D. Pscheida: Das Wikipedia-Universum

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Titel
Das Wikipedia-Universum. Wie das Internet unsere Wissenskultur verändert


Autor(en)
Pscheida, Daniela
Reihe
Kultur- und Medientheorie
Anzahl Seiten
518 S., zahlr. Abb.
Preis
€ 29,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Karsten Borgmann, Institut für Geschichtswissenschaften, Humboldt-Universität zu Berlin / Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam

Das Interesse der Medienwissenschaftlerin Daniela Pscheida gilt der kulturellen Bedeutsamkeit der sich im Netz manifestierenden Wissenskultur, insbesondere dem sich wandelnden Verhältnis von Experten und Amateuren im Web 2.0. Ausgehend von der Beobachtung einer „feuilletonistischen“ Debatte über die Wikipedia sucht sie nach einer „nicht normativen“ Herangehensweise bzw. fragt „von einem unabhängigen Standpunkt aus konkret nach der wissenskulturellen Bedeutung des Internet im Allgemeinen und des Web 2.0 im Speziellen“ (S. 16). Dabei geht sie von der These aus, „dass die gegenwärtige Konstellation gesellschaftlicher Verhältnisse und medialer Dispositionen deutliche Parallelitäten zu jenem wissenskulturellen Umbruch aufweist, der sich im frühneuzeitlichen Europa ereignete“ (S. 19). Löst also das „Wikipedia-Universum“ die „Gutenberg-Galaxis“ (McLuhan 1962) ab? Und wie kann das Bewusstsein für einen solchen epochalen Wandel Phänomene wie die Wikipedia möglicherweise verständlicher machen? So ließe sich Pscheidas Grundmotivation zusammenfassen.

Im Laufe der über 500 Seiten umfassenden Studie referiert Pscheida eine beeindruckende Zahl von Ansätzen und Forschungsperspektiven, die sich alle mit dem Verhältnis von Wissen, Medien und gesellschaftlichem Wandel auseinandersetzen. Dabei nutzt sie ausdrücklich ein breites Feld disziplinärer Sichtweisen. Von den kognitiven und wissenssoziologischen Grundlagen schreitet das einführende Kapitel fort zu Thesen über das Ende der Buchkultur bis hin zu Theorien des Cyberspace und Web 2.0. Pscheida rezipiert die verfügbare Literatur zu den genannten Themen in ganzer Breite. Wichtige Referenzpunkte sind für sie vor allem die Arbeiten Michael Gieseckes und Hartmut Winklers.1

Auf der Basis dieser theoretischen Vorüberlegungen entwickelt Pscheida ein Analysemodell, das rund um die zentralen Begriffe „Koevolution“, „Leitmedium“ und „Dispositiv“ aufgebaut ist. Koevolutionär ist, so die Autorin, die Wechselwirkung von Zeitgeschichte und Medien. Nicht ein neues (Leit-)Medium allein revolutioniere eine Gesellschaft; vielmehr müssten die kulturellen und sozialen „Dispositionen“ auch passen. So entwickelt Pscheida ein komplexes, mehrdimensionales Strukturmodell, in das „aggregierte Phänomene, Handlungen/Ereignisse, Praktiken und symbolische Ordnungen als zentrale Elemente bzw. Ebenen des Wissensdiskurses“ eingehen (S. 94).

Als Einstieg in die konkrete Analyse des medienhistorischen Wandels rekonstruiert Pscheida das „Wissensmodell der typographischen Ära“, indem sie soziokulturelle und mediale Entwicklungen der Frühen Neuzeit referiert. Vorangestellt ist ein Exkurs zur Geschichte der Enzyklopädie. Pscheida skizziert unter anderem humanistische Bildungsreform, Wissenspopularisierung, die Rationalisierung wissenschaftlicher Verfahren und die Institutionalisierung der Wissenschaft als Beispiele für die Herausbildung eines Wissensbegriffs, der im ordnenden Erfassen der Welt ein auf Objektivität, Vernunft und Autorität von Experten basiertes „Wahrheitsmodell“ etabliert habe. Dieses Modell, so die Autorin, beruhe auf typographischen Medien, in denen die Übertragung von Information „interaktionsfrei“ stattfinde (S. 146). Das typographische Medium reproduziere so bis auf den heutigen Tag eine in Wissenschaftsinstitutionen verkörperte Experten-Laien-Differenz als zentrale Säule einer professionalisierten Wissensproduktion.

Auf diese Rekonstruktion des klassischen Wissensmodells lässt Pscheida eine Analyse gesamtgesellschaftlicher Entwicklungen am Beginn des 21. Jahrhunderts folgen, die die traditionelle Wissenskultur verändern und als neues Modell beschrieben werden könnten. Die Autorin beruft sich auf die Diskussion über den so genannten Modus 2 (Mode 2), der von Michael Gibbons und anderen 1994 insbesondere als Interpretationsmodell aktueller Wissen(schaft)sproduktion entwickelt wurde.2 Im Modus 2 seien es primär die funktionalen und kontextuellen Anforderungen der gesellschaftlichen Wissensproduktion – und somit nicht mehr allein die professionalisierte Autorität von Experten –, die über die Relevanz des Wissens bestimmten. Der Experten-Laien-Gegensatz sowie die sich auf Wahrheits- und Objektivitätsansprüche berufende Autorität der Wissenschaft würden sich zugunsten einer stärkeren Einbindung der Wissensproduktion in die Gesellschaft und durch Verfahren der konsensualen Ermittlung relevanter Inhalte im Modus 2 zunehmend auflösen. Pscheida bezieht sich hier unter anderem auf Peter Weingart, der die internen Veränderungen einer unter medialer Beobachtung stehenden Wissenschaft als „Wissenschaft der Öffentlichkeit“ beschrieben hat.3

