Fansa, Mamoun; Hoffmann, Detlef (Hrsg.): Lawrence von Arabien. . Mainz 2010 : Philipp von Zabern Verlag, ISBN 978-3805342438 350 S. € 34,90

: Lawrence von Arabien: Ein Mann und seine Zeit. . München 2010 : C.H. Beck Verlag, ISBN 978-3406606274 224 Seiten € 19,95

Rezensiert für H-Soz-Kult von
Bernd Lemke, Militärgeschichtliches Forschungsamt, Potsdam

Und der Mythos lebt ewig fort, könnte man meinen. Und in guter postmoderner Manier hinzufügen, nicht nur befeuert durch die historische Gestalt Lawrence und seine Verklärung über Epochengrenzen hinweg, sondern auch durch die heutige Forschung, die ja nur ein weiteres Narrativ in die Welt setzt.

Dem widersprechen zwei Gründe. Erstens zählt der Rezensent nicht gerade zu den Exponenten postmoderner Betrachtungsweise, zweitens wird man mit derlei Äußerungen dem wissenschaftlichen Gehalt des zunächst zu besprechenden Ausstellungsbandes nicht gerecht.

Der Sammelband ist das Ergebnis einer Konferenz, die am 8./9. Oktober 2009 anlässlich der Ausstellung „Lawrence von Arabien – Geschichte eines Mythos“ im Landesmuseum Natur und Mensch in Oldenburg stattfand.1 Zahlreiche Forscher und Experten aus den unterschiedlichsten wissenschaftlichen Disziplinen versammelten sich, um die historische Figur Lawrence und deren Rezeption unter die Lupe zu nehmen. Herausgekommen ist ein facettenreicher Band, eine Mischung aus wissenschaftlicher Publikation und Ausstellungskatalog.

Verschiedenste Ansätze und Methoden werden präsentiert und angewandt, um sich Lawrence zu nähern. Der Band ufert dabei nicht aus, gerät auch nicht zum Sammelsurium, sondern hat ein bei allen vielfältigen Nuancen klares Gesamtziel: Die Präsentation der „Entwicklung der Beziehungen zwischen Europa und dem Orient in der jüngeren Geschichte“ (Mamoun Fansa, S. 15). Ferner soll über die heutigen politischen Verhältnisse im Nahen Osten aufgeklärt werden.

Dieser klaren, verdienstvollen Ansage werden die einzelnen, qualitativ teils sehr unterschiedlichen Beiträge in vielgestaltiger Weise gerecht. Der Leser gewinnt so eine unglaubliche Fülle an Informationen, Denkanstößen und methodischen Ansätzen. Im Folgenden ist es daher unmöglich, alle Beiträge in angemessener Form zu würdigen. Deswegen sollen Schwerpunkte gesetzt werden.

Den Auftakt macht die biografische Skizze von Jeremy Wilson, einem der profiliertesten Lawrence-Kenner, die insbesondere sozialgeschichtlich sehr interessante und faktenreiche Hintergründe bietet, hier unter anderem die Tatsache, dass Lawrence ein uneheliches Kind war. Leider zeigt sich der Autor überaus theoriefeindlich, wohl auch der methodischen Reflexion abhold, daher besteht die Gefahr einer monokausalen bzw. verkürzenden Analyse. Anregend und reizvoll ist indes die Anregung zu weiterem Nachdenken. So wäre etwa zu fragen: War der soziale Hintergrund dafür verantwortlich, dass sich Lawrence gerade im Orient, dem Tummelplatz so vieler Individualisten, betätigte? Oder ist der Weltkrieg mit seinen auch mentalitätsgeschichtlichen Umwälzungen in Verbindung mit modernen Massenmedien und Präsentationsformen die entscheidende historische Plattform für den kometenhaften Aufstieg eines Lawrence im öffentlichen Bewusstsein? Wilsons abschließende Bemerkungen zu Lawrences‘ Haltung zu den Arabern, insbesondere ihren Einheitsbestrebungen stellen dann den Auftakt zur weiteren Diskussion dieser Thematik im Band dar. Lawrence trat zwar dem offenen Imperialismus eines Arnold Wilson entgegen, betrachtete aber die Araber als bei weitem nicht fähig, Einheit und Selbstgestaltung in Eigenregie zu realisieren. Sie benötigten unbedingt die Hilfe bzw. Anlehnung an eine europäische Macht (dies war im Übrigen auch die Ansicht deutscher Orientexperten wie zum Beispiel Werner-Otto von Hentig), im übrigen hätten sie noch von ihren Fehlern zu lernen wie Kleinkinder.

