Titel
Kult und Krieg. Herz Jesu – Sacré Cœur – Christus Rex im deutsch-französischen Vergleich 1914-1925


Autor(en)
Schlager, Claudia
Reihe
Untersuchungen des Ludwig-Uhland-Instituts der Universität Tübingen 109
Anzahl Seiten
527 S.
Preis
€ 30,00
Rezensiert für den Rezensionsdienst "Europäische Ethnologie / Kulturanthropologie / Volkskunde" bei H-Soz-Kult von:
Andrea Meissner, Europäische Kulturgeschichte, Universität Augsburg

Der Erste Weltkrieg mit seinen bis dahin unvorstellbaren Menschenverlusten stellte die kulturelle Sinnstiftungsfähigkeit der an ihm beteiligten Gesellschaften vor extreme Herausforderungen. Dies betraf auch und gerade die Religion als Ressource der Kontingenzbewältigung und Heilsvergewisserung angesichts von Leid und Tod. Der „Testfall“ Krieg ist somit besonders geeignet, um kulturelle Funktionszusammenhänge zu beobachten. Diese Aufgabe stellt sich Claudia Schlager in ihrer aus dem Sonderforschungsbereich „Kriegserfahrungen. Krieg und Gesellschaft in der Neuzeit“ hervorgegangenen Dissertation zur Verehrung des Herzens Jesu in Deutschland und des Sacré Cœur in Frankreich zwischen 1914 und 1925.

Ausgehend von der These, dass die Herz-Jesu-/Sacré-Cœur-Devotion der zentrale Kriegskult im deutschen ebenso wie im französischen Katholizismus war, untersucht Schlager sie aus dem Blickwinkel einer volkskundlich und kulturgeschichtlich informierten historischen Anthropologie. Dieser Ansatz macht die Stärke der Studie aus, da Schlager konsequent versucht, aus den Quellen auch die Perspektive „von unten“ zu rekonstruieren. Es geht ihr also nicht nur um die Intentionen und normativen Vorgaben der Kirche, sondern auch um die populare Frömmigkeit, die sich oftmals über die feinen theologischen Unterscheidungen zwischen Rechtgläubigkeit und Aberglauben hinwegsetzte. Besonderes Augenmerk liegt auf den vielfältigen Popularisierungsmedien sowie auf dem Umgang mit den materiellen und rituellen Objektivationen des Kultes, der von der Eigenaktivität der katholischen Laien zeugt.

Die Gegenüberstellung von Deutschland und Frankreich ist in zweierlei Hinsicht aufschlussreich: Zum einen handelte es sich bei der Verehrung des heiligsten Herzens um ein transnationales Phänomen. Deren ultramontan ausgerichtete Renaissance hatte um die Mitte des 19. Jahrhunderts ihren Ausgang von Frankreich genommen und sich unter tatkräftiger Förderung durch die Jesuiten auch im deutschsprachigen Raum schnell verbreitet. Zum anderen ist der Vergleich der beiden kriegführenden Nachbarn in Hinblick auf das Verhältnis von Katholizismus und Nationalismus, dem konkurrierenden, säkularen „Transzendenzgenerator“, von besonderem Interesse. Trotz aller Skepsis im Katholizismus gegenüber dem Nationalstaat, der auf eine Trennung von Kirche und Staat drängte und diese 1905 in Frankreich gesetzlich verankert hatte, setzten um die Jahrhundertwende Nationalisierungstendenzen ein. Diese erreichten, wie Schlager zeigt, während des Ersten Weltkriegs in beiden Ländern einen Höhepunkt. Denn sowohl der Episkopat als auch die Laien fassten eine aktive Unterstützung der kriegführenden Nation als Chance auf, zu einer positiven Anerkennung und stärkeren politischen Teilhabe zu gelangen.