Anschließend untersucht Pscheida die zuvor skizzierte Entstehung einer neuen Wissenskultur am Beispiel der Wikipedia, deren Verfahren, Akteure und Praktiken anhand einer wachsenden Zahl verfügbarer Studien vorgestellt werden. Zusätzlich unternimmt die Autorin unter Rückgriff auf Methoden der Objektiven Hermeneutik eine Tiefeninterpretation von Sequenzen aus Metatexten bzw. Selbstdarstellungen des Wikipedia-Projekts. Pscheida stellt fest, dass sich die Widersprüche des wissenskulturellen Umbruchs im Projekt selbst finden würden. Dem proklamierten Charakter als „Enzyklopädie“ stehe das unbegrenzte Wachstum diverser Wissensbestände in den Artikeln der Wikipedia gegenüber. Beide Handlungsmaximen, die Arbeit an Profil und Erscheinungsbild einer universellen Wissenssammlung sowie die offene, unkontrollierte Veröffentlichung von teilweise sehr partiellen Wissensbeständen, erscheinen der Autorin als Identitätsbrüche. Als Rezensent möchte man einwenden, dass im spannungsvollen Zusammenspiel der verschiedenen Identifikationsmuster auch ein wesentlicher Grund für den Erfolg des Projekts gesehen werden kann.

Im Fazit hebt Pscheida noch einmal die von ihr herausgearbeiteten Anzeichen für einen gegenwärtig ablaufenden Umbruch der Wissenskultur hervor, vergleichbar demjenigen am Beginn der Moderne. So lasse sich „heute am Beginn des 21. Jahrhunderts unter dem spezifischen leitmedialen Einfluss des Internets im Allgemeinen sowie des Web 2.0 im Speziellen eine ganz ähnliche Konstellation ausmachen, in der alle Voraussetzungen eines erneuten fundamentalen wissenskulturellen Wandels erfüllt sind und die damit – zumindest potentiell – einen solchen auslösen könnte“ (S. 450).

Ein Verdienst der Autorin ist es, die Wikipedia bzw. das Web 2.0 in die größere medienhistorische und medientheoretische Fachdiskussion zu integrieren. Als Einstieg in die breite medienwissenschaftliche Betrachtung von Wissenskultur, aufgehängt an einer prominenten und aktuellen Diskussion, ist ihre Arbeit gut geeignet. Pscheida versteht es, in verständlicher Form Forschungsansätze, Theorien und Überlegungen aus einer Forschungspublizistik darzustellen, die aufgrund eines theorielastigen Jargons oft nur schwer zugänglich ist. Allerdings wünschte man sich als Leser des umfangreichen Werks auch den einen oder anderen Rückbezug auf eine engere Problemstellung bzw. deren kritische Gewichtung. Der Historiker vermisst zudem einen wirklichen empirischen Kern der Untersuchung, der als Material nicht nur zur Veranschaulichung zitiert, sondern zur Überprüfung der Ausgangsannahmen eingesetzt würde.

Zudem verwundert es, dass trotz des theoretisch-methodischen Aufwands die Grundidee des vom Internet bewirkten wissenskulturellen Wandels bei Pscheida sehr unmittelbar positiv aufgeladen ist. Die neue digitale Wissenskultur wird, insbesondere im letzten Teil des Werks mit dem Titel „Wissenskultureller Wandel als Option – Bestandsaufnahme und Ausblick“, als uneingelöste Utopie dargestellt, die erst durch eine „mit den Herausforderungen der Wissensgesellschaft vertraute und im Umgang mit dem Web 2.0 sozialisierte Generation Internet“ (S. 469) Realität werden könne. Mit dieser normativen Fassung der neuen Wissenskultur kommt die Autorin ihrem Ziel, der Rationalisierung und Differenzierung der Debatte über die Wikipedia, aber kaum näher. Denn was an den Wissenskulturen des Web 2.0 aus ihrer Sicht freundlich, demokratisch und konsensual erscheint, sehen die Kritiker gerade als das eigentlich Besorgniserregende an – als zentrale Bedrohung individueller Leistungen und institutioneller Sicherheiten. Mit einem ergänzenden Blick auf Kosten, Verlierer und Ambivalenzen des wissenskulturellen Wandels hätte Daniela Pscheidas Arbeit wesentlich an Überzeugungskraft gewonnen, wenn auch nur gemessen an den klassischen Anforderungen eines Modus 1.

Anmerkungen:
1 Vgl. u.a. Michael Giesecke, Von den Mythen der Buchkultur zu den Visionen der Informationsgesellschaft. Trendforschungen zur kulturellen Medienökologie, Frankfurt am Main 2002; Hartmut Winkler, Docuverse. Zur Medientheorie der Computer, Regensburg 1997.
2 Michael Gibbons u.a., The New Production of Knowledge. The Dynamics of Science and Research in Contemporary Societies, London 1994; zur Diskussion siehe z.B. Gerd Bender (Hrsg.), Neue Formen der Wissenserzeugung, Frankfurt am Main 2001; Helga Nowotny / Peter Scott / Michael Gibbons, Wissenschaft neu denken. Wissen und Öffentlichkeit in einem Zeitalter der Ungewißheit, Weilerswist 2004.
3 Peter Weingart, Die Wissenschaft der Öffentlichkeit. Essays zum Verhältnis von Wissenschaft, Medien und Öffentlichkeit, Weilerswist 2005.