Der Beitrag von Stephen E. Tabachnick ordnet Lawrence in die Strukturen und Strategien der britischen Kriegführung im Nahen Osten ab 1914 ein, beleuchtet seine Tätigkeit etwa als Geheimagent und Mitglied des Arab Bureau, einer zentralen Stelle des britischen Geheimdienstes in Kairo, und seine Beziehungen etwa zu dem berühmt-berüchtigen Agenten Richard Meinertzhagen, betont seine überaus wichtige Rolle bei der Entwicklung der Aufstandstaktiken und die unerlässliche Einwirkung auf die Araber im Sinne einer möglichst effizienten Kriegführung. Auch hier erhält der Leser zahlreiche, wichtige Fakten. Deutlich wird auch Lawrences‘ Stellung als Wanderer und Vermittler zwischen den Welten. Indes wird man über Tabachnicks abschließendes Urteil, Lawrence sei ein großer Lehrmeister, auch für heutige Fragen, streiten können. Einerseits ist die direkte, diachrone Übertragung historischer Phänomene und Personen im Gegensatz zu synchronen Vergleichen eher problematisch, andererseits hat der Historiker berechtigte Zweifel an allzu einfachen Lehren aus der Geschichte („lessons learned“).

Den Einstieg in die Genese des Mythos‘ Lawrence bietet Detlef Hoffmann. Nach einer kurzen Reflexion über das Wesen des Mythos‘ allgemein und sehr anregenden, gleichzeitig für die Einordnung Lawrences‘ auch unerlässlichen Hinweisen auf andere historische Beispiele, wie Rommel, geht Hoffmann auf den ‚Ur-Schöpfer‘ der Verklärung von Lawrence ein: Lowell Thomas. Dieser hatte sich zum Ziel gesetzt, eine herausragende Gestalt für das Massenpublikum empathisch aufzubereiten. Da der mechanisch-brutale Grabenkrieg an der Westfront für derlei Vorhaben als ungeeignet erschien, konzentrierte Lowell sich auf Lawrence, reiste auch in den Orient und machte entsprechende Aufnahmen. Diese wurden nach dem Ersten Weltkrieg dann in speziellen Shows mit entsprechendem Rahmenprogramm öffentlich aufgeführt und zeitigten erhebliche Erfolge. Die Show hatte keineswegs einen wissenschaftlichen Zweck, sondern sollte entsprechend dem von Lowell postulierten Geschmack des Publikums entsprechende Themen und Gefühle bedienen. Dabei instrumentalisierte er auch einige, in der breiten Masse bekannte mythische Gestalten, hier vor allem Achill, Siegfried und El Cid.

Die ganze Thematik ist Alles in Allem auch wissenschaftlich ein sehr lohnendes Gebiet. Die Verweise auf die Herrschaftstypologie Max Webers hätte sich der Autor indes schenken können, da sie methodisch und methodologisch in die Irre gehen. Wie manch andere Beiträge im Band zeugt dieser Aufsatz nicht gerade vom tieferen Verstehen der Ansätze Webers. Ohne hier im Detail auf die teils eher problematische Weber-Rezeption in der Forschung (hier auch Ian Kershaw auf S. 9 seiner Hitlerbiographie2) eingehen zu können, sei in Bezug auf das zu besprechende Werk doch darauf hingewiesen, dass es grundfalsch ist, Lawrence aus diesem Blickwinkel betrachten zu wollen. Lawrence war zwar ‚charismatisch‘, aber nie Herrscher und kann daher in keiner Weise auch nur annähernd mit Hitler in Verbindung gebracht werden – gerade auch nicht in methodisch-methodologischer Hinsicht, abseits von direkter historischer Parallelisierung (welche Tabachnick auch keineswegs intendiert).

