F. Boll u.a. (Hrsg.): „Nie mehr eine Politik über Polen hinweg“

Cover
Titel
„Nie mehr eine Politik über Polen hinweg“. Willy Brandt und Polen


Herausgeber
Boll, Friedhelm; Ruchniewicz, Krzysztof
Reihe
Willy-Brandt-Studien 4
Erschienen
Anzahl Seiten
336 S.
Preis
€ 32,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Florian Peters, Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam / Institut für Geschichtswissenschaften, Humboldt-Universität zu Berlin

Bei den polnischen Teilnehmern einer jüngst in 18 europäischen Ländern durchgeführten Online-Umfrage des Goethe-Instituts landete Willy Brandt gleich hinter Goethe und Einstein auf dem dritten Platz der Liste der bedeutendsten Deutschen.1 Dass Brandt damit in Polen weitaus häufiger genannt wurde als in anderen europäischen Ländern, ist auf den ersten Blick wenig überraschend. Schließlich verbindet sich sein Name mit für Polen symbolisch so bedeutsamen Gesten wie der Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze und dem Kniefall vor dem Warschauer Ghettodenkmal.

Aus der folgerichtigen Idee, der wechselseitigen Beziehung zwischen „Willy Brandt und Polen“ eine Tagung in Warschau zu widmen2, sind die Beiträge des vorliegenden, im Auftrag der Bundeskanzler-Willy-Brandt-Stiftung herausgegebenen Sammelbandes hervorgegangen. Als Leitmotiv des Bandes lässt sich die von Friedhelm Boll in seiner lesenswerten Einleitung formulierte These verstehen, Polen habe die „moralische Mitte“ von Brandts Neuer Ostpolitik gebildet (S. 10).

Bei der Lektüre der analytischen Beiträge stellt sich freilich heraus, dass diese wenig dazu beitragen, die genannte These empirisch zu unterfüttern. Denn die Aufsätze von Gottfried Niedhart, Wanda Jarząbek, Krzysztof Ruchniewicz, Katarzyna Stokłosa, Burkhard Olschowsky und Andreas Grau beschränken sich über weite Strecken auf politikgeschichtliche Untersuchungen zur Neuen Ostpolitik unter besonderer Berücksichtigung des Warschauer Vertrags. Sie beleuchten auf empirisch dichter Grundlage diplomatische und politische Aspekte der Neuen Ostpolitik aus den Perspektiven verschiedener außenpolitischer Akteure, wobei gewisse Überschneidungen kaum zu vermeiden sind.3 Der von Boll postulierte moralische Sonderstatus des Warschauer Vertrags allerdings bleibt tendenziell hinter welt- und deutschlandpolitischen Kulissen verborgen.

Immerhin wird die Ebene der Vertragsverhandlungen und Staatsbankette durch den Aufsatz von Dominik Pick, dem Boll eine „Schlüsselstellung“ innerhalb des Bandes beimisst (S. 22), in gesellschaftsgeschichtlicher Richtung verlassen. Auf der Grundlage seiner bislang noch unveröffentlichten Dissertation nimmt Pick den gesellschaftlichen Austausch zwischen der Bundesrepublik und Polen in den 1970er-Jahren in den Blick, der in dieser Form durch den Warschauer Vertrag erst möglich wurde. Trotz des hinhaltenden Widerstands der polnischen Behörden entwickelte sich die Bundesrepublik in diesem Jahrzehnt zum wichtigsten westlichen Partner Polens, was neben der finanziellen Förderung durch die Bundesregierung in wesentlichen Teilen auf „eigen-sinnige“ Initiativen von unten zurückzuführen war – wie Städtepartnerschaften und wissenschaftliche Kontakte. Inwieweit der Befund stark intensivierter Kontakte für sich genommen jedoch bereits einen substanziellen „Wandel durch Annäherung“ belegen kann, lässt Pick offen.

