Titel
Tod aus der Luft. Kriegsgesellschaft und Luftkrieg in Deutschland und England


Autor(en)
Süß, Dietmar
Erschienen
München 2011: Siedler Verlag
Anzahl Seiten
717 S., 5 Abb.
Preis
29,99
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Ralf Blank, Historisches Centrum Hagen

Die Luftangriffe auf deutsche Städte im Zweiten Weltkrieg rückten zu Beginn des 21. Jahrhunderts verstärkt in den Fokus der Geschichtswissenschaft. Das 2002 erschienene Buch „Der Brand“ des Schriftstellers Jörg Friedrich und die um ‚Tabu und Trauma‘ entfachte Debatte um die Verortung des Bombenkriegs in der deutschen Geschichte und im Gedächtnis der Nachkriegsgesellschaft gaben wichtige Impulse. Dass der damals wie heute kontrovers geführte Diskurs und die Forschungen längst noch nicht abgeschlossen sind, belegt auch das vorliegende Buch „Tod aus der Luft“ von Dietmar Süß. Der Autor gehört zu einer Gruppe von Historikerinnen und Historikern, die sich dem Bombenkrieg in den vergangenen Jahren unter politischen sowie sozial- und kulturhistorischen Aspekten angenähert haben.1 Gerade diese Sichtweise auf den Luftkrieg wurde lange Jahre vernachlässigt und ignoriert, standen doch der Blick auf die Opfer und Zerstörungen sowie streng militärhistorische Gesichtspunkte im Vordergrund des überwiegenden Teils der Forschungen und Publikationen.

Militärgeschichtliche Darstellungen über den Luftkrieg ergehen sich oftmals in endlosen Kolonnen von Zahlen und Statistiken von Todesopfern, eingesetzten Flugzeugen, Abwurftonnagen, Bombentypen, Trümmermengen und Produktionsverlusten sowie häufig minutiösen Schilderungen von Operationen und Schlachten, um darüber den Blick auf die schwerwiegenden Auswirkungen und nachhaltigen Folgen der Bombardierungen auf die Kriegsgesellschaft in den betroffenen Ländern zu verlieren. Alle bisherigen Versuche, die Deutungshoheit über den Bombenkrieg zu gewinnen, wie es etwa die beiden Publizisten David Irving mit seinem Buch „Und Deutschlands Städte starben nicht“ (1964) und Jörg Friedrich in „Der Brand“ (2002) unternahmen, mussten ebenso wie weitere ähnliche Publikationen schon im Ansatz scheitern. Denn bei näherer Betrachtung erweist sich der Luftkrieg als ein dichtes Geflecht verschiedenster Ereignisse, Rückwirkungen und Wahrnehmungen, das nicht so einfach entwirrt und abschließend übergreifend dargestellt werden kann. Allein die Auswertung der beinahe Legion zählenden Lokalstudien seit der frühen Nachkriegszeit, eingebunden in ein engmaschiges Netz einer von Stadt zu Stadt unterschiedlich ausgeprägten Erinnerungs- und Gedenkkultur, erfordert eine eingehende Betrachtung.

Eine solche vorsichtige Betrachtung erscheint notwendig und sinnvoll, ist der Luftkrieg doch ein Thema, das international, und hier besonders in Deutschland und England, vorwiegend aus populärwissenschaftlicher und militärtechnischer Sicht tradiert wird. Angefangen beim 1955 entstandenen Spielfilm „The Dam Busters“ über den Spezialverband des britischen Bomber Command, der im Mai 1943 die Staudämme von Möhne und Eder „geknackt“ hatte, über die melodramatische Fernsehproduktion „Dresden“ bis hin zu zahlreichen TV-Dokumentationen, vielfältigen Internet-Angeboten und sogar Computerspielen erfährt der Luftkrieg bis heute eine breite und umfassende öffentliche Rezeption. Dabei ist der „Tod aus der Luft“ auch zu Beginn des 21. Jahrhunderts immer noch gegenwärtig, wie die Kriege in Afghanistan und gegen den Irak sowie der jüngste Nato-Einsatz in Libyen in aller Deutlichkeit zeigen.

Dietmar Süß’ Buch „Tod aus der Luft“, das auf seiner 2010 von der Philosophischen Fakultät der Friedrich-Schiller-Universität Jena angenommenen Habilitationsschrift fußt, wählt einen ungewöhnlichen Ansatz. Im Mittelpunkt steht nicht allein der Bombenkrieg gegen Deutschland und seine Auswirkungen, sondern eine vergleichende Darstellung zwischen zwei unterschiedlichen Kriegsgesellschaften „unter Bomben“ im nationalsozialistischen Deutschland und demokratischen England. Wer die vielschichtigen Aspekte der Luftkriegsführung auf deutscher und alliierter Seite im Blick behält und die beinahe unübersehbare Anzahl von Publikationen über den Luftkrieg auf lokaler, regionaler und nationaler Ebene in Deutschland und Großbritannien berücksichtigt, kann dem Mut des Autors, ein derartig schwieriges Projekt zu beginnen und auch zu beenden, nur Bewunderung zollen.