Einen nicht nur instruktiven, sondern auch unerläßlichen Beitrag liefert die Ethnologin Annegret Nippa, die die sozialen Strukturen, das Bewusstsein und die Mentalität der Beduinen unter die Lupe nimmt und dabei deutlich macht, wie groß die Leistung Lawrences‘ als Wanderer zwischen den Welten eigentlich war. Gleichzeitig zeigt die Autorin auch auf, wie weit die Stämme von den politischen Debatten und Kämpfen der arabischen Nationalisten in den Städten ab 1918 auch geistig entfernt waren und liefert damit indirekt auch eine Antwort auf die Frage, warum es so schwierig bzw. unmöglich war, sie in ein nach westlichen Standards aufgebautes Staatswesen, das im Rahmen der Mandatsherrschaft geschaffen wurde, zu integrieren. Ihr Ethos, das sehr stark von persönlicher Ehre, aber auch „Gleichheit“ und „Unabhängigkeit“ geprägt war, war überdies einer Mobilisierung im Rahmen einer modernen europäischen Armee mit ihren rationalen Strukturen, Unterstellungsverhältnissen, überhaupt dem bürokratischen Prinzip von Befehl und Gehorsam nicht gerade förderlich. Kann der Aufsatz daher nur begrüßt werden, dies nicht zuletzt als indirekter Aufruf an den Historiker, sich viel stärker als bisher der Perspektive der orientalischen Bevölkerung anzunähern, so wird man der Schlussthese nicht unbedingt zustimmen können. Die „Sieben Säulen“ als „persönliche Geschichte im Stil beduinischen Denkens“ zu interpretieren, geht vielleicht doch etwas zu weit. Wenn auch gerade der Westen noch viel stärker lernen muss, die arabischen Gesellschaften zu verstehen, so besteht andererseits auch die Gefahr einer vorschnellen Annäherung, etwa in dem Sinne, dass man – gestützt auf Lawrences Wirken – Kongruenzen sieht, die vielleicht gar nicht vorhanden sind. Gerade die Historiografie muss hier noch Grundlagenarbeit leisten, so zum Beispiel die Erforschung des deutschen Orientbildes im Gefolge des Ersten Weltkrieges. Erste Ergebnisse deuten darauf hin, dass gerade deutsche Journalisten und Gelehrte Lawrence trotz der fortgesetzten Feindschaft gegenüber den Briten geradezu als Vorbild, fast schon als Idol betrachteten.

Im Sinne der Komparatistik sehr verdienstvoll, indes vom Titel her („Helden ohne Mythos“) wohl nicht ganz korrekt, bietet Christina Wawrzinek einen Überblick über andere Orientreisende (Max von Oppenheim, Alois Musil, Gertrude Bell, Wilhelm Waßmuß). Deren Geschichte war sicher keineswegs so bekannt wie die von Lawrence, indes besaßen auch sie ihren Mythos, wenn dieser vielleicht auch infolge der Entwicklung bis 1945 verschüttet wurde (für Gertrud Bell stimmt auch dies nicht). Gerade die deutschen Orientfahrer hatten ihren eigenen Mythos und arbeiteten auch daran. Selbst Vertreter des Auswärtigen Amtes, hier vor allem Werner-Otto von Hentig, bauten an ihrer eigenen Legende. Der Wert des Beitrages besteht daher nicht allein im mentalitätsgeschichtlichen Bereich, sondern in der Anregung, die ‚primäre‘ politische, historische und vor allem auch militärgeschichtliche Perspektive am Beispiel dieser Gestalten zu vergleichen.

Der Band schlägt anschließend einen reichen Bogen unterschiedlicher Perspektiven mit vielen lesenswerten Aspekten. Genannt seien hier die Beiträge über Lawrence als Burgenforscher und Archäologe, sein Verhältnis zur Fotografie. Interessant auch die Ausführungen von Tonia Schüller über die Entstehungsgeschichte des arabischen Aufstandes, hier vor allem auch die Darstellungen der Motive des Scherifen, die keineswegs idealistischer Natur waren, sondern dem eigenen Machtegoismus entsprangen und auch das Wechseln zur Feindseite keineswegs ausschlossen. Nach Martin Rinks Einordnung von Lawrence in die konzeptionelle Debatte um den Partisanenkrieg bietet Peter Thorau eine Auseinandersetzung mit dem historischen Gewicht des Briten, des arabischen Aufstandes sowie dessen Bewertung ex post. (siehe dazu die folgende Rezension seiner Monografie). Die Wirkung Lawrences‘, nicht zuletzt gerade auch bei Aufstandspropheten in Deutschland, zeigt Thomas Kramer im hinteren Teil des Bandes auf. Diese ging sogar so weit, dass einer der Doyens der deutschen Geopolitik zusammen mit einer herausragenden Gestalt des Auswärtigen Amtes, Hentig, im Jahre 1941 eine Doktorarbeit zum Thema Lawrence und Geopolitik betreuten.

