I. Surynt u.a. (Hrsg.): Narrative des Nationalen

Cover
Titel
Narrative des Nationalen. Deutsche und polnische Nationsdiskurse im 19. und 20. Jahrhundert


Herausgeber
Surynt, Izabela; Zybura, Marek
Reihe
Studia Brandtiana 2
Erschienen
Osnabrück 2010: fibre Verlag
Anzahl Seiten
398 S.
Preis
€ 35,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Heidi Hein-Kircher, Herder-Institut, Marburg

Für die diskursive Konstruktion nationaler Gemeinschaften halten Nationalliteraturen wichtige Narrative und Denkfiguren wie Mythen und Symbole bereit. Die nationale Kanonisierung von Literatur stellt zugleich einen Prozess versuchter gesellschaftlicher Konsensbildung über die Bedeutung von bestimmten Dichtern und ausgewählten Werken dar, der immer wieder neu verhandelt werden muss. Dabei wird vielfach der Eindruck erweckt, dass Nationalliteraturen, die den ‚Volkscharakter‘ widerspiegeln sollen, aus einer mehr oder weniger intuitiven Entwicklung entstanden seien. Dieses gilt auch für die Entwicklung der polnischen wie der deutschen Nationalliteratur, die zu den jeweiligen nationalen Identitätsbildungen beitrugen. Weil die Geschichte von Polen und Deutschen eng miteinander verflochten war und ist, verwundert es nicht, dass die deutsche wie die polnische Nation meist in gegenseitiger Abgrenzung imaginiert wurde – die jeweils andere Nation war für die eigene Nationsentwicklung von Bedeutung, entweder als Gegenentwurf und Abgrenzung vom nationalen Eigenen oder als zu imitierendes Konzept.

Bei diesen Feststellungen setzt der anzuzeigende Band an und widmet sich der Verflechtung beziehungsweise dem gegenseitigen Nachahmen und ‚Abkupfern‘ polnischer und deutscher nationaler Konzepte in zentralen Werken der jeweiligen Nationalliteraturen. Auch wenn es grundsätzlich zu den meisten der darin erwähnten Literaten und Werken moderne Forschungen gibt, reagiert der gewählte Ansatz, die Verflechtungen und Abhängigkeiten der Diskurse zu analysieren, auf ein Forschungsdesiderat. Diesem wurde im Rahmen eines Projektes am Willy-Brandt-Zentrum für Deutschland- und Europastudien Wrocław im Studienjahr 2004/05 nachgegangen. Es trug den Titel „Nationalisiertes Denken. Zur Herstellung nationaler Welten.“ Der hieraus entstandene deutschsprachige Band, der im Vergleich zur polnischen Fassung1 um vier Beiträge erweitert wurde, umfasst insgesamt sechzehn vorwiegend literaturwissenschaftliche Beiträge.

Die drei Beiträge der ersten Sektion enthalten „Grundsätzliches“, also Überlegungen zum bis in die Gegenwart wirkungsmächtigen Ringen der Nationalliteraturen um homogene und stabile nationale Gemeinschaften. Sie bilden die konzeptionelle Grundlage der in der zweiten Sektion enthaltenen Fallstudien. Den Prozess einer Konsensbildung über die Nationalliteraturen greift Walter Schmitz in seinem Beitrag zur „Konstruktion der deutschen Nationalliteratur aus ihrer Notwendigkeit“ (Untertitel) auf, um zu verdeutlichen, wie eng sie mit Nationsbildungsprozessen verflochten sind. Da das Ringen um die Integrität der nationalen Gemeinschaft mit aktualisierten Zielsetzungen und Inhalten bis heute anhält, stellt Jürgen Joachimthaler die Abhängigkeiten von „Nation, Stil und Aufschub“ als „schmerzende Textur“ (Zitate aus dem Aufsatztitel) dar und zeigt die damit verbundenen Konflikte. Die Feststellung, dass nationale Vorzeichen die deutsche und polnische Literatur bis heute prägen, ist Ausgangspunkt für Hubert Orłowskis Studie über die Verbindung von Literatur, nationaler Identität und kulturellem Gedächtnis an der Wende zum 21. Jahrhundert.

Die Fallstudien zu den „Entwürfen des Nationalen im Vergleich“ verweisen auf die gegenseitigen Abhängigkeiten und Verflechtungen einzelner Autoren und ihrer Werke. In den Beiträgen lassen sich verschiedene Schwerpunkte feststellen: Zwei behandeln die Frage, inwieweit in die eigenen Vorstellungen auch europaweit rezipierte Konzepte einflossen. Besonders deutlich wird dies bei den romantischen Nationskonzepten. Mirosława Zielińska zeigt ein Beispiel für die (ablehnende) Hegel-Rezeption in ihrem Beitrag über die „Anti-Hegel-Prophetie der ‚Bücher des Polnischen Volkes und ihrer Pilgerschaft‘ von Adam Mickiewicz“, während German Ritz die polnische romantische Kosakenfigur analysiert und so explizit auf das Themenfeld des „Ostens“ hinweist, das letztlich von zentraler Bedeutung für zahlreiche andere Beiträge des Bandes ist.