Untersuchungen zur Rolle Polens im politischen Denken Willy Brandts oder zur diskursiven und performativen Ebene seiner Polenpolitik als Außenminister und Bundeskanzler, wie sie sich beispielsweise an den vom Verlag als Titelbild gewählten Kniefall anknüpfen ließen4, sucht man leider vergeblich. Aufschlussreich ist dagegen, dass derartige Fragen in der am Ende des Bandes wiedergegebenen Abschlussdiskussion der Konferenz anders als im wissenschaftlichen Teil großen Raum einnehmen. Robert Leicht konstatiert hier sogar in aller Deutlichkeit: „Ich glaube, die historische Bedeutung Brandts liegt jenseits des Operativen. […] Der Kniefall ist das religiöse Gegenstück zu den drei Teilungen Polens, und zwar im Verhältnis der Deutschen zu sich selber.“ (S. 311)

Um die offenkundige Lücke zwischen den in Einleitung und Abschlussdiskussion aufgeworfenen Thesen und den historiographischen Belegen zu schließen, hätte ein kulturgeschichtlich erweiterter Zugriff dem Sammelband unbedingt gut getan. Dass dies gerade bei einer historischen Figur wie Willy Brandt, der über ganz außergewöhnliches symbolisches Kapital verfügte und dieses für die Politik nutzbar zu machen verstand, eigentlich auf der Hand liegt, illustriert ein kurzer Rückgriff auf Pierre Bourdieu am Ende des Aufsatzes von Bernd Rother (S. 261ff.).

Auch Fragen nach der Wahrnehmung Brandts durch die polnische Gesellschaft bleiben in dem vorliegenden Band weitgehend unbeantwortet. Einen Grund für diese Leerstelle spricht Mitherausgeber Krzysztof Ruchniewicz in seinem Beitrag eher nebenbei an: Wegen der manipulativen Berichterstattung der offiziellen polnischen Medien über den Warschau-Besuch Brandts im Dezember 1970 fand der im Westen so breit (und in der Bundesrepublik so kontrovers) rezipierte Kniefall in der polnischen Gesellschaft nur relativ geringe Resonanz. Dass dem Friedensnobelpreisträger Brandt aber dennoch auch in der polnischen Öffentlichkeit eine beachtliche symbolische Anerkennung zuteilwurde, wird ex negativo aus dem Beitrag von Bernd Rother deutlich.

Dieser beschäftigt sich in einer deutlich erweiterten Version eines bereits 2009 veröffentlichten Aufsatzes5 ausführlich mit dem Verhältnis Willy Brandts zur polnischen Oppositionsbewegung in den 1980er-Jahren und dabei insbesondere mit der heftigen Kritik im Zusammenhang mit seinem Warschau-Besuch im Dezember 1985. Damals folgte Brandt einer Einladung des Solidarność-Führers und Friedensnobelpreisträgers Lech Wałęsa zu einem Treffen in Danzig nicht. Darüber hinaus äußerte er sich in unglücklicher Form über die „Destabilisierung Polens“, was als Unterstützung der Politik Wojciech Jaruzelskis interpretiert werden musste. Rother zeigt auf Grundlage der Akten aus Brandts Büro, dass diese Missverständnisse keineswegs aus heiterem Himmel kamen, sondern grundsätzlicher Natur waren. Sein Urteil, dass das „Kernproblem der Beziehungen zwischen der SPD und der polnischen Opposition in den 1980er Jahren […] die Asymmetrie der Gesprächswünsche“ gewesen sei (S. 250), nimmt sich noch schmeichelhaft aus: Wie das von ihm ausgebreitete Quellenmaterial belegt, war Brandts Haltung zur Solidarność sehr lange von Desinteresse und kultureller Abneigung geprägt.6 Ob sich diese historische Fehleinschätzung Willy Brandts als „Ausrutscher“ abtun lässt, wie Rother es vorschlägt (S. 263), erscheint mindestens diskussionsbedürftig.

