F. Sejersted: The Age of Social Democracy

Titel
Age of Social Democracy. Norway and Sweden in the Twentieth Century


Autor(en)
Sejersted, Francis
Erschienen
Anzahl Seiten
543 S.
Preis
€ 31,55
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Timo Luks, Institut für Europäische Geschichte, Technische Universität Chemnitz

Francis Sejersteds hervorragendes Buch „The Age of Social Democracy“ – es handelt sich um die überarbeitete Version der 2005 erschienenen norwegischen und schwedischen Ausgabe – analysiert die Geschichte Norwegens und Schwedens während des 20. Jahrhunderts als ein großes, vielfach verschlungenes Modernisierungsprojekt. Sejersted beschreibt dieses Projekt als sukzessive Herausbildung eines Sozialdemokratischen Ordnungsmodells. Die vergleichende Perspektive ermöglicht es ihm, einerseits die Spezifika eines skandinavischen Modells herauszuarbeiten und andererseits Bezüge zu nicht-skandinavischen Ländern zumindest anzudeuten. Zwei Punkte werden in diesem Zusammenhang besonders betont: erstens die im Vergleich mit den beiden Totalitarismen und dem „reinen“ Kapitalismus erfolgreichere Lösung der durch die Moderne aufgeworfenen Probleme seitens des skandinavischen Modells; zweitens der Umstand, dass wesentliche Faktoren und Grundlinien des Sozialdemokratischen Ordnungsmodells nach 1945 überall in Westeuropa wichtig wurden, dies aber nur in Norwegen und Schweden mit der Hegemonie der Sozialdemokratischen Parteien einherging.

Modernisierung verweist in Sejersteds Analyse nicht in erster Linie auf einen hinter dem Rücken der Akteure ablaufenden Basisprozess, sondern auf eine normative Leit- und Zielvorstellung, der sich verschiedene politische und gesellschaftliche Akteure verschrieben. Das norwegische und schwedische 20. Jahrhundert, so Sejersteds provozierende Feststellung, war nicht das zufällige Ergebnis von Interessenkämpfen oder eines anonymen Strukturwandels, sondern das Ergebnis eines bewussten politischen Projekts, das in einer gemeinsamen Idee gründete. „This points“, so schreibt er, „to a notable characteristic of our presentation: the history of Social Democracy is a history of how politics matter. It provides an example of how, under happy circumstances, societies can be the master of history” (S. 502). Das setzte keinen vorgängigen Masterplan voraus, wohl aber ein spezifisches – spezifisch modernes – Verständnis von Gesellschaft als Problem- und Interventionsfeld.

Zwischen 1905 und 1940 beschritten sowohl Norwegen als auch Schweden den Weg einer beschleunigten Industrialisierung, in deren Folge es zu einer immer stärkeren Durchdringung der Gesellschaften mit Wissenschaft und Technik kam. In Schweden bildeten sich die Strukturen eines organisierten Kapitalismus heraus, während Sejersted das norwegische Modell als „democratic capitalism“ bezeichnet und vom schwedischen Elitenkorporatismus abgrenzt. Nach dem Ersten Weltkrieg traten in beiden Ländern Sozialisierungsforderungen neben die Bemühungen um eine weitere Festigung korporatistischer Strukturen – freilich, so Sejersted, innerhalb des Modernisierungsprojekts und mit dem von Unternehmern und Arbeiterbewegung gleichermaßen verfolgten Ziel der Etablierung einer modernen Industrie. In politischer Hinsicht war dieser Zeitraum durch Wahlrechtsauseinandersetzungen und die Versuche gekennzeichnet, die parlamentarische Demokratie zu konsolidieren – und dies in einer Phase politischer Instabilität, die in Schweden erst 1932 mit dem Regierungsantritt von Per Albin Hansson und in Norwegen 1935 mit demjenigen von Johan Nygaardsvold beendet wurde. Dass der Anti-Parlamentarismus in Norwegen und Schweden weniger an Boden gewann, als das in zentraleuropäischen Ländern der Fall war, lag am etablierten Anti-Totalitarismus der konservativen und liberalen Parteien sowie der Ausrichtung der Sozialdemokratien beider Länder, die das Erbe der „radical bourgeoisie“ aufnahmen und nachhaltige Kompromisse mit der Bauernpartei und den Interessen der Landarbeiter eingingen. Sozialpolitisch war das erste Drittel des 20. Jahrhunderts eine Phase des Übergangs, in der sich die philanthropischen Ansätze des 19. Jahrhunderts mit ersten Schritten auf dem Weg zum modernen Wohlfahrtsstaat überlagerten. Spätestens seit den frühen 1930er-Jahren, so Sejersted, hatten sich die Sozialdemokratischen Parteien Norwegens und Schwedens das Projekt der nationalen und sozialen Integration – bestehend aus einem Dreiklang von Industrialisierung, Demokratisierung und Sozialpolitik – angeeignet und wirkten als Agenten einer umfassenden Modernisierung.