Nach weiteren, sehr interessanten Beiträgen über Lawrences’ Verhältnis zu Kunst, Kultur und Technik, hier etwa Detlef Hoffmanns Betrachtung über die „Sieben Säulen“ als Gesamtkunstwerk, in dem der Autor sehr interessante Querverbindungen zu maßgeblichen Kunst- und Kulturströmungen aufzeigt, wie etwa der Vortizisten (damit gleichzeitig einen interessanten Erklärungsansatz über Lawrences Tod auf dem Motorrad bietet), wird im Schlussteil über die Wirkungsgeschichte berichtet. Hier zeigt Mamoun Fansa eindrücklich auf, dass es mit Ruhm und Ehre von Lawrence bei den Arabern nicht zuletzt auch infolge der imperialistischen Vereinnahmung Arabiens durch die Briten und Franzosen (die Lawrence durchaus verhindern wollte) nicht sehr weit her war und ist. Fansa kritisiert die allzu westliche Beschreibung der Ereignisse vom Hejaz bis Damaskus im Ersten Weltkrieg als „Aufstand“ oder „Revolution“, da sie den Intentionen und Interessen der damals beteiligten Araber keineswegs gerecht werde. Dies ist im Hinblick auf weiteren Erkenntnisfortschritt wichtig und unbedingt zu diskutieren. Fansa postuliert, dass die Bedeutung von Lawrence für die Befreiung vom ‚türkischen Joch‘ eigentlich eher gering war. Auch dies wird weiter zu diskutieren sein.

Methodisch interessant ist die Tatsache, dass Fansa sich in starkem Maße auf arabische Literatur stützt. Dem (westlichen) Historiker fällt dabei auf, dass Fansa nicht immer kenntlich macht, wer spricht: der Autor, die ‚Araber‘ oder die arabischen Quellen (Fansa meint mit „Quellen“ wohl eigentlich Fachliteratur). Es scheint, dass das berechtigte und auch unerläßliche Eingehen auf die arabische Perspektive und die Prinzipien kritischer Wissenschaft noch näher und kontrovers in Beziehung gesetzt werden müssen. Auf jeden Fall sollte die Position des jeweiligen Forschers im Hinblick auf das jeweils ‚Andere‘, dies gilt für den Westen wie für den Osten, immer wieder hinterfragt werden, um externe Einflüsse besser bewerten zu können.

Interessant ist auch der Beitrag von Juliette Honvault über Adil Arslan, der zwischen den Welten zwischen Loyalität und Nationalismus wanderte, und damit einen guten Ansatzpunkt für die politische Gemengelage in den Mandatsgebieten bietet. Arslan, der an der Revolte nicht teilnahm, ging nach dem Krieg in den Irak und versuchte vom Lawrence-Mythos zu profitieren, indem er sowohl die ‚arabische‘ Sache vertrat, gleichzeitig aber auch gute Beziehungen zum britischen Herrschaftsapparat, darunter auch zu ausgesprochenen Imperialisten, wie zum Beispiel Arnold Wilson, pflegte. Der Leser erhält damit nicht nur einen Erklärungsansatz über das Geschick der Briten zur Stabilisierung ihres längst überdehnten Empire, sondern auch über die vielfältigen Facetten und auch Widersprüche der arabischen Geschichte, die die Situation bis heute wenn nicht prägen, so doch erklären.

Der Band klingt in recht interessanten Beiträgen über den Lawrence-Mythos auf dem Kontinent (wie bereits erwähnt, Thomas Kramer), dem Kreuzfahrermythos (Ins Grünjes) und den Film über Lawrence von David Lean (Hans Henning Hahn) aus. Neben den für die modernen Massenmedien typischen Phänomenen wie Stereotypisierung, Umdeutung und Trivialisierung erfährt der Leser teils recht interessante Hintergründe, so etwa die Hintergründe und die politische Haltung der Regisseure des Lawrence-Films. Ein ausführlicher Anhang mit Personenbiographien, Bildkatalog und Quellen/Literaturverzeichnis runden das insgesamt sehr gute und auch vom Preis her sehr lohnende Sammelwerk ab. Der Fachhistoriker mag – gerade in methodischer Hinsicht – einige Bedenken und auch Diskussionsbedarf haben. Der Band besitzt indes, gerade auch infolge seiner Themenbreite und der Fülle an Informationen, Einstiegs- und Pioniercharakter. Die deutsche Öffentlichkeit braucht mehr solcher Werke. Erheblich mehr!