Zu vermuten und näher zu prüfen wäre vielmehr, dass die Rolle Polens für Brandts Ostpolitik und sein Verständnis für die spezifischen polnischen Verhältnisse insgesamt geringer gewesen sein mögen, als dies das Konzept des Bandes glauben machen will. Es ist ironischerweise das auch hier gern verwendete Attribut des „Staatsmanns“, das Brandts Sichtweise auf deutsch-polnische Probleme in überraschender Klarheit auf den Punkt bringt: Gerade die Vernachlässigung der gesellschaftlichen Ebene der Beziehungen zugunsten eines staatszentrierten Verständnisses von Außenpolitik ließen Willy Brandt im Verhältnis zu Polen an seine Grenzen stoßen. Somit ist, den heutigen positiven Umfragewerten zum Trotz, für die Zeit bis 1989 die Einschätzung Egon Bahrs noch nicht restlos ausgeräumt, „daß Polen für Brandt und, nach meinem Empfinden, wohl von beiden Seiten, eine unerwiderte Neigung geblieben ist“.7

Anmerkungen:
1 Vgl. die Ergebnisse der Umfrage unter <http://www.goethe.de/ins/be/prj/dli/deindex.htm> (19.06.2011).
2 Die Tagung fand am 27. und 28. Juni 2007 in Warschau statt und wurde vom dortigen Büro der Friedrich-Ebert-Stiftung, der Bundeskanzler-Willy-Brandt-Stiftung, dem Willy-Brandt-Zentrum für Deutschland- und Europastudien der Universität Breslau sowie dem Historischen Institut der Universität Warschau veranstaltet.
3 In Details finden sich hier auch kleinere Inkonsistenzen: So verlegt Ruchniewicz das informelle Wiener Treffen Egon Bahrs mit dem polnischen Botschaftsrat Jerzy Raczkowski in den Dezember 1967 (S. 104f.), während Niedhart es in Anknüpfung an Hansjakob Stehle auf Januar 1968 datiert (S. 48).
4 Vgl. Christoph Schneider, Der Warschauer Kniefall. Ritual, Ereignis und Erzählung, Konstanz 2006; Michael Wolffsohn / Thomas Brechenmacher, Denkmalsturz? Brandts Kniefall, München 2005; dazu Friedrich Kießling: Sammelrezension Willy Brandts Kniefall, in: H-Soz-u-Kult, 25.09.2006, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2006-3-217> (19.06.2011).
5 Vgl. Bernd Rother, Willy Brandts Besuch in Warschau im Dezember 1985, in: Friedhelm Boll / Wiesław Wysocki / Klaus Ziemer (Hrsg.), Versöhnung und Politik. Polnisch-deutsche Versöhnungsinitiativen der 1960er Jahre und die Entspannungspolitik, Bonn 2009, S. 329-348. Siehe dazu Daniel Gerster: Rezension zu: Boll, Friedrich; Wysocki, Wieslaw; Ziemer, Klaus (Hrsg.): Versöhnung und Politik. Polnisch-deutsche Versöhnungsinitiativen der 1960er-Jahre und die Entspannungspolitik. Bonn 2009, in: H-Soz-u-Kult, 18.02.2010, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2010-1-126> (19.06.2011).
6 Noch genauer zu beleuchten wäre hingegen Brandts Wahrnehmung kultureller Nähe zu führenden polnischen Reformkommunisten: Während Rother kurz auf Brandts „Hochachtung“ für General Jaruzelski eingeht (S. 257), weist Boll darauf hin, Brandt habe insbesondere in Mieczysław Rakowski, dem langjährigen Chefredakteur der liberalen Wochenzeitung „Polityka“ und Vizepremier Polens 1981–1985, einen „geistesverwandten Sozialdemokraten“ erkennen wollen (S. 25f.).
7 Egon Bahr, Zu meiner Zeit, München 1996, S. 344.

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