Damit fügt sich Schlagers Untersuchung in die Diskussion um das Wechselverhältnis von sakralisierter Nation und nationalisierter Religion ein. Detailliert zeichnet sie nach, wie der Herz-Jesu-/Sacré-Cœur-Kult zugleich nationalisiert und bellifiziert wurde. Dabei gelangt Schlager zu dem – angesichts der landläufigen These eines besonders stark ausgeprägten deutschen Militarismus – überraschenden Befund, dass die deutsche Variante im Vergleich stärker auf das individuelle Seelenheil ausgerichtet blieb. In Frankreich hingegen sei der Kult bereits seit der Niederlage von 1871 politisiert gewesen, was im Ersten Weltkrieg auf katholischer Seite zu einer gewollten Verschmelzung von Nation und Katholizismus geführt habe. Ausdruck hierfür war die Propagierung des „drapeau national“, der Tricolore mit eingelassenem Emblem des Sacré Cœur. Dieses Symbol war allerdings doppeldeutig: Einerseits stand es für die Zugehörigkeit des Katholizismus zur französischen Nation. Die Katholiken erhoben den Anspruch, durch den Kampf unter dieser Flagge den Sieg der Nation herbeiführen zu können, wie eine der Sacré-Cœur-Verheißungen lautete. Andererseits repräsentierte der „drapeau national“, der nach den Intentionen der Kirche den öffentlichen Raum durchdringen sollte, ihre Ambitionen auf eine Re-Katholisierung der französischen Gesellschaft und des Staates. Hier zeigt sich einmal mehr die politische Instrumentalisierbarkeit der popularen Religiosität durch die Kirche.

Claudia Schlager demonstriert, wie der Herz-Jesu- bzw. Sacré-Cœur-Kult aufgrund seiner theologischen Ausrichtung auf Leid, Opfer und Sühne als imitatio Christi prädestiniert war, die Kriegserfahrungen gerade der einfachen Soldaten symbolisch zu bündeln. Seine Attraktivität lag darin, dass er den Frontkämpfern und ihren Angehörigen Handlungsmöglichkeiten bot, die den Gang der Kriegsereignisse, aber auch das Seelenheil der Gefallenen positiv zu beeinflussen versprachen. Mit der Vorstellung vom Fegefeuer hatte die katholische Theologie spezifische Heilsbedürfnisse geschaffen, die die Kirche mit ihren – im Krieg sehr flexibel gewährten – Gnadenmitteln zu befriedigen versprach: So waren Praktiken der Herz-Jesu-/Sacré-Cœur-Devotion mit weitreichenden Ablässen gekoppelt. Bestimmte Rituale waren mit der Zusicherung verbunden, nicht ohne Sterbesakramente den Tod zu finden. Für die Hinterbliebenen offerierte der Kult die Möglichkeit, der Gefallenen nicht nur zu gedenken, sondern auch aktiv etwas für ihr ewiges Leben zu tun. Plastisch führt Schlagers Studie vor Augen, dass die Grenzen zwischen katholischer Religiosität und magischen Praktiken der Schadensabwehr oftmals fließend waren.

Der Herz-Jesu- bzw. Sacré-Cœur-Kult im Ersten Weltkrieg dürfte daher zur Veräußerlichung der katholischen Frömmigkeit beigetragen haben. In diese Richtung deutet auch Schlagers Feststellung, wonach in katholischen Unterhaltungsmedien für die Soldaten noch nicht einmal Mindeststandards von Religiosität eingefordert wurden. Bei den französischen Soldaten fehlten oftmals schon die Grundlagen einer katholischen Sozialisation. Insofern verwundert es kaum, dass die Welle von Frömmigkeit, die beim Kriegsbeginn zu beobachten war, bald wieder abebbte und ab 1916 dauerhaft unter das Vorkriegsniveau fiel. Die Siegesversprechen und Durchhalteparolen hatten die religiöse Propaganda kompromittiert. Auch die Herz-Jesu-/Sacré-Cœur-Devotion hatte sich als Kriegskult verbraucht. Entscheidend hierfür war jedoch, so Schlager, weniger der Krieg selbst als sein Ausgang: In Frankreich schien der Sieg die Interpretation zu stützen, dass die Sühne, welche die Nation an das Sacré Cœur geleistet hatte, hinreichend gewesen war. Allerdings verflog der Triumphalismus des Sieges schnell wieder. In Deutschland hielten es die Bischöfe für inopportun, die Niederlage als Folge einer ungenügenden Sühne zu interpretieren. Aus diesen Gründen versuchte die Kirche in beiden Ländern, dem Kult neue Formen zu geben. Die religiösen Energien sollten auf ihre wieder in den Vordergrund getretenen politischen Ziele gelenkt werden. Das von der Kirche intensiv geförderte Christkönigsfest brachte ihren Herrschaftsanspruch in Staat und Öffentlichkeit symbolisch zum Ausdruck. Schlager deutet diesen Formwandel der Christusverehrung als Manifestation von generelleren Tendenzen zur Modernisierung, Maskulinisierung und Monumentalisierung im Katholizismus der Zwischenkriegszeit. Gleichwohl zeigt sie anhand mehrerer Indizien, dass die maskulinisierte, jedoch emotional „erkaltete“ Christusfigur außerhalb der katholischen Jungmännerbewegung nur wenig Anziehungskraft entfaltete.