Bietet also dieser Band eine meist wohl abgewogene und ausbalancierte Würdigung der Person Lawrence in seiner Zeit und der Rezeption bis heute, gibt es leider auch Beispiele dafür, dass man über Ziele weit hinausschießen kann. Das Buch von Peter Thorau, von dem ein Beitrag in dem oben besprochenen Sammelband enthalten ist, bietet ein solches.

Das ausschließlich auf Sekundärliteratur und publizierte Quellen gestütze Werk liest sich wie eine Kampfschrift. Cum ira et studio wird fast von der ersten bis zur letzten Seite beinahe durchweg Negatives berichtet. Man kann sich nicht des Eindrucks erwehren, dass hier jemand mit einer gewissen Freude und Sammlerleidenschaft alles akribisch zusammengetragen hat, was irgendwie zur Zerstörung des Mythos von Laurence beitragen kann.

Angefangen von den kaum vorhandenen Arabisch-Kenntnissen über konkrete Kriegspläne für die Beduinen, die keineswegs von Lawrence gewesen sein sollen (zum Beispiel Isolierung von Medina) sowie die Infragestellung der Rolle von Lawrence bei der Mobilisierung der Wüstenbewohner und vor allem ihrer Führer (Feisal) über angebliche Lügen in Bezug auf die anderen britischen Offiziere wird kaum ein Feld ausgelassen. Schließlich findet der Leser auch fast schon denunziatorische Ausführungen, die bis hinein in die Sphäre von Klatsch und Tratsch reichen. Am Ende erscheint Lawrence als geltungssüchtiger Hochstapler, Ideendieb, Lügner, Blender, Querulant, grausamer Krieger mit einem „sadistischen Zug in seinem Wesen“ (S. 109), als de-facto-Imperialist und etliches mehr.

Dabei kann Thorau kaum wirklich neue Fakten bieten. So zählt etwa die Tatsache, dass der Sherif von Mekka kein Idealist war, sondern handfeste politische Ziele verfolgte und auch nicht davor zurückschreckte, gegebenenfalls die Seiten zu wechseln, genauso wenig zu den bahnbrechend neuen Erkenntnissen wie die Einsicht in die mehr als begrenzte militärische Disziplin der Beduinen und deren entsprechend niedriger Kampfwert gegen reguläre Armeen. Ebenso ist schon länger klar, dass der Krieg im Nahen Osten vor allem von den regulären britischen Kampftruppen unter Allenby gewonnen wurde, die diesen Sieg mit hohen Verlusten zu bezahlen hatten.

In fast allen weiteren Fragen kann Thorau keine neuen Erkenntnisse liefern, sondern muss auf bereits geführte Diskussionen verweisen (Dar‘a Episode). Wo immer bis dato ungeklärte Punkte auftauchen, verschwimmt der Text sofort im Ungefähren. Beispiele, bei denen vermutet, nur bezweifelt und im Konjunktiv geschrieben wird, sind Legion.

Diese eklatante Schwäche wird noch gesteigert durch die von aller Quellenkritik freie Benutzung der Memoirenliteratur – einer Quellengattung, vor der bereits im Proseminar gewarnt wird. So wäre es vielleicht einmal ratsam zu fragen, ob Aussagen des britischen Generals Barrow, des Hochkommissars Wingate, der Frau G.B. Shaws oder von Richard Meinertzhagen, der – gelinde ausgedrückt – ja nicht gerade als Freund der humanitären Wahrheit bekannt geworden ist, vielleicht nicht in erster Linie aus authentischem Informationsbedürfnis, sondern aus handfestem (Eigen)Interesse, vielleicht sogar aus Abneigung, Hass, Neid oder Angst getätigt wurden. Politische Absichten sind dabei noch gar nicht mit eingerechnet.

Inhalt, Diktion und nicht zuletzt das Fehlen der archivalischen Quellen lassen letztlich keinen andern Schluss zu, als dass hier jemand ein tendenziöses Werk geschrieben hat, das über einseitige Dauerkritik die Forschung zu beeinflussen sucht, ohne selbst wirklich eine genuine Forschungsleistung zu erbringen.

Die stärksten Passagen des Werkes beziehen sich im Übrigen nicht auf die Person von Lawrence, sondern sind in den Teilen zu finden, die sich mit dem Kontext und der Gesellschaft des Nahen Osten beschäftigen. Der Leser erhält einen kompetenten Einblick in die vielfältigen Beziehungen, Interessen und Gemengelagen in den entsprechenden Ländern, das Machtspiel und die – meist wenig ruhmvolle – Rolle der Imperialmächte; so etwa in Bezug auf Syrien, das als vielfach gespaltenes Land dargestellt wird.

