P. Gassert u.a. (Hrsg.): Zweiter Kalter Krieg und Friedensbewegung

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Titel
Zweiter Kalter Krieg und Friedensbewegung. Der NATO-Doppelbeschluss in deutsch-deutscher und internationaler Perspektive


Herausgeber
Gassert, Philipp; Geiger, Tim; Wentker, Hermann
Reihe
Schriftenreihe der Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte
Erschienen
München 2011: Oldenbourg Verlag
Anzahl Seiten
410 S.
Preis
€ 59,80
Rezensiert für den Arbeitskreis Historische Friedens- und Konfliktforschung bei H-Soz-Kult von:
Jost Dülffer, Historisches Institut, Universität zu Köln

Die Jahre vor und nach 1980 stellen Höhepunkte der Auseinandersetzungen zwischen Ost und West dar. Was man als den Dritten Kalten Krieg (nach 1948/52 und 1958/62) bezeichnen kann, wird hier als Zweiter Kalter Krieg vorgestellt, der durch die „Furcht vor einer neuerlichen Kriegskatastrophe“ gekennzeichnet war (S. 9). Die Herausgeber sehen derzeit vier historiographische Deutungsmuster vorherrschen: 1. sei es um die Aufrechterhaltung der freiheitlichen Ordnung gegenüber sowjetischen Bedrohungen gegangen („sicherheitspolitischer Konsens“). 2. Ein „entspannungspolitischer Revisionismus“ schließe sich den Gegnern des NATO-Doppelbeschlusses an (sowjetische Raketen wegverhandeln, aber keine eigenen Lenkwaffen aufstellen). Sie erkenne eine Kontinuität von den Friedensbewegungen zum Umdenken in der sowjetischen Führung. 3. gebe es eine „postrevisionistische gesellschaftsgeschichtliche Synthese“ als „quasi exemplarisches Beispiel (sic!)“, welches die Tiefe der innergesellschaftlichen Kräfte erklären könne. 4. habe mit dem Doppelbeschluss ein innerer Selbstverständigungsprozess stattgefunden, der von außen angestoßen worden sei („jüngerer internationalistischer Ansatz“). Diesem letzten Interpretament hängt vor allem Philipp Gassert an, der in seinem Beitrag zur bundesrepublikanischen Szene den Doppelbeschluss „als Katalysator gesellschaftlicher Selbstverständigung“ sehen will. Das ist eine recht interessante These, die der Vertiefung bedarf – aber bereits die beiden Mitherausgeber scheinen sich gerade davon distanzieren zu wollen.

Ganz im Vordergrund des Bandes stehen die beiden erstgenannten Ansätze. Hier muss es als problematisch angesehen werden, dass die beiden ersten Beiträge die damalige Perzeption kommunistischer Bedrohung mehr oder weniger aus den Akten als historiographischen Befund reproduzieren. Michael Ploetz stützt sich vor allem auf die deutschen Akten (er ist einer der Bearbeiter der aktuellen Aktenedition), kritisiert die amerikanische Schwäche in den ersten Jahren Carters und kommt zu dem Schluss, es sei der Sowjetunion vor dem Doppelbeschluss „um nichts Geringeres als eine Revolution der diplomatischen Beziehungen gegangen“ (S. 47), natürlich zu ihren Gunsten. Doch dieser Schuss sei in den 1980er-Jahren nach hinten losgegangen. Gerhard Wettig kommt aufgrund sowjetischer Akten zu einem ähnlichen Ergebnis, sieht vor allem ein sowjetisches Schüren der Kriegsangst im Westen. Als dies misslungen sei, sei das Interesse des Kremls erlahmt. Nur anderswo im Band erfährt man etwas von den Sorgen über sowjetische Schwächen, die zum Beispiel in der Polenkrise 1981/82 eine Intervention nicht mehr zuließen (Rödder, S. 129). So stark und offensiv war die Sowjetunion vielleicht doch nicht.

Wesentlich nüchterner gehen Klaus Schwabe und Tim Geiger an ihre Beiträge. Schwabe legt für die USA den rasanten Wandel von Ronald Reagan von 1981 bis 1987 dar, während Tim Geiger (auch er einer der Bearbeiter der bundesdeutschen Aktenedition) ein gleiches für die Regierung Schmidt-Genscher, also für die Zeit bis 1982, tut: das bietet jeweils eine distanzierte Rekonstruktion aus den Akten, ohne sich explizit damaligen Positionen der NATO-Linie anzuschließen. Andreas Rödder macht ergänzend zu der internationalen Rekonstruktion die politischen Debatten um die „Innenseite der Außenpolitik“ deutlich und hebt – wie auch Geiger – die latenten Differenzen innerhalb der Spitzen der Regierung hervor. Für ihn war die „Perzeption der kommunistischen Gefahr aus Moskau eine hoch ideologisch aufgeladene Angstvorstellung“ in der dortigen Regierung (S. 129). Die DDR hatte es gerade in dieser Situation nicht leicht, wie Hermann Wentker herausarbeitet: unbedingte Loyalität zur Sowjetunion als Staatsraison wurde durch die wirtschaftlichen Krise dortselbst und die wachsende Abhängigkeit von der Bundesrepublik bis zu einem gewissen Grade konterkariert.