Die Phase von 1940 bis 1970 war durch die politische und parlamentarische Dominanz der Sozialdemokraten gekennzeichnet, die den Weg von der Arbeiter- zur Volkspartei nun definitiv in beiden Ländern vollzogen hatten. Dies reflektierte und forcierte eine umfassende Transformation der Klassengesellschaft, in deren Folge die Bedeutung der Industriearbeiterschaft zwar erhalten blieb, diejenige der Angestellten jedoch beträchtlich stieg, während die Bauern und Landarbeiter an Bedeutung verloren. Die Sozialdemokraten entwickelten vor diesem Hintergrund eine erfolgreiche „multiclass strategy“. „So we observe a shift in ideological trends, away from the old sentimental sociopolitical ideology to one that was cooler and more rational. In this ‚scientification‘ of society and politics there was a tendency to repeal policies and redefine political issues as questions that ought to be solved by experts“ (S. 211). Keynesianisch orientierte Wirtschafts- und Sozialwissenschaftler, Reformtechnokraten und Sozialexperten waren die neuen Helden der Sozialdemokratischen Ordnung. Hier zeichnen sich die Konturen einer Welt der Sozialingenieure ab, deren technokratische Rationalität zum Signum von Modernität und zur wesentlichen Triebkraft des Modernisierungsprojekts wurde. Die Sozialdemokratischen Parteien verabschiedeten sich zudem endgültig vom Marxismus und brachen mit ihrer kapitalismuskritischen Tradition. Eine Wachstums- und Fortschrittsperspektive trat an die Stelle von Klassenkampf und Systemauseinandersetzung, „Kapitalismus“ wurde diskursiv durch „Industrialismus“ ersetzt. Das alles bot den Rahmen für ein – bis in die 1970er-Jahre – stabiles und erfolgreiches Modell.

„Something happened around 1970 that, in hindsight, appears to be rather fundamental. The old sense of unity shattered, and a new criticism entered the picture. There was a shift in thinking that gradually led to a course change in the development of society, if indeed one can even speak of one course or one direction. [...] In Scandinavia the Social Democrats lost their hegemony“ (S. 333). Sejersted leitet mit dieser Bemerkung den letzten Teil seiner Analyse ein. Die Diagnose eines Strukturbruchs um 1970 gründet in der Beobachtung gebündelt auftretender Krisen- und Umbruchphänomene: Jugendrebellion, Generationenkonflikt, Umweltproblematik, Energiekrise, Infragestellung der Autorität der Experten usw. Zentrale Aspekte der Sozialdemokratischen Ordnung gerieten in die Kritik, neue Bereiche, die zuvor außerhalb oder am Rand dieser Ordnung lagen, gewannen an Bedeutung. Norwegische und schwedische Sozialdemokraten reagierten anfangs mit dem Versuch, die Wirtschaftsordnung in eine stärker sozialistische Richtung weiterzuentwickeln. Ende der 1970er-Jahre verebbte das freilich und die neuen wirtschafts- und sozialpolitischen Grundlinien wiesen in Richtung Deregulierung und Stärkung des Markts. Der Dritte Weg, den nun vor allem Schwedens Sozialdemokraten propagierten, sollte zwischen traditioneller Sozialdemokratie und Thatcherismus entlang führen. In der Folge kam es zu grundlegenden Veränderungen des Arbeitslebens und einem erkennbaren Rückbau der korporatistischen Strukturen. Zudem etablierte sich eine innersozialdemokratische Opposition gegen das technokratische, auf Industrialisierung konzentrierte Modernisierungsprojekt. In sozialpolitischer Hinsicht verschob sich der Akzent von früheren Gleichheitsidealen zu einer neuen Betonung von Freiheit – bei gleichzeitiger Entdeckung einer neuen Armut unterhalb der Absicherungen des Wohlfahrtstaats. All diese Prozesse, so resümiert Sejersted, führten zur Erosion jener Sozialdemokratischen Ordnung, die Norwegen und Schweden über weite Teile des 20. Jahrhunderts geprägt hatte.

