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Titel
Die Grenze im Kopf. Journalisten in der DDR


Autor(en)
Meyen, Michael; Fiedler, Anke
Erschienen
Berlin 2011: Panama
Anzahl Seiten
400 S.
Preis
€ 24,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Christian Schemmert, Fakultät für Geschichtswissenschaft, Philosophie und Theologie, Universität Bielefeld

Die Frage, wie politische Steuerung und Kontrolle in der DDR funktionierten, ist keineswegs so banal, wie es auf den ersten Blick erscheinen mag. Dies zeigt insbesondere die Diskussion um die Rolle der Medien in der DDR. Wer sich hier von der faktortheoretischen Annahme einer uneingeschränkten Möglichkeit politischer Gesellschaftssteuerung kritisch distanziert1, gerät nicht selten unter Verdacht, den Zwangscharakter des Regimes bewusst herunterzuspielen. Die medienhistorische Forschung hing so auch lange dem kontrollillusionären „Bild eines monolithischen Blocks aus Medienproduzenten und ihrer gleichförmigen Produkte auf der einen Seite sowie den – je nach Lesart – einer medialen Gehirnwäsche ausgesetzten oder sich in systemkritischer Distanz befindenden DDR-Bürgern auf der anderen Seite“ an.2 „Der Herrschaftsanspruch des Regime[s] wurde mit der Herrschaftsrealität verwechselt“3, die Selbstbeschreibung politischer Akteure in die wissenschaftliche Fremdbeschreibung übernommen. Dieser Interpretationsmodus wird seit Kurzem aus einer verstärkt praxistheoretischen Perspektive heraus kritisiert. Solche Ansätze werten die Handlungskompetenz der Medienkonsumenten sozialtheoretisch auf. Sie heben hervor, dass Menschen mit ihren ganz unterschiedlichen Interessenlagen selbstverständlich auf die über die Massenmedien initiierten Kontrollversuche des Regimes reagieren und sich ihnen durch vielfältige wie reflexive Formen der Mediennutzung zu entziehen versuchen.4

Legt man diesen Diskussionsstand zur realhistorischen Steuerungspotenz des Machtstaates zugrunde, dann eröffnet sich auch ein anderer Blick auf die im Handlungsfeld der politisch-organisatorischen Sphäre verankerten Medienproduzenten. Die Kommunikationswissenschaftler Michael Meyen und Anke Fiedler fragen in ihrem Buch daher auch, inwieweit politisches Handeln die basisinternen Prozesse im Institutionengefüge der Massenmedien der DDR bestimmte. Zudem untersuchen sie, in welcher Weise umgekehrt die für das lebensweltliche Konsum- und Rezeptionsverhalten von Medien zutreffenden Formen sozialer Praxis auf das Agieren im Innern der politischen Organisationen zurückwirkten. Die Verfasser versuchen zu klären, welche Handlungsmodi und Rollenkonfigurationen sich im redaktionellen Alltagsbetrieb ausbildeten und wie sich diese über die Herrschaftszeit veränderten: „Was waren das für Menschen, die in der DDR in den Journalismus gegangen sind? […] Welches Bild hatten DDR-Journalisten von ihrem Beruf, von ihrem Publikum und von ihren Einflussmöglichkeiten? Wie haben sie Anleitung und Kontrolle im Alltag erlebt und wann sind sie zufrieden nach Hause gegangen?“ (S. 10, S. 331)

Angesichts der zu diesem Fragespektrum noch immer unzureichenden Forschungslage haben sich die Autoren entschieden, auf der Basis zahlreicher Interviews mit ehemaligen Journalisten in der DDR eine „Kollektivbiografie“ zu verfassen, die insbesondere auf ein besseres Verständnis der journalistischen Arbeitswelt abzielt. Darüber hinaus wollen sie die politisch-sozialen Erfahrungswelten und die generationenspezifischen Hoffnungen dieser Berufsgruppe rekonstruieren. Dass beides nicht einzig auf Grundlage einer quantitativen Erhebungs- und Auswertungsmethode, etwa zum Berufsfeld vorhandener Autobiografien, Gesprächs- und Statementsammlungen gelingen kann, wird von den Autoren einleuchtend dargelegt (S. 16, S. 331).