Sehr gut ergänzt dies Anja Hanisch mit dem Versuch einer gesamtgesellschaftlichen Erklärung und Einordnung der vielfältigen und zersplitterten unabhängigen Friedensgruppen in der DDR. Letztere werden von Detlef Pollack in einem lesenswerten Aufsatz aufgefächert. Einen vergleichbaren Beitrag wie den Hanischs hätte man sich auch für die Bundesrepublik über Philipp Gasserts eher am politischen System orientierten Beitrag hinaus gewünscht, wäre dann doch deutlicher geworden, wie sehr die gleichfalls sehr heterogenen Gruppen und Parteien Ausdruck eines breiten gesellschaftlichen Diskurses waren.1 Stattdessen stehen in sich differenzierte Beiträge, die sich sektoral mit dem Anteil oder Ansatz von Teilen der Friedensbewegung beschäftigen. So prüft Helge Heidemeyer die westdeutsche Friedensbewegung etwa unter dem Stichwort „Einfluss der DDR“ und findet diesen beträchtlich, wie auch Saskia Richter gekonnt und distanziert den Anteil der Friedensbewegung an der Entstehung der Grünen bearbeitet: die Anfänge fanden ohne die Friedensbewegung statt, dann allerdings wurde die Nachrüstungsdebatte ganz zentral für den Aufschwung. Ähnliches unternehmen Friedhelm Boll und Jan Hansen für die SPD, in der sie fünf unterschiedliche Haltungen zum Doppelbeschluss ausmachen und Personen zuordnen.

Der Band legt durchaus sinnvoll einen klaren Schwerpunkt auf die beiden deutschen Staaten. Aber nicht nur die Supermächte kommen in den ersten Beiträgen vor, sondern der internationale Aspekt setzt sich selektiv und methodisch je ganz anders gearbeitet in den letzten Beiträgen fort. Wilfried Mausbach etwa gibt einen ausgezeichneten Überblick über die amerikanische Freeze-Bewegung, die sich nur bedingt am Doppelbeschluss festmachte, erörtert aber dabei auch einleuchtend die Zusammenhänge zwischen den europäischen Bewegungen und den USA. Das hätte man sich gerade bei derartigen transnationalen sozialen Bewegungen durchaus vertieft in weiteren Beiträgen vorstellen können. Forschungsliteratur in diesem Sinne gibt es ja bereits. Stattdessen finden sich ganz unterschiedlich gearbeitete Länderbeiträge zu Großbritannien, den Niederlanden, Italien und Frankreich. Besonders interessant ist der von Beatrice Heuser und Kristan Stoddert zu Großbritannien, vermögen sie doch im Rahmen der Erörterung der britischen nationalen und NATO-Strategie (sowie am Rande auch der Friedensbewegungen) deutlich zu machen, wie auch im Westen eine Modernisierung und Auffächerung der nuklearen Arsenale in den 1970er-Jahren anstand, die – für manche schon damals unglücklich – im Doppelbeschluss an die neuen sowjetischen Raketen gekoppelt wurde. Souverän umreißt Leopoldo Nuti die gesamtgesellschaftliche Diskussion in Italien; Coreline Boot und Beatrice de Graaf diskutieren die – scheinbare – niederländische Unzuverlässigkeit im transatlantischen Rahmen, während Georges-Henri Soutou anhand neuer Quellen auf höchster Ebene die französische Ambivalenz gegenüber dem Doppelbeschluss darlegt, die doch wesentlich von der deutschen Frage geprägt war.

Eine Bilanz des recht heterogenen Bandes fällt nicht leicht. In sich schlüssige und aus den neu zugänglichen Quellen gearbeitete Studien stehen neben kämpferischen Einlassungen, welche recht stark der zeitgenössischen Sicht auf die sowjetische Bedrohung verhaftet sind. Die Zusammenschau gemäß den vier Deutungsmustern der Herausgeber wird so nicht eigentlich geleistet. Es bleibt bei der Addition unterschiedlicher, zum Teil recht konträrer Positionen. Das ist zum einen für den Gang der Forschung üblich; aber aus der dem Band zugrundeliegenden Tagung – der Rezensent war dabei - hätte doch in den Kapiteln des Sammelbandes ein wenig mehr unaufgeregter Konsens oder zumindest Verständnis für die anderen Ansätze erzielt werden können. Manches ist, entgegen den Absichten der Herausgeber, noch zu sehr den damaligen Fronten des Kalten Krieges geschuldet und bedarf noch der weiteren Historisierung.

Anmerkung:
1 Dazu jüngst: Holger Nehring / Benjamin Ziemann, Führen alle Wege nach Moskau? Der NATO-Doppelbeschluss und die Friedensbewegung. Eine Kritik. In: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 49,1 (2011), S. 81-100.

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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit dem Arbeitskreis Historische Friedens- und Konfliktforschung. (Redaktionelle Betreuung: Jan Hansen, Alexander Korb und Christoph Laucht) http://www.akhf.de/
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