Francis Sejersteds Buch liefert eine außerordentlich informative und überzeugende Analyse. Unterhalb der differenzierten Diskussion vielschichtiger Adaptions-, Transfer- und Verflechtungsphänomene schleicht sich jedoch mitunter der aus nicht-skandinavischer etwas irritierende Versuch ein, Norwegen und Schweden gegeneinander auszuspielen; in der Regel zuungunsten des für Schweden diagnostizierten stärker ausgeprägten Kollektivismus und Technokratismus. Beim Versuch, Unterschiede zwischen Norwegen und Schweden nicht nur zu beschreiben, sondern auch zu erklären, verfällt Sejersted zudem manchmal in eine zirkuläre Argumentation – Unterschiede werden dann einfach mit einem Verweis auf verschiedene Traditionen in beiden Ländern erklärt, ohne dass diese selbst als erklärungsbedürftig erkannt würden. Darüber hinaus ist der letzte Teil des Buchs, die Analyse der Desintegration des Sozialdemokratischen Modells seit 1970, passagenweise lediglich eine etwas hastig wirkende Chronologie – gerade im Vergleich mit den argumentativ, analytisch und erzählerisch hervorragenden ersten Teilen ist das auffällig. Angesichts der Stärken des Buchs fallen die angesprochenen Kritikpunkte jedoch kaum ins Gewicht.

Sejersteds Analyse ist ein anregender und produktiver Beitrag zu den inzwischen recht vielschichtigen Diskussionen um eine sinnvolle Periodisierung des 20. Jahrhunderts, die sich nicht mehr in erster Linie an nationalstaatlichen Belangen orientiert. Der Blick auf Norwegen und Schweden bekräftigt einmal mehr die Notwendigkeit, moderne Gesellschaften aus einer transnationalen Perspektive entlang der Frage zu analysieren, welches Bündel von Techniken, Strategien und Instrumenten jeweils in Anschlag gebracht wurde, um das Soziale in dieser oder jener Weise zu gestalten. Zudem widersteht Sejersted – vor allem aufgrund seiner vergleichenden Perspektive – über weite Strecken zumindest tendenziell der Versuchung, einzelne Facetten der norwegischen oder schwedischen Entwicklung zum Paradigma moderner Gesellschaften schlechthin zu machen. Diese Zurückhaltung ist nicht selbstverständlich, wird doch gerade in politischen Diskussionen und publizistischen Beiträgen selten mit großen Etiketten gespart. Schnell ist dann die Rede vom Nordic Model oder Swedish Modernism. In der deutschen Geschichtswissenschaft, die sich selten mit Skandinavien beschäftigt, kann zwar auch diese Perspektive durchaus ein Gegengewicht zum westeuropäisch-angloamerikanischen Bias einiger Forschungen sein und eine Differenzierung der Wege in und durch die Moderne ermöglichen, darüber hinaus stößt sie jedoch, wie Skandinavienhistorikerinnen und -historiker regelmäßig betonen, an Grenzen.1

Anmerkung:
1 Dementsprechend geht es in neueren Arbeiten eher um eine Dekonstruktion der genannten Großkategorien. Vgl. z.B. Hilson, Mary: The Nordic Model. Scandinavia Since 1945, London 2008, rezensiert von David Kuchenbuch, in: H-Soz-u-Kult, 02.03.2011, http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2011-1-152; Mattsson, Helena; Wallenstein, Sven-Olof (Hrsg.): Swedish Modernism. Architecture, Consumption and the Welfare State, London 2010, rezensiert von Liesbeth van de Grift, in: H-Soz-u-Kult, 12.05.2011, http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2011-2-116.

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