Ebenfalls sehr überzeugend berichtet Thorau darüber, dass die Gegner der Briten und der Beduinen, die Türken und vor allem auch die Deutschen zumindest bis Kriegsende und darüber hinaus gar nichts von der Existenz Lawrences‘ wussten, dass – anders als Lawrence berichtete – offensichtlich (!) auch kein Kopfgeld auf ihn ausgesetzt war.

Dies wurde indes mit der Veröffentlichung seines Werkes „Die sieben Säulen der Weisheit“ rasch anders. Gerade in Deutschland erschien eine Fülle von Werken, die sich mit Lawrence in unterschiedlicher Weise beschäftigten. Sogar die Geopolitiker unter Karl Haushofer und so illustre Persönlichkeiten wie Margret Boveri zeigten Interesse. Derlei Dinge hätten berichtet werden können.

Als Fazit lässt sich vielleicht konstatieren, dass man, so sehr man sich auch müht, einen Mythos nicht wissenschaftlich widerlegen kann. Jede derartige Anstrengung führt letztlich zu seiner weiteren Stärkung. Es ist demgegenüber die genuine Aufgabe der Geisteswissenschaft, der „Lehre vom Menschen“ (engl. „Humanities“), die Ursachen, Bedingungen und Auswirkungen zu untersuchen und uns den Umgang damit zu erleichtern. Frontalangriffe erregen (zumindest beim Rezensenten) Misstrauen.

Es ist sicherlich klar, dass Lawrences’ Handeln nicht als großes Vorbild oder gar handlungsleitendes Konzept bzw. Lehrbeispiel gelten kann. Dies versuchten zumindest teilweise die deutschen ‚Geopolitiker‘ vor 1945, die für ihre weit reichenden Pläne direkte Anleihen nehmen wollten. Derlei erwies sich als genauso illusorisch wie deren Hoffnungen auf die Bildung eines euroasiatischen Machtblocks als Gegengewicht zum britischen Empire.

Immerhin war Lawrence einer der wenigen, die sich direkt und in tiefgehender Weise auf die indigene Bevölkerung eingelassen haben und – zumindest primär, das heißt im direkten Umgang – nicht gescheitert sind. Dass sie dabei Schwächen aufwiesen (Eitelkeit, mangelnde Sprachkenntnisse), macht ihre Leistung letztlich noch größer. Die schillernde Persönlichkeit von Lawrence – bei allen Unsicherheiten in den letzten Bewertungen, erwiesenen Selbststilisierungen und Popularisierungen – fasziniert noch heute, und daran wird sich auch künftig nichts ändern.

Für den modernen Militärhistoriker ist – gerade vor dem Hintergrund der aktuellen politisch-militärischen Situation – die unkonventionelle Vorgehensweise eines Lawrence ein hochinteressantes Thema. Dies gerade auch vor dem Hintergrund, dass gerade im Zusammenhang mit den politisch-militärischen Ereignissen der letzten 20 Jahre die Heranziehung der Geschichte Lawrences‘ als ‚Erkenntnispool‘ eine nicht zu unterschätzende Bedeutung erlangt hat.3 Ein kritischer Blick ist vonnöten.

Natürlich verbietet sich jegliche Heroisierung. Dennoch kann die Beschäftigung mit Lawrence und seiner unkonventionellen Vorgehensweise und seine Abneigung gegen die Dienststrukturen etwa dazu beitragen, die Leistungsfähigkeit und Schwächen hoch organisierter Militärapparate beim Kontakt mit indigenen Stämmen auszuloten. Hierbei geht es indes weniger um „lessons learned“, sondern vielmehr um die kulturellen Grundbedingungen. Dazu sind aber Quellenstudien nötig – und ein Vorgehen sine ira et studio.

Anmerkungen:
1 Die Ausstellung: Landesmuseum Natur und Mensch in Oldenburg (November 2010 bis März 2011) und im Rautenstrauch-Joest-Museum in Köln (April bis September 2011).
2 Ian Kershaw, Hitler 1889–1936. 2. Auflage, Stuttgart 1998, S. 9.
3 Sehr bedeutsam für die US-Streitkräfte: John Nagl, Learning to eat soup with a knife. Counterinsurgency Lessons from Malaya and Vietnam, Chicago 2002.

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