Cover
Titel
Soldaten. Protokolle vom Kämpfen, Töten und Sterben


Autor(en)
Neitzel, Sönke; Welzer, Harald
Erschienen
Frankfurt am Main 2011: S. Fischer
Anzahl Seiten
521 S.
Preis
€ 22,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Erik Fischer, Bildungszentrum Ith

„Es war ein typischer englischer Novembertag: tief hängende Wolken, Nieselregen und acht Grad.“ (S. 7) Mit diesen pittoresken und fast schon poetischen Worten erzählt der Mainzer Historiker Sönke Neitzel vom Zufall eines Sensationsfundes im Jahr 2001. Im britischen Nationalarchiv stieß er auf eine ungeheure Menge Abhörprotokolle, die von Gesprächen deutscher Soldaten in britischer Gefangenschaft gemacht worden waren. Das Spannende daran ist, dass diese Aufzeichnungen offenbar ohne das Wissen der deutschen Soldaten angefertigt worden sind. Sönke Neitzel hatte einen „Schatz“ gehoben, wie ihm selbst schnell bewusst wurde, der nur darauf wartete, ausgewertet zu werden. 2003 legte er eine erste Edition mit knapp 200 Abhörprotokollen deutscher Generäle vor.1 Doch war damit nur ein kleiner Teil des Fundes öffentlich gemacht; zudem stieß Neitzel im Laufe seiner Forschung im National Archive in Washington D.C. auf ähnliche Abhörprotokolle von den Amerikanern. Hatten sich die Briten vor allem auf die Funktionselite der Wehrmacht konzentriert und bevorzugt Generäle und höhere Offiziere abgehört, so gab es in den USA Protokolle von Gesprächen zwischen einfachen Mannschaftssoldaten und zwischen Unteroffizieren. – Man kann also sagen, zwischen denen, die den Krieg hautnah miterlebt hatten. Diese Gespräche versprachen einen tiefen Einblick in die Mentalität der Soldaten des Zweiten Weltkrieges. Sönke Neitzel beschloss, sich für die systematische Erschließung dieses Fundes Hilfe zu holen und kaum jemand schien mit seinem Wissen zur Biografieforschung besser geeignet als der Essener Sozialpsychologe Harald Welzer. Dieser hatte mit seinem Buch „Täter“ schon Einblicke in die Innenwelt der Einsatzgruppen an der Ostfront genommen und eine schlüssige Erklärung für das aus unserer Sicht verbrecherische Verhalten jener Polizeibataillone vorgelegt.2 Aus der Kombination des Wissens dieser beiden Wissenschaftler und durch die tatkräftige Unterstützung und Zuarbeit einer ganzen Forschergruppe ist ein Buch entstanden, das nicht nur Einblicke in die Kriegswahrnehmung und Gefühlswelt der Soldaten des Zweiten Weltkrieges liefert, sondern mit seinem theoretischen Überbau Erkenntnisse für eine Mentalitätsgeschichte des Krieges überhaupt verspricht. Darüber hinaus ist es, sicherlich durch die Mitwirkung Harald Welzers, ein hervorragendes Lehrbuch zur Sozialpsychologie geworden, das dem Leser tiefe Einblicke in diese Wissenschaft und ihren Gegenstand ermöglicht.

Sönke Neitzel und Harald Welzer gliedern ihr Buch in drei große Sinnabschnitte: Erstens die theoretische Fundierung mit der Referenzrahmenanalyse, zweitens die Darstellung, Würdigung und Interpretation der Aussagen selbst und drittens ein abschließendes Kapitel, in dem sie der Frage nachgehen, wie „nationalsozialistisch“ der Krieg der Wehrmacht eigentlich war.

Das Kapitel der theoretischen Fundierung versucht die Soldaten und ihre Aussagen im Kontext ihrer Zeit und ihrer Erfahrung zu verorten. Die Beschäftigung mit dem Zweiten Weltkrieg als Krieg ist oftmals durch eine strikte Grenzziehung gekennzeichnet: Derart ungehemmte, brutale, oftmals sogar als sadistisch und lustvoll charakterisierte Gewalt habe es vorher und nachher nicht gegeben. Neitzel und Welzer rücken dieses Bild im Sinne einer Mentalitätsgeschichte des Krieges zurecht: Der Zweite Weltkrieg hatte ohne Zweifel in vielen Belangen eine neue Qualität – gleichwohl waren die kämpfenden Soldaten von den Soldaten anderer Kriege gar nicht so verschieden. Eins der wichtigsten Erkenntnisse des Forschungsprojektes ist dementsprechend, dass bei den meisten Soldaten kein ausgeprägter ideologisch-fanatischer Hintergrund auszumachen ist, der ihre Taten motiviert hat. Neitzel und Welzer konfrontieren uns hier mit einer in Deutschland bisweilen verdrängten Wahrheit: Soldaten sind zum Töten da, und das ist das, was sie im Krieg tun. Dabei ist es völlig unerheblich, ob man Antisemit ist, Franzosen oder Russen hasst; all das ist nicht notwendig, um in einer bestimmten Situation zu töten.