Den ersten Teil des Buches machen 31 biografische Experteninterviews mit ehemals in herausgehobener Position tätigen Redakteuren und Parteifunktionären des Medienapparates der DDR aus, die allesamt auf einer teilstandardisierten, leitfadengestützten Erhebungstechnik beruhen. Anders als zum Beispiel in (voll)standardisierten Interviews ist eine solche, von einer ganz anderen Situationsdynamik gekennzeichnete Gesprächsform für die Datengewinnung ungleich vorteilhafter. Als Forschungsinstrument hat sie jedoch zur Bedingung, dass die Gesprächskultur geprägt ist von einer beiderseitigen Offenheit und Gesprächsbereitschaft. Erst wenn man die Besonderheiten dieser Methodik berücksichtigt, wird verständlich, vor welchen Herausforderungen die Verfasser standen und worin das Verdienst des vorliegenden Buches besteht: Wie der Leser im Einleitungskapitel zu den Auswahl-, Rekrutierungs- und Interviewbedingungen erfährt, bestand eine wichtige Vorüberlegung darin, ausschließlich Personen in Führungspositionen zu befragen, die „entweder in den Redaktionen oder im ‚Apparat‘ […] Verantwortung getragen hatten“ (S. 16).

Es gestaltete sich dabei von vornherein als unmöglich, innerhalb dieses Managementbereichs massenmedialer Produktionskultur auf eine generationenübergreifend gleichbleibende Gesprächsbereitschaft zurückzugreifen. So war aus Sorge um den Verlust persönlicher Reputation trotz intensiven Bemühens kein aus der letzten Generation stammender Journalist gewillt, öffentlich über seine Vergangenheit in den DDR-Medien zu sprechen (S. 21). Die Ausnahme stellt ein im letzten Teil des Buches anonymisiert abgedrucktes Interview mit einer heute in einer Leitungsfunktion des öffentlich-rechtlichen Rundfunks beschäftigten Person dar. Die Einwilligung, den Gesprächspartner namentlich zu nennen, wurde noch kurz vor Fertigstellung des Buches zurückgezogen, aus der Befürchtung heraus, die mitgeteilten Erfahrungen könnten berufliche Beeinträchtigungen zur Folge haben.

Viele der Befragten reagierten ausweichend, wenn sich die Interviewer nach den Motiven der Berufswahl und der persönlichen Arbeitsmotivation erkundigten. Problematisch gestaltete sich auch das in den Gesprächsverläufen bekundete Interesse an den Gründen des beruflichen Aufstiegs. Welche Voraussetzungen hatte beispielsweise Günter Schabowski zu erfüllen, bevor er 1978 durch Erich Honeckers Gunst Joachim Hermann als Chefredakteur des „Neuen Deutschland“ ablöste und später sogar als Sekretär des Zentralkomitees (ZK) ins Politbüro der Sozialistischen Einheitspartei Deutschland (SED) wechselte? Welche von der Parteiführung ausgegebenen Arbeitsanreize trugen zur optimalen Mobilisierung seiner Kenntnisse und Fähigkeiten bei? Wer sich Antworten auf diese oder ähnliche Fragen erhofft, der wird – was wenig überrascht – viel zwischen den Zeilen lesen und auch manches Mal vor- und zurückblättern müssen. Dieser Mehraufwand macht sich jedoch mit interessanten Einblicken in die Wirklichkeitskonstruktionen der zu den Geburtsjahrgängen vor 1960 zählenden Personen bezahlt, die zwar zum Gespräch bereit waren, aber zumeist auch eigene Absichten verfolgten.

Obwohl allen Interviewpartnern vorab zugesichert wurde, die schriftliche Version des Gesprächs anschließend redigieren und autorisieren zu dürfen, kamen manche mit ausgearbeiteten Statements zum Termin. Eberhard Heinrich, ehemaliger Vorsitzender des „Verbandes der Journalisten der DDR“ (VDJ), bat gar um ein Vorgespräch, in dem ausgemacht wurde, die Fragen schriftlich zu beantworten, bevor man sich zu einem neuerlichen Treffen zusammenfand (S. 23f.). Auf welche Fragen Hans Modrow, der ab 1971 die Abteilung Agitation im ZK der SED leitete und während des Gesprächs gleich „mehrere eng beschriebene Blätter vor sich“ (S. 38) hatte, besonders vorbereitet war, an welchen Stellen er später den zugesandten Text editierte und bei welchen Themen ein generelles Interesse zur Nachbearbeitung seitens der Interviewten bestand, hätte man gerne gewusst. Das Zustandekommen einer Vielzahl der Gesprächstermine war einzig deshalb möglich, weil bereits befragte Personen den Interviewern bereitwillig weitere Kontaktadressen zur Verfügung stellten. Die Gefahr, dass die Zeitzeugen dadurch eine „Gruppen-Fiktion“ präsentieren könnten, meinen die Verfasser mittels ihrer Interviewserie empirisch widerlegt zu haben (S. 22).