Süß gliedert sein Buch in zehn Kapitel, denen als Forschungsüberblick eine anspruchsvolle und inhaltlich zusammenfassende Einleitung vorangestellt ist. Schon diese Einleitung zeigt, dass das Buch alles andere als eine Wiederholung früherer Thesen und Deutungen enthält. Süß räumt vielmehr gleich zu Beginn (S. 11 f.) mit manchen irrigen Vorstellungen auf, wie beispielsweise der Mär vom „Bomber Harris“, dem Chef des britischen Bomber Command ab Februar 1942 Arthur T. Harris, dem gerne und beharrlich bis heute die alleinige Schuld an den schlimmen Auswirkungen der Flächenangriffe auf deutsche Städte zugeschoben wird.

Süß sieht den Luftkrieg als eine „spezifische Form von Gewalt moderner Gesellschaften im 20. Jahrhundert“ (S. 16). Gleichzeitig fordert der Autor, dass die Geschichte des Luftkriegs sich „stärker als bisher mit dem ‚Krieg als Gesellschaftszustand‘ und damit mit der herrschafts-, kultur- und erfahrungsgeschichtlichen Bewältigung der Bombardierungen in Deutschland und England beschäftigen“ sollte. Schließlich waren es deutsche Bomber (und später auch Marschflugkörper und Fernraketen), die englische Städte angegriffen haben. Auf der anderen Seite flogen englische Bomber seit 1940 Nacht für Nacht und in der Kriegsendphase auch am Tage ins Reichsgebiet, um bis April 1945 alle deutschen Großstädte und zahlreiche Klein- und Mittelstädte in Schutt und Asche zu legen.

Eingebettet in diesen Aufbau steht der Vergleich zwischen der nationalsozialistischen Volksgemeinschaft und dem britischen People War. Hier konstatiert Süß mit Recht, dass eine umfassende Studie zur Sozial- und Kulturgeschichte des Luftkriegs, über die Kriegsgesellschaften an der Heimatfront / Home Front, noch immer ein Desiderat ist.

Die zehn Kapitel des Buches spannen einen weiten Bogen über die in der Einleitung skizzierten Fragestellungen und Thesen. Das Kapitel I („Krieg der Zukunft 1900-1939“) gibt einen Überblick zur Vorgeschichte des Luftkriegs sowie zu den Planungen und Konzepten vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs. Hier konnte Süß sich auf ein breites Spektrum militärgeschichtlicher Publikationen stützen, die er kritisch bewertet und zusammenfassend interpretiert. Gelungen sind dabei besonders auch die Ausführungen über „Luftschutz und Volk“, die für England und Deutschland unterschiedliche Entwicklungen und Positionen nachzeichnet. Während in Deutschland ab 1933 von staatlicher und parteiamtlicher Seite ein politisierter und auch ideologisierter, in jedem Fall progressiv forcierter Luftschutz betrieben wurde, rückte in England erst der Spanische Bürgerkrieg und die Bombardierung von Guernica den Luftschutz verstärkt in das öffentliche Interesse. Letztlich und im Vergleich zu Deutschland waren die Bemühungen bis 1939 eher zurückhaltend und bescheiden. Ob der Versuch einer volksgemeinschaftlichen Mobilisierung durch den Luftschutz im nationalsozialistischen Deutschland tatsächlich ein „Wettbewerbsvorteil“ (S. 48) gewesen war, sei dahingestellt. Tatsächlich brachen der Luftschutz in Deutschland, trotz des im Oktober 1941 befohlenen „LS-Führerprogramm“ zur Errichtung von großen Hochbunkern in den deutschen Großstädten, und seine straffe Organisation seit 1943 infolge der massiven alliierten Bombardierungen recht schnell in sich zusammen, weil die gravierenden Auswirkungen derartiger Luftbombardements vor 1939 kaum vorstellbar waren. In England bestand nach dem Ende der schweren deutschen Luftangriffe im Mai 1940 keine Notwendigkeit für umfassende Luftschutzmaßnahmen mehr.

Das zweite Kapitel („Bombenkrieg, Öffentlichkeit und Kriegsmoral“) widmet sich einem Kernpunkt des modernen Luftkriegs, nämlich dem Krieg aus der Luft gegen die Gesellschaft eines Gegners. Auch in England nahmen die Kriegsmoral und sie unterstützende Maßnahmen eine wichtige Funktion ein. Einen wesentlichen Anteil hatte die „Mass-Observation“ des Informationsministeriums, mit deren Hilfe die öffentliche Meinung und die Moral in der britischen Bevölkerung in den ersten Jahren des Kriegs erforscht und gelenkt werden sollten - mit nur mäßigem Erfolg, wie sich zeigen sollte. Im Frühjahr 1940 startete eine von Churchill initiierte Kampagne gegen „Gerüchteverbreiter“, mit der mittels von Plakaten versucht wurde, die Verbreitung von persönlichen Ansichten zum Kriegsverlauf zu unterbinden. Diese Kampagne erwies jedoch als Fehlschlag, da vor allem die Presse massive Kritik übte. In Deutschland hingegen fanden derartige Kampagnen aufgrund der gleichgeschalteten Presse keine Grenzen – beispielhaft sei hier nur der „Kohlenklau“ und „Feind hört mit!“ genannt.

