegszwecken geschuldet war.

Im Nachkrieg wurden die nationalsozialistischen Anstaltsverbrechen und die Beteiligung praktizierender Ärzte daran zwar thematisiert, doch änderte sich die verheerende Situation in den Anstalten nur zögerlich, so dass es weiterhin zu Fällen von Hungersterben kam. Obwohl in den 1950er-Jahren durch Illustriertenbeiträge und andere populäre Medien psychische Krankheiten, die Situation in den Anstalten und erste Ansätze zu einer Rechtsreform verstärkt diskutiert wurden, dauerte es bis in die 1960er-Jahre, bis auf Landesebene Gesetze für den Umgang mit psychisch Kranken verabschiedet wurden. Im Anschluss an die neuere Forschungsdiskussion untersucht Brink die Reform des Anstaltswesens vor der eigentlichen Reform – also den Übergang von den 1950er- zu den 1960er-Jahren. Nun experimentierte eine jüngere Generation von Psychiatern mit neuen Behandlungsansätzen wie Gruppentherapie und Psychotherapie, was durch die Entwicklung moderner Pharmazeutika wie Neuroleptika und Antidepressiva begünstigt wurde. Mit dem Reformklima der 1970er-Jahre schließlich findet die Arbeit ihren Abschluss, wobei die große Psychiatrieenquete von 1975 den damals erreichten Diskussionstand gut dokumentiert. Die Öffnung der Anstalten freilich kam aufgrund von Sparvorgaben langsamer voran als gefordert.

Cornelia Brinks Buch durchmisst das Forschungsfeld der Psychiatriegeschichte souverän und kann schon jetzt als ein Standardwerk gelten, das Kultur- und Sozialgeschichte mit Rechts- und Medizingeschichte verbindet. Ein besonderes Verdienst ist es, dass die Autorin die rechtlichen Definitionen dessen, was ein psychisch Kranker sei, über die Jahrzehnte hinweg rekonstruiert und mit dem öffentlichen Diskurs über Fragen der Geisteskrankheit sowie über die Reform des Anstaltswesens kontrastiert. Dabei kann Brink zeigen, dass die Psychiatriereform und -kritik nicht ausschließlich auf der Seite des gesellschaftlichen Fortschritts stand. Der einzige Wermutstropfen ist, dass die Arbeit auf die Darstellung des Innenraums der Anstalten verzichtet und damit die Praxis der Fürsorge weitgehend ausblendet. Diese Einschränkung schmälert insgesamt aber nicht den Wert der profunden Darstellung.

Susanne Regeners Monographie „Visuelle Gewalt. Menschenbilder aus der Psychiatrie des 20. Jahrhunderts“ folgt ebenfalls einer Langzeitperspektive, ist aber etwas spezieller angelegt: Sie widmet sich dem Bilddiskurs der Geisteskrankheit. Die Autorin geht von einer überblicksartigen Analyse der Zurschaustellung von Geisteskranken im Kontext der Repräsentation von Anstaltsräumen aus und untersucht im Folgenden die Entwicklung des klinischen ärztlichen Blicks, der mit der Entstehung der Porträtfotografie im späten 19. Jahrhundert verbunden war.2 Dabei weist sie nach, dass entgegen der Annahme eines dokumentarischen Charakters der Fotografie Ärzte und die mit ihnen zusammenarbeitenden Fotografen einen stereotypen Blick auf die Kranken entwickelten, der diese in intentionaler Weise als Außenseiter markierte und konstruierte.

Ausgehend von der Tradition des physiognomischen Denkens wurde eine ganze Bandbreite von Lehren entwickelt, die vorgaben, innere seelische Zustände eines Menschen am äußeren Erscheinungsbild ablesen zu können. Interessanterweise orientierten sich die zeitgenössischen Zuschreibungen an den jeweiligen Schönheits- und Anstandsnormen, so dass Abweichungen von der Norm als krank markiert wurden. Regener führt dies international vergleichend vor – an Beispielen aus der wissenschaftlich begründeten Fotografie in England (John Conolly), Italien (Cesare Lombroso), Dänemark und Frankreich (Jean-Martin Charcot) und Deutschland (Ernst Kretschmer).

Dabei verwendet die Autorin institutionelle Quellen aus Anstalten und wissenschaftshistorische Quellen wie Lehrbücher. In genaueren Analysen erörtert sie den institutionellen Gebrauch der Fotografie anhand der Landesheil- und Pflegeanstalt Weilmünster in Hessen. Hier kann sie belegen, dass die Fotografien und das stereotype Bild, das diese von den Kranken zeichneten, auch für Lehrzwecke jenseits des akademischen Gebrauchs im klinischen Bereich Verwendung fanden. Popularisiert wurden die stereotypen Bilder unter den auszubildenden Psychiatern durch Lehrbücher, die viele Auflagen erlebten und die Bildwelten bis in die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg tradierten. Erst die Verbreitung von Reformideen in der Psychiatrie der 1970er-Jahre bedeutete auch für die fotografische Bildtradition eine Zäsur. Ein spezielles Kapitel widmet Regener der Darstellung geisteskranker Frauen; darin gelingt ihr ein besonders überzeugender Nachweis des normierenden und normalisierenden Gebrauchs der Fotografie. Am Ende des Bandes steht ein Kapitel, das sich der Anwendung hirnchirurgischer Verfahren sowie der neuesten Rebiologisierung der psychiatrischen und neurologischen Diagnostik anhand bildgebender Verfahren widmet.

