S. Lape: Race and Citizen Identity in the Classical Athenian Democracy

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Titel
Race and Citizen Identity in the Classical Athenian Democracy.


Autor(en)
Lape, Susan
Erschienen
Anzahl Seiten
XII, 341 S.
Preis
₤ 55,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Jan Timmer, Institut für Geschichtswissenschaft, Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn

Demokratische Mehrheitsverfahren sind voraussetzungsreich: Neben der Gleichgewichtung der abgegebenen Stimmen und der damit verbundenen Abstraktion von der gesellschaftlichen Position eines Akteurs bedarf es der Existenz bzw. Ausbildung einer kollektiven Identität, die individuelle Eigeninteressen zurückdrängt, gemeinsame Interessen an deren statt zum Gegenstand des Entscheidungshandelns macht, im Idealfall zur Grundlage von solidarischen Interaktionsorientierungen wird und damit die Legitimität der über das demokratische Mehrheitsverfahren hergestellten Entscheidung sicherstellt. Eine solche kollektive Identität kann dabei auf ganz unterschiedlichen Faktoren ruhen. Zu den gängigen und aufgrund ihrer „objektiven“ Natur besonders geeigneten gehören Faktoren wie gemeinsame Abstammung, Geschichte, Sprache oder regionale Herkunft.

Susan Lape macht in ihrer Studie die Übersteigerung der Bürgeridentität in Athen zum Thema und richtet ihren Fokus dabei auf ein Narrativ, das sie in Anlehnung an moderne Modelle als racial citizenship konzipiert. Gefragt wird nach Entstehung und Folgen einer Argumentationsstruktur, in der der Bürgerstatus im Wesentlichen abhängig von Geburt und Abstammung ist. Diese Fragestellung wird in sechs Kapiteln verfolgt.

In einem ersten Abschnitt „Theorizing Citizen Identity“ (S. 1-60) legt Lape die Grundlagen für ihre weitere Argumentation. Dabei ist sie sich des Problems der Verwendung des racial-citizenship-Konzepts bewusst und bemüht sich, Differenzen zwischen modernen Ausformungen und antiker Anwendung deutlich zu machen. Die Leistung des Narrativs liegt ihr zufolge vor allem in der Begründung der Verteilung gesellschaftlich knapper Güter. Das Konzept race übertüncht soziale und ökonomische Ungleichheit und dient damit als Brücke für politische Gleichheit (S. 43). Zudem gibt sie einen Überblick über die historische Entwicklung der Bürgeridentität von solonischer Zeit bis ins 4. Jahrhundert v.Chr., wobei sie die Bedeutung der kleisthenischen Reformen und des perikleischen Bürgerrechtsgesetzes hervorhebt.

Das nächste Kapitel „The Rhetoric of Racial Citizenship“ (S. 61-94) verfolgt anhand von Beispielen aus der alten Komödie und den Rednern des 4. Jahrhunderts v.Chr., wie Personen unter Verweis auf ihre Abstammung oder indem ihnen etwa fehlende Beherrschung der Sprache zugeschrieben wurde, herabgesetzt werden konnten. Daneben geht sie auf die Verbindung von attischer Abstammung und der Vorstellung eines gleichsam natürlich daraus resultierenden demokratischen Verhaltens ein. Im Folgenden wendet sich Lape dann der Einzelinterpretation von Euripides’ Ion zu (Euripides „Ion“ and the Family Romance of Athenian Racialism, S. 95-136), von dem sie annimmt: „the Ion specifically rewrites the myth of autochthony in the racialist terms made possible by the passage of the Periclean citizenship law“ (S. 57). Der Autochthoniegedanke spielt auch im vierten Kapitel (Athenian Identity in History and as History S. 137-185) eine zentrale Rolle. Lape untersucht die Geschichtsschreiber des 5. Jahrhunderts, stellt fest, dass bei diesen die Vorstellung von der Autochthonie der Athener keine Rolle spielt und folgert, dass gerade Thukydides während des Krieges gegen die Folgen des attischen Rassismus angeschrieben habe (S. 139). Danach thematisiert Lape unter der Überschrift „of Citizen Identity Policing and Producing the Racial Frontier“ (S. 186-239) zunächst die Frage, durch welche Verfahren die Rechtmäßigkeit des Bürgerrechts sichergestellt und wie mit solchen Personen, die sich das Bürgerrecht zu Unrecht anmaßten, umgegangen wurde. Die Verfasserin verbindet ihre Überlegungen dann in einem weiteren Schritt mit Einzelinterpretationen, etwa zu Apollodoros Gegen Neaira.

Das letzte Kapitel „Myths and Realities of Racial Citizenship“ (S. 240-284) untersucht das Verhältnis des racial citizenship zu einem entgegengesetzten Modell von Athen als hilfegewährender und fremdenfreundlicher Polis, wie es in der Tragödie etwa beim Schutz der Kinder des Herakles oder bei der Darstellung der Hilfe für die Argiver gezeichnet wird. Daneben wird das Verhältnis von übersteigerter, auf gemeinsamer Abstammung beruhender Identität und Einbürgerung thematisiert. Abkürzungs- und Literaturverzeichnis sowie ein Index beschließen das Buch (S. 285-341).

Den zentralen Einwand gegen das Konzept thematisiert Lape in ihrer Einleitung und darüber hinaus mehrfach im Text bereits selbst: Ihre Ergebnisse sind durchaus auch ohne das in seiner Übertragung auf antike Verhältnisse nicht unproblematische Konzept von racial citizenship zu erzielen. Gerade dadurch, dass sich Lape von modernen Implikationen zu Recht distanziert und die Andersartigkeit griechischer Verhältnisse betont, bleibt offen, worin der Gewinn der Verwendung des Ansatzes liegt.

Auf zwei weitere Schwächen des Buches ist zumindest kurz zu verweisen: Die erste betrifft die Entwicklungsperspektive des racial-citizenship-Diskurses. Lape verweist mehrfach auf dessen Veränderungen; sowohl dort, wo sie über die Bedeutung des perikleischen Bürgerrechtsgesetzes spricht, als auch mit Blick auf Unterschiede zwischen 5. und 4. Jahrhundert v.Chr. Einer Entwicklungsperspektive steht aber der Aufbau des Buches entgegen. Dadurch, dass bereits im ersten inhaltlichen Kapitel die Redner des 4. Jahrhunderts v.Chr. abgehandelt, und erst darauf Euripides und im dritten Kapitel die Geschichtsschreibung des 5. Jahrhunderts behandelt werden, treten die Entwicklungslinien nicht klar hervor.

Daneben – das ist dem Ansatz des Buches geschuldet – verzichtet Lape auf intensivere Versuche, die beobachteten Phänomene auch zu erklären. Welche Funktion der Übersteigerung kollektiver Identität in einem demokratischen Mehrheitssystem zukommt, wird nicht behandelt.

Insgesamt handelt es sich aber – und zwar insbesondere dort, wo Lape sich einzelnen Quellen und ihrer Interpretation widmet – um einen interessanten Beitrag zur Frage, mit Hilfe welcher Erzählmuster und Argumente kollektive Identität im klassischen Athen konstruiert wurde.

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