Drei Studien widmen sich – jeweils in Bezug auf das polnische oder das deutsche Verhältnis zum Deutschen Orden – der Bedeutung von Stereotypen, Mythen und Topoi in der gegenseitigen Wahrnehmung – in ihrer gegenseitigen, von den Narrativen des Nationalen gespiegelten Wahrnehmungen. Marek Zybura zeigt dies am Beispiel des in der Romantik entstandenen negativen Deutschenbild als „Kreuzritter“ (Krzyżak), während Izabela Surynt preußisch-deutsche Diskurse über die Kreuzritter in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts als Gegennarrativ inklusive eines inhärenten Sendungsbewusstseins mit Kolonialträumen diskutiert. Die Gleichsetzung von Deutschem Orden und ‚den Deutschen‘ greift Piotr Pryzbyła in seiner diachron angelegten Analyse des deutschen und polnischen Tannenberg/Grunwald-Mythos zwischen 1789 und 1914 auf. Gerade an diesem Beispiel wird die gegenseitige Verflechtung von Mythen deutlich: ohne den polnischen Grunwald-Mythos, der auf Engste mit dem des „Kreuzritters“ verbunden ist, ist der deutsche Gegen-Mythos Tannenberg letztlich nicht denkbar.

Fragen der Literarisierung des national Eigenen und Fremden in Werken des deutschen bürgerlichen Realismus und des polnischen Positivismus werden in drei weiteten Studien diskutiert. Rudolf Urban liest Clara Viebigs Werk „Das schlafende Heer“ als Teil der Ostmarkenliteratur, obwohl es nicht den eindeutigen propagandistischen Charakter dieser Gattung hat. Dagegen stellt der Roman mit der geschilderten langsamen und vorsichtigen Assimilierung eine Alternative zu den gewaltvollen Methoden der Germanisierungspolitik vor. Anna Wala und Magdalena Lasowy widmen sich den Werken von Bolesław Prus. Erstere untersucht Prus’ Chroniken in Hinblick auf die Darstellung der polnischen Laster und deutschen Tugenden, mit denen der Autor – das Wohl der Nation, das er gefährdet sah, im Blick – Veränderungen im Denken seiner Zeitgenossen hervorzurufen wollte. Magdalena Lasowy dagegen vergleicht die Darstellungen des städtischen Raums, des Adels und des Bürgertums von Prus mit denen Gustav Freytags, durch die eigene nationale Identitätsentwürfe präsentiert werden.

Die Beiträge zu zeitgeschichtlichen Aspekten in der Gegenwartsliteratur weisen auf die „Reaktualisierung“ (S. 7) von Narrativen, Symbolen und Topoi der Nationsdiskurse hin. So diskutiert Dariusz Wojtaszyn am Beispiel des Umgangs der DDR-Regierung mit der Solidarność-Bewegung die Aktualität und Langlebigkeit von Stereotypen. Malwina Orepuk thematisiert die Bedeutung der Erinnerung an die Zerstörung Dresdens für das städtische Selbstbild, während Eva und Hans Henning Hahn den „deutschen Osten“, der erst in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts diskursiv als Teil deutscher Identität aufgebaut worden ist, als „verlorenes Traumland“ diskutieren. Über die bilaterale Perspektive hinaus gehen die Beiträge von Oliver Geisler über die Exklusionsstrategien in Wilhelm Rabes Roman „Der Hungerpastor“ und von Annette Teufel über die Entwürfe der jüdischen Nation und die Gründungsmythen des Staates Israel.

Die für diesen Band ausgewählten literaturwissenschaftlichen Fallstudien verdeutlichen die gegenseitigen Abhängigkeiten und Verflechtungen von Diskursen über die Nation vor allem in der Belletristik. Die wenigen geschichtswissenschaftlichen Beiträge sollen diese Prämisse untermauern, bleiben aber letztlich isoliert stehen. Daher scheint der polnische Titel „die erzählte Nation“ die Intentionen der Herausgeber treffender zu beschreiben als der deutsche. Auch wenn die Beiträge der ersten Sektion einige grundsätzliche Reflexionen zur Bedeutung der „Narrative des Nationalen“ liefern, fehlt dem Band eine theoretische Klammer, durch die die gegenseitigen Beeinflussungen in der Literatur und deren Auswirkungen auf die Nationsdiskurse in die gegenwärtige Nationalismusforschung eingeordnet werden. Viele der Einzeluntersuchungen aber liefern dennoch zahlreiche Impulse zu weiteren, auch über den deutsch-polnischen Kontext hinaus gehenden Studien zur Verflechtung von Nationsdiskursen.

Anmerkung:
1 Izabela Surynt / Marek Zybura (Hrsg.), Opowiedziany naród. Literatura polska i niemiecka wobec nacjonalizmów XIX wieku [Die erzählte Nation. Polnische und deutsche Literatur gegenüber der Nationalismen des 19. Jahrhunderts], Wrocław 2006.

Redaktion
Veröffentlicht am
Redaktionell betreut durch
Klassifikation
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit
Weitere Informationen
Sprache der Publikation
Sprache der Rezension