In der Rezeption des Bandes scheint der Fokus vorschnell darauf gelegt worden zu sein, die Aussagen von Soldaten hervorzuheben, in denen scheinbar belanglos oder gar amüsiert vom Grauen des Krieges und des Völkermordes erzählt wird. Und ohne Zweifel gibt es diese Erzählungen in bisher kaum dokumentierter Fülle und Detailliertheit. Neitzel und Welzer folgen jedoch konsequent dem Ansatz einer neueren Täterforschung, welche ganz wesentlich auch auf Welzer mit zurückgeht, und wirken einer Dämonisierung der Soldaten entgegen. Man kann hier nicht einmal von einer „Banalität des Bösen“ sprechen, wie Hannah Arendt das noch getan hat. Stattdessen machen beide Autoren deutlich, dass Krieg, Tod und damit Gewalt einfach zum Alltag, zum Wissens- und Gefühlsbestand der Soldaten gehörten. Um Gewalt auszuüben, war nur die Legitimation wichtig: Partisanen und alle in ihrem Umfeld waren „Terroristen“ und gefährlich; Juden gehörten im Dritten Reich per definitionem nicht zur Volksgemeinschaft, in letzter Konsequenz waren sie nicht einmal mehr Menschen. So erschreckend das für uns heute klingen mag, aber Fragen der Moral stellten sich aus der Innensicht der Soldaten nicht oder kaum – die Welt war eben so. Und darüber hinaus galt es auch im Krieg seine „Arbeit“, denn nichts anderes ist der Krieg für Soldaten, richtig zu machen. Viele Gespräche, die uns makaber anmuten, dienten einfach nur zur Bestätigung der eigenen Professionalität.

Dieser Dissonanz widmet das Buch verständlicherweise breiten Raum; immer wieder kommen die Autoren auf sie zu sprechen. Erklären lässt sie sich, nach Neitzel und Welzer, mit einem aus der Umweltpsychologie bekannten Phänomen: den „shifting baselines“.3 Wir Menschen sind Teil eines beständigen Veränderungsprozesses. In diesem schleichenden Prozess eingebettet war eine fortschreitende Ausgrenzung unerwünschter Personengruppen aus der nationalsozialistischen Volksgemeinschaft; das bekannteste und erschreckendste Beispiel sind dabei die Juden. Ausgeschlossen aus dem „Universum der allgemeinen Verbindlichkeiten“ (Helen Fein) waren sie nicht einmal mehr Teil der Menschheit.4 Und so ist zu erklären, dass ihre Vernichtung in einem Großteil der Gespräche entweder gar kein oder ein äußerst randständiger Gegenstand ist. Wir scheinen uns gegen eine der großen Erkenntnisse des Buches zu sperren, aber der Genozid an den Juden erschien den Soldaten als normal. Interessant ist dies eben gerade deshalb, weil die russischen Soldaten scheinbar keinem derartig ausgrenzenden Prozess unterlagen, obwohl auch sie natürlich als Menschen diffamiert wurden. Trotzdem ist es erstaunlich, dass das grausame Schicksal der russischen Kriegsgefangenen vielen Soldaten ungerecht erschien.

Ebenfalls interessant, aber in der Rezeption fast unbeachtet, sind in einem solchen Kontext die Soldaten, die ihr Handeln in einen konkreten Bezug zu seiner späteren Beurteilung stellen konnten und aus diesem Grund heraus Widerstand in verschiedener Qualität leisteten. Denn neben der Alltäglichkeit der Gewalt dokumentiert das Buch auch Äußerungen der Kritik oder gar Empörung in bisher kaum für möglich gehaltener Breite. Es wäre zu wünschen, dass dieser Bereich in Zukunft noch ausführlicher gewürdigt wird, denn man kann hier eine Ungleichverteilung und damit zugleich auch eine Schwäche erkennen: Bisher hat man der Gewalt, dem Grauen und der Lust daran sehr breiten Raum eingeräumt, während Formen des Widerstandes, der Empörung und der Kritik wenig analysiert worden sind. Überhaupt liegt hier ein – wenn auch kleiner – Mangel des Bandes: Oftmals macht die Zusammenstellung des Materials, die sinnvoll nach verschiedenen Thematiken gegliedert ist, den Eindruck, als ob sich die Autoren nicht ganz zwischen einer umfangreichen Präsentation des Materials und einer kritischen Würdigung desselben entscheiden konnten und so tauchen viele Zitate aus den Abhörprotokollen nur als Beleg auf, ohne dass sie hinlänglich interpretiert werden.

Insgesamt schwächt dieser Umstand aber den positiven und gewinnbringenden Eindruck des Buches nicht ab. Sönke Neitzel und Harald Welzer ist hier eine fundierte Studie mit neuen Erkenntnissen und Schlussfolgerungen gelungen. Umso erfreulich ist, dass für den Herbst 2011 eine weitere Publikation aus diesem Forschungsbereich angekündigt ist.5

Anmerkungen:
1 Sönke Neitzel, Abgehört. Deutsche Generäle in britischer Kriegsgefangenschaft 1942-1943, 3. Aufl., Berlin 2007 (1. Aufl. 2005).
2 Harald Welzer, Täter. Wie aus ganz normalen Menschen Massenmörder werden, 4. Aufl., Frankfurt am Main 2006 (1. Aufl. 2005); vgl. die Rezension von Tobias Bütow. In: H-Soz-u-Kult, 28.02.2006, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2006-1-135> (14.07.2011).
3 Das Phänomen ist ausführlich dokumentiert in den weiteren Publikationen von Harald Welzer: Klimakriege. Wofür im 21. Jahrhundert getötet wird, Frankfurt am Main 2008; Ders./ Claus Leggewie, Das Ende der Welt, wie wir sie kannten, Frankfurt am Main 2009.
4 Helen Fein, Genozid als Staatsverbrechen. Beispiele aus Rwanda und Bosnien. In: Zeitschrift für Genozidforschung 1 (1999) 1, S. 36-45, S. 42.
5 Harald Welzer / Sönke Neitzel / Christian Gudehus (Hrsg.): „Der Führer war wieder viel zu human, viel zu gefühlvoll“. Der Zweite Weltkrieg aus der Sicht deutscher und italienischer Soldaten, Frankfurt am Main 2011.

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