C. Markschies u.a. (Hrsg.): Erinnerungsorte des Christentums

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Titel
Erinnerungsorte des Christentums.


Herausgeber
Christoph, Markschies; Wolf, Hubert
Erschienen
München 2010: C.H. Beck Verlag
Anzahl Seiten
800 S.
Preis
€ 38,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Matthias Wolfes, Fachbereich Geschichts- und Kulturwissenschaften, Freie Universität Berlin

Erinnern heißt vergegenwärtigen; Erinnerung ist Re-Präsentation. Ein Band mit Texten zu „Erinnerungsorten des Christentums“ stellt daher mit Notwendigkeit ein Unternehmen dar, das auf Vergegenwärtigung des Christentums zielt. Die Herausgeber tun gut daran, diese Intention von vornherein offenzulegen. Sie grenzen das Konzept der „memoria“, das sie bei der Auswahl geleitet hat, denn auch ausdrücklich von den bekannten Projekten Pierre Noras und seiner hiesigen Nachfolger Etienne François und Hagen Schulze ab.1

Die „Erinnerungsorte des Christentums“ folgen insofern einem genuin christlichen Konzept, als dass Christentum selbst Erinnerungsreligion ist. Mit Bezugnahme auf die Worte Jesu beim letzten Abendmahl „Dies tut zu meinem Gedächtnis“ (Luk 22,19), aber auch gestützt auf Jan Assmanns „Das kulturelle Gedächtnis“ (1992) entfalten die Herausgeber den Begriff des Gedächtnisses als theologische Zentralfigur. „Offenbarung“ sei nichts anderes als Deutung konkreter historischer Ereignisse, die zu einem integralen Teil der Heilsgeschichte erklärt werden. Der Erinnerungsakt interpretiert sie als vermitteltes oder direktes Handeln Gottes, dessen Vergegenwärtigung ihren Ort in den kultischen Versammlungen hat, weshalb das Christentum auch eine „Gedächtnisgemeinschaft par excellence“ ist (S. 15).

Aber wird hier nicht von einem Modell ausgegangen, das noch ganz andere Ursprünge hat als das zugrundegelegte Jesuswort? In der Tat betonen die Herausgeber, dass das Christentum mit der Vorstellung „heilsamer Erinnerung“ eine schon für das Judentum fundamentale Tradition fortsetzt. Die Geschichte der christlichen Religion entspringt nicht einem Nullpunkt, sondern sie ist eine fortgeschriebene und fortschreibende Erinnerungsgeschichte. Die allmähliche Trennung vom Judentum vollzieht sich über die Konstituierung eigener Fixpunkte erinnernder Vergegenwärtigung, welche ab einem bestimmten Zeitpunkt nicht mehr nur einen Identitätswandel bewirken, sondern eine tiefgreifend anders verfasste konfessionelle Alternativposition markieren.

Inwiefern sich allerdings nun diese theologischen Vorgaben auch als Entscheidungskriterien für die Bestimmung der Themen auswirken, bleibt leider weitgehend offen. Die Herausgeber berufen sich schlicht auf die „Subjektivität“ einer jeden solchen Situation. Angesichts des insgesamt doch ambitionierten konzeptionellen Vorbaus enttäuscht das. Gerade auch ein persönlich dem Christentum nicht nahestehender Leser – und an ihn richtet der Band sich mit Entschiedenheit – hätte so einfach nicht abgefertigt werden sollen. Ist es denn tatsächlich nicht möglich, zu erklären, aufgrund welcher Faktoren die bisweilen sehr erheblichen Unterschiede in der historischen Gewichtung bestehen, wie sie nun einmal zwischen den diversen Orten, Personen, theologischen Lehrfiguren und Frömmigkeitsausprägungen bestehen?

Dann wäre auch ernst gemacht worden mit der Aussage, dass es im einzelnen Text wie in der Summe der Beiträge um den Prozess der Identitätsstiftung des Christentums geht. Mit Recht ist deshalb auf den „distanzierten Gestus“ hingewiesen worden, den man in den „Erinnerungsorten des Christentums“ vielfach findet.2 Hinzu kommt die zu den programmatischen Überlegungen in deutlicher Spannung stehende Privilegierung einer Erörterungsweise, welche, statt den normativen Gehalt herauszuheben, sich auf die wesentlich einfachere Beschreibung der Ambivalenz der Phänomene zurückzieht. Geradezu leichtfertig ist das Argument, mit dem, wiederum unter dem Stichwort „Subjektivität“, die sehr uneinheitliche Herangehensweise der Autorinnen und Autoren gerechtfertigt wird, stelle dies doch ein „willkommenes Abbild“ der innerchristlichen Pluralität dar.

Der Band ist in drei Teile untergliedert. Zunächst werden sieben „Zentralorte“ der Christenheit dargestellt, wobei neben den Identitätsstätten der großen christlichen Konfessionen Rom, Konstantinopel, Wittenberg und Genf auch der Sinai (als Ort der alttestamentlichen Gottesoffenbarung) sowie die mit dem Wirken Jesu eng verknüpften Stätten Bethlehem und Jerusalem berücksichtigt werden.