Claudia Schlagers Studie ist eine für die Frömmigkeitsgeschichte des Ersten Weltkriegs informative Ergänzung der Studien von Norbert Busch zum Herz-Jesu-Kult1 sowie von Christoph Joosten zum Christkönigsfest2 in Deutschland. Sie lässt den subjektiven Sinn der Akteure, insbesondere der einfachen Soldaten und ihrer Angehörigen, plastisch werden. Der deutsch-französische Vergleich trägt bemerkenswerte Beobachtungen zur Kriegskultur beider Länder bei, die auch geeignet sind, das Bild von einem besonders starken deutschen Bellizismus zu relativieren. Hierzu wäre es lohnend, den Herz-Jesu-/Sacré-Cœur-Kult in Beziehung zu anderen katholischen Quellen zu setzen. Bestätigen die Kriegspredigten das Bild einer stärkeren Nationalisierung der Religion in Frankreich? Bildete die Marienfrömmigkeit, deren Bedeutsamkeit in Studien zur popularen Religiosität im Ersten Weltkrieg betont wird3, ein Gegengewicht zur Bellifizierung der Religion?

Über den volkskundlichen Fokus von Schlagers Ansatz hinaus wären Schlussfolgerungen zu weiterreichenden historischen Problemen interessant: So konstatiert Norbert Busch für die Zeit vor dem Ersten Weltkrieg, die Herz-Jesu-Frömmigkeit sei Ausdruck einer depressiven und defensiven Mentalität im Katholizismus gewesen.4 Spräche also die geringe Anziehungskraft der Christkönigsverehrung für ein Fortleben solcher mental-emotionaler Dispositionen? Überdies stellt sich im Kontext der Zwischenkriegszeit die Frage, welche politische Relevanz die im Krieg eingeübte Frömmigkeit nach 1918 entfaltete. Konnten die französischen Frontsoldaten, die dem Sacré Cœur besonders verbunden waren, in einer Bewegung gegen den Laizismus mobilisiert werden? Führte dies zu einer antirepublikanischen Radikalisierung? Ließe sich hieraus eine Kontinuitätslinie zum Vichy-Regime, ja bis hin zum Front National ziehen, die beide auf das Zeichen des Sacré Cœur zurückgriffen, wie Schlager in einer Fußnote (S. 333, Fußnote 79) andeutet? Doch dies zu diskutieren ist die Aufgabe weiterer Untersuchungen, für die Schlagers Arbeit viele Anknüpfungspunkte bietet.

Anmerkungen:
1 Norbert Busch, Katholische Frömmigkeit und Moderne. Die Sozial- und Mentalitätsgeschichte des Herz-Jesu-Kultes in Deutschland zwischen Kulturkampf und Erstem Weltkrieg, Gütersloh 1997.
2 Christoph Joosten, Das Christkönigsfest. Liturgie im Spannungsfeld zwischen Frömmigkeit und Politik, Tübingen 2002.
3 Benjamin Ziemann kommt in seiner Studie zur Erfahrungsgeschichte des Ersten Weltkriegs zu dem Schluss, der marianische Rosenkranz sei die erste Kultpräferenz südbayerischer Soldaten gewesen, vgl. Benjamin Ziemann, Front und Heimat. Ländliche Kriegserfahrungen im südlichen Bayern 1914-1923, Essen 1997, S. 257.
4 Busch, Katholische Frömmigkeit, S. 303-309.

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Diese Rezension entstand in Kooperation mit dem Rezensionsdienst "Europäische Ethnologie/Kulturanthropologie/Volkskunde" http://www.euroethno.hu-berlin.de/forschung/publikationen/rezensionen/
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