Im zweiten, knapperen Teil der Untersuchung erstellen die Autoren auf der Basis der Interviews eine Art „Kollektivbiografie“ des DDR-Journalisten. Dies geschieht im Anschluss an eine Auseinandersetzung mit den Problemen von Erinnerungstexten. Nach einer generationenspezifischen Porträtierung des Berufsstandes wird durch eine vergleichende Betrachtung der dortigen Befunde der Versuch unternommen, die Formung des „Habitus von DDR-Journalisten“ über die Generationenzugehörigkeit hinaus auch anhand der „Logik des journalistischen Feldes“ herauszuarbeiten (S. 337f.). Dabei zeigt sich, dass sich die kontrollillusionäre Systemerwartung der parteipolitischen Führung zumindest in der Rollenauffassung all jener journalistischen „Spitzenkräfte“ bestätigt, die ihre Mitgliedschaft durch Ablehnung der Organisationszwecke keinesfalls gefährden wollten. „Die meisten DDR-Journalisten sahen sich […] nicht als neutrale Berichterstatter, sondern als Politiker, als Anwalt des Sozialismus“ im „Kampf um die Köpfe der eigenen Bürger“ (S. 357, S. 362).

Dass sowohl aus journalistischer wie aus Sicht der Medienfunktionäre das Informieren dem Erziehen als differenzierte Zwecksetzung des Systems nachgeordnet war, dokumentieren die Zeitzeugenerinnerungen eindrücklich. „Ich wollte bewusste Sozialisten erziehen. Ich bin heute nicht mehr bereit, das in irgendeiner Form zu relativieren“ (S. 189), heißt es bei Hans-Dieter Schütt, der von 1984 bis 1989 als Chefredakteur bei der „Jungen Welt“ arbeitete. Und Werner Fahlenkamp, der ab Herbst 1959 als stellvertretender Chefredakteur in der „Morgen“-Redaktion beschäftigt war, gibt an: „Eigentlich waren wir gar keine Journalisten. Das will ich Ihnen ganz ehrlich sagen. Wir haben uns eher als Propagandisten und Agitatoren verstanden.“ (S. 266)

Horst Pehnert, dem nach Studienabschluss an der Fakultät für Journalistik in Leipzig eine Bilderbuchkarriere im Medienapparat der DDR gelang, erinnert sich positiv an das politische Moment innerhalb der redaktionellen Mitarbeit bei der „Jungen Welt“. Pehnert sieht die „Junge Welt“ noch heute als „verschworene“, „ideologische Gemeinschaft“, deren besonderes Merkmal es gewesen sei, dass man als „Mitglied“ stets „gemeinsame politische Ziele“ verfolgt habe (S. 162f.). Dies beschreibt für zahlreiche der Interviewten nach wie vor ein zentrales Moment ihres beruflichen Selbstverständnisses. Jenes wird nicht selten von der Überzeugung gestützt, mit der eigenen Arbeit maßgeblich zur angeblich noch heute in der ostdeutschen Gesellschaft ausgeprägten Neigung zu einem pazifistischen und solidarischen Denken beigetragen zu haben. Das ist im Hinblick auf die Institutionalisierung von Rollen oder Verhaltenserwartungen ein Indiz für die kaderpolitische Effizienz im Bereich der DDR-Medien – und auf die anhaltende Prägekraft einstiger Berufsideale, auch mehr als zwanzig Jahre nach dem Zusammenbruch der DDR.

Anmerkungen:
1 Stefan Zahlmann (Hrsg.), Wie im Westen, nur anders. Medien in der DDR, Berlin 2010; vgl. Gerd Dietrich: Rezension zu: Zahlmann, Stefan (Hrsg.): Wie im Westen, nur anders. Medien in der DDR. Berlin 2010, in: H-Soz-u-Kult, 11.04.2011, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2011-2-029> (28.04.2011).
2 Vgl. Stefan Zahlmann, Medien in der DDR. Medienproduktion und Medienrezeption als kulturelle Praktiken. In: Zahlmann (Hrsg.): Wie im Westen, nur anders, S. 9-32, S. 12.
3 Wolfgang Merkel, Systemtransformation. Eine Einführung in die Theorie und Empirie der Transformationsforschung, 2. überarb. u. erw. Aufl., Wiesbaden 2010 (1. Aufl. 1999), S. 52.
4 Ulrike Häußer / Marcus Merkel (Hrsg.), Vergnügen in der DDR, Berlin 2009; vgl. Christopher Görlich: Rezension zu: Häußer, Ulrike; Merkel, Marcus (Hrsg.): Vergnügen in der DDR. Berlin 2009, in: H-Soz-u-Kult, 21.07.2010, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2010-3-048> (28.04.2011).

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