Der zweite Teil widmet sich „Realen Orten“. Hier ist, angesichts der unermeßlichen Vielzahl christlicher Residenzen, die Auswahlfrage naturgemäß kaum befriedigend zu lösen. Als Kriterium soll gelten, dass diese Orte neben ihrer rein geographischen Gegebenheit auf andere „christliche Erinnerungspotentiale“ verweisen. Trient etwa steht für das Konzil, zugleich aber für alles, was im christlich geprägten Kollektivgedächtnis für „tridentinisch“ gehalten wird. Entschieden hat man sich unter anderem für Altötting, Assisi, Bethel, Canossa, Dresden, Köln, Leipzig (Bach und die geistliche Musik!), Regensburg und Taizé.

Für den Bereich der religiösen Praxis am bedeutendsten ist der dritte Teil, in dem es um Orte im übertragenen, allerdings nicht einfach metaphorischen Sinne geht. Hier muss sich zeigen, ob die „Erinnerungsorte“ tatsächlich einen substantiellen Begriff von Christentum, christlichem Glauben und vita christiana zu geben vermögen. Ereignisse, Gegenstände, Symbole, Texte, Institutionen, Personen und Gruppen sollen als Signifikanten wesentlicher Aspekte der christlichen Erinnerungsgeschichte stehen. An dieser Stelle wird denn auch eine Beschränkung eingeführt, die den deutschsprachigen und zudem gegenwartsbezogenen Raum privilegiert. Mag dies auch nicht im Einklang mit den vorangehenden Teilen stehen und sich quer zum entworfenen Programm verhalten, so kann die Entscheidung aus pragmatischen Gründen akzeptiert werden. Wichtiger ist, dass die jeweiligen Orte für das Wechselspiel von Kontinuität und Diskontinuität im Prozess der Konfessionalisierung des Christentums stehen. In den Blick geraten auf diese Weise die „Volksfrömmigkeit“, das Verhältnis von Kirche und Staat sowie der Kultus. Behandelt werden unter anderem die Themen Bibel, Caritas und Diakonie, Christliche Politik, Familie, Feste im Kirchenjahr, Gesangbuch, „Himmel – Hölle – Fegefeuer“ (und zwar zweifach, wie auch das Thema „Medien“), Humanae Vitae, Inquisition, Katholikentage und Kirchentage, Kreuz, Maria, Nationalsozialismus und Kirchen, Pfarrhaus, Vereine.

Insgesamt ist die Qualität der Aufsätze auffällig unterschiedlich. Besonders anregend sind die Darlegungen dort, wo am konkreten Ort – beispielsweise der „Schule“ – gezeigt wird, wie stark die christliche memoria nach wie vor in säkularisierten Formen präsent ist. Bei anderen Beiträgen dürfte es von Vorteil sein, wenn der Leser heiteren Gemüts ist und es ihm Freude bereitet, sich auf eigenwillige Diktionen einzulassen. Die wenigen Beiträge, die das Niveau dann doch deutlich unterbieten, fallen nicht ins Gewicht.

Am Ende allerdings weiß man nicht recht, welches literarische und intellektuelle Format der Band eigentlich anstrebt, allenfalls, dass es das wissenschaftliche nicht sein soll. Nimmt man vergleichend noch einmal die Bände von François und Schulze zur Hand, so wird der Vorteil eines sachlich anspruchsvollen und methodisch verbindlichen Konzeptes sofort deutlich.

Erwähnt sei schließlich auch, dass der für die historischen und aktuellen Erscheinungsformen des Christentums so wesentliche Komplex der sakramentalen Glaubensinszenierung in den dafür in Frage kommenden Texten stark im Hintergrund bleibt und als eigenständiges Thema gar nicht erscheint. Das mag mit dem Bemühen zusammenhängen, den konfessionsübergreifenden Charakter des Bandes nicht zu gefährden.3 Aus dem gleichen Grund dürften weitere Stichworte mit großem Konfliktpotential – etwa „Heilig – Profan“, Opfer und Amt – fehlen. Das ist nachvollziehbar. Auf der anderen Seite sind Abendmahl bzw. Eucharistie der christliche Erinnerungsort schlechthin. So hätte die „ökumenische Kirchengeschichte“, die die Herausgeber mit ihrem Band befördert zu haben hoffen (S. 727), auf diesem sensiblen Feld durchaus etwas mehr theologische Profilierung gebrauchen können.

Anmerkungen:
1 Pierre Nora (Hrsg.), Les lieux de mémoire, Bde. 1-3,3, Paris 1984-1994; Étienne Francois / Hagen Schulze (Hrsg.), Deutsche Erinnerungsorte, Bde. 1-3, München 2001. Vgl. Pierre Nora, Le modèle des „Lieux de mémoire“, in: Étienne François (Hrsg.), Lieux de mémoire. D’un modèle français à un projet allemand, Berlin 1996, S. 13-17.
2 Vgl. die Rezension von Reinhard Bingener, in: Sehepunkte. Ausgabe 10 (2010). Nr. 12 <http://www.sehepunkte.de/2010/12/18716.html> (07.07.2011).
3 In diesem Sinne werden wohl die ausführlichen Bemerkungen der Herausgeber zur Sakramentalität der christlichen Glaubenspraxis zu verstehen sein (siehe S. 20-25).

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