Regeners Diskursanalyse ist insgesamt sehr ertragreich. Sie kombiniert gekonnt Quellen unterschiedlicher Provenienz – von Krankenakten über Fotoalben, die in der Ausbildung von Nachwuchspsychiatern verwendet wurden, bis zur psychiatrischen Fachliteratur. Zu kritisieren wäre allenfalls, dass popularisierende Quellen, die die Wirkung des Diskurses in der Breite belegen könnten, nicht im gleichen Maße herangezogen wurden. Wer sich einmal mit Angehörigen der Geburtsjahrgänge 1900 bis 1930 unterhalten hat, weiß um die Wirkmächtigkeit physiognomischer Stereotypen. Die Typen der konstitutionsorientierten Charakterlehre Ernst Kretschmers etwa fanden sich noch in Taschenkalendern der 1950er-Jahre. Gelegentlich würde man sich bei den Bildbeispielen aus den verschiedenen internationalen Institutionen des Anstaltswesens zudem eine stärkere Kontextualisierung und Verknüpfung mit dem einschlägigen Forschungsstand wünschen. Die Wiedergabe der Bildquellen ist für die Zwecke einer Bilddiskursanalyse im Übrigen ausgesprochen ungünstig, da die Abbildungen sehr kleinformatig sind und der argumentative Nachvollzug anhand der Bildbeispiele nicht immer einfach zu bewerkstelligen ist. In der Gesamtschau vermag lediglich das abschließende Kapitel über die Rebiologisierung der Nervenheilkunde nicht zu überzeugen; der Leser gewinnt den Eindruck, dass hier ein (zweifellos wichtiges) eigenes Thema aufgeworfen wird, das eine monographische Betrachtung verdient hätte.

Gemeinsam ist beiden Untersuchungen, dass sie einen psychiatriekritischen Blick einnehmen. Während Susanne Regener der These der sozialen Konstruiertheit psychischer Krankheiten folgt, ist Cornelia Brinks Blick differenzierter; sie vermag die ambivalenten Erscheinungen anders zu würdigen, indem sie sie kontextualisiert. Regener betont stärker den gewaltförmigen Charakter des Anstaltswesens, der Medikation und der fotografischen Dokumentation. Brink hingegen ist offen für die Gegendiskurse, die bereits zeitgenössisch eben jenen gewaltförmigen Charakter der Einsperrung kritisierten und auf seine Reform drangen; dementsprechend betont sie auch das Entwicklungspotenzial innerhalb der Institutionen. Freilich hat es bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts gedauert, bis jene antipsychiatrischen Diskurse aufkamen, denen letztlich auch Regeners Ansatz verpflichtet ist – und die Brink wiederum historisiert. Für die Nachkriegszeit ist das Feld damit jedoch erst eröffnet: Von Interesse wären weitere wissenshistorische und kulturgeschichtliche Forschungen zur Wechselwirkung zwischen Psychiatriekritik und Psychiatrieform sowie zu den Abgrenzungen von Antipsychiatrie und Psychiatriereform.

Anmerkungen:
1 Für die Jahre 1933–1945 liegt jetzt ein Forschungsbericht zum Verhältnis von Medizin und Nationalsozialismus vor: Robert Jütte u.a., Medizin und Nationalsozialismus. Bilanz und Perspektiven der Forschung, Göttingen 2011. Aus der umfangreichen Literatur hier nur beispielhaft die Standardwerke des regionalhistorischen Projekts zur Psychiatriegeschichte in Westfalen (in der Reihenfolge ihres Erscheinens): Franz-Werner Kersting / Karl Teppe / Bernd Walter (Hrsg.), Nach Hadamar. Zum Verhältnis von Psychiatrie und Öffentlichkeit im 20. Jahrhundert, Paderborn 1993; Franz-Werner Kersting, Anstaltsärzte zwischen Kaiserreich und Bundesrepublik. Das Beispiel Westfalen, Paderborn 1996; Bernd Walter, Psychiatrie und Gesellschaft in der Moderne. Geisteskrankenfürsorge in der Provinz Westfalen zwischen Kaiserreich und NS-Regime, Paderborn 1996; Sabine Hanrath, Zwischen ‚Euthanasie’ und Psychiatriereform. Anstaltspsychiatrie in Westfalen und Brandenburg. Ein deutsch-deutscher Vergleich (1945–1964), Paderborn 2002; Franz-Werner Kersting (Hrsg.), Psychiatriereform als Gesellschaftsreform. Die Hypothek des Nationalsozialismus und der Aufbruch der sechziger Jahre, Paderborn 2003. Im Nachgang erschien ein epochenübergreifender Sammelband zu einer der westfälischen Anstalten; vgl. Ansgar Weißer (Hrsg.), Psychiatrie, Geschichte, Gesellschaft. Das Beispiel Eickelborn im 20. Jahrhundert, Bonn 2009 (siehe dazu meine Rezension, in H-Soz-u-Kult 18.3.2010: <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2010-1-207> [5.7.2011]). Die Erträge des Psychiatrieprojekts flossen auch in folgende Quellenbände ein: Thomas Küster (Hrsg.), Quellen zur Geschichte der Anstaltspsychiatrie in Westfalen, Bd. 1: 1800–1914, Paderborn 1998; Franz-Werner Kersting / Hans Walter Schmuhl (Hrsg.), Quellen zur Geschichte der Anstaltspsychiatrie in Westfalen, Bd. 2: 1914–1955, Paderborn 2004. Als eine epochenübergreifende Studie zur Psychiatriegeschichte vgl. jüngst z.B. Christoph Beyer, Von der Kreisirrenanstalt zum Pfalzklinikum. Eine Geschichte der Psychiatrie in Klingenmünster, Kaiserslautern 2009.
2 Vgl. Helen Bömelburg, Der Arzt und sein Modell. Porträtfotografien aus deutschen Psychiatrien 1880–1933, Stuttgart 2007.