An der nationalsozialistischen Heimatfront stand von Anfang an die „Luftschutzgemeinschaft“ im Vordergrund einer parteiamtlichen und staatlich verordneten volksgemeinschaftlichen Abwehr gegen die alliierten Bombardierungen. Ähnlich wie in England wurde auch in Deutschland der Kampf gegen die Verbreitung von „Gerüchten“ aufgenommen, allerdings mit weitaus drakonischeren Strafen und Folgen für ihre Urheber bzw. im Verdacht stehende Personen. Hier spielte der Sicherheitsdienst der SS (SD) eine tragende Rolle. Süß zeichnet detailliert und inhaltlich ergiebig für Deutschland das Bild der Heimatfront „unter Bomben“ und Parteidiktatur, die sich im Kriegsverlauf immer stärker verschärfte und mehr und mehr in Terror mündete. Dicht und quellennah gelingt es dem Autor, auch gesellschaftliche, soziale und politische Aspekte in die Darstellung einzubeziehen, um so die differenten Entwicklungen zweier Kriegsgesellschaften in unterschiedlichen Systemen aufzuzeigen.

Eine ähnlich umfassende, quellennah geschriebene Darstellung findet sich auch in den folgenden Kapiteln: III „Die Organisation der Notstandsgesellschaft“, IV „Stadt und Krieg“, V „Die Kirchen und der Luftkrieg“, VI „Angst und Ordnung: Bunkerleben“, VII „Luftkriegserfahrungen“, VIII „Tod im Luftkrieg“, IX „Erinnerungen an den Bombenkrieg in der frühen Nachkriegszeit“ und X „Lehren des Luftkriegs“. Vor allem die Kapitel IX und X eröffnen trotz ihrer sehr dichten und komplexen Schilderung neue Perspektiven und interessante Aspekte, die noch in keiner anderen Veröffentlichung bisher so deutlich und eindringlich behandelt wurden. Süß’ Studie zeigt, dass auf britischer Seite der Luftkrieg gegen Deutschland durchaus kontrovers diskutiert wurde, vor allem auch wegen der hohen Verluste und Sachschäden. Dennoch galten die Bomben auf Deutschland als ein „notwendiges Übel“ (S. 491). Das Gedenken an den militärischen Sieg war allerdings mit der „Battle of Britain“ wesentlich besser zu verknüpfen als mit den Flächenbombardierungen deutscher Städte. Der Autor greift anhand einiger bekannter Beispiele auch die mediale und filmische Rezeption des Bombenkriegs, etwa im Film „The Dam Busters“ (S. 495 f.) auf. Sehr aufschlussreich ist auch die Darstellung über die Opfer des Luftkriegs und über den Umgang mit seelischen Schäden, Psychiatrie und Kriegserfahrungen in Deutschland und England. Diese Aspekte wurden in der deutschsprachigen Literatur bisher nur rudimentär untersucht und dargestellt, ebenso wie die Rolle der Kirchen, die Süß ausgiebig thematisiert.

Im Kapitel X greift Süß unterschiedliche Bereiche auf, die von der „Politik der Versöhnung“, „Coventry und Dresden“, „Monumentalisierung und Zeitzeugenschaft“ bis hin zu „Tabu“ und „Traumatisierung“ und das „Ende des Good War“ reichen. Hier sind vor allem die Darstellungen über die beiden kommunalen Symbole für den Luftkrieg, Coventry und Dresden, sowie über die seit dem umstrittenen Buch des Schriftstellers Jörg Friedrich aufgekommenen Thesen von Tabu und Trauma besonders interessant.

Auf den ersten Blick wirkt das Buch „Krieg aus der Luft“ von Dietmar Süß aufgrund des Vergleichs zwischen NS-Deutschland und England sowie wegen der darin enthaltenen Thesen und Forschungsansätze ein wenig gewagt. Doch schon nach der Lektüre der Einleitung erweist es sich als eine sehr gut und nachvollziehbar geschriebene Studie. Das leichte Unbehagen, das der Rezensent wegen des thematischen Rahmengerüsts verspürt hatte, verflog spätestens bei der Durchsicht des zweiten Kapitels. Belohnt wurde er mit einer profunden Darstellung und kenntnisreichen Untersuchung, die zudem auch sprachlich fesseln kann. Hinzu kommt, dass der deutsche Luftkrieg gegen England bislang nur aus militärgeschichtlicher Sicht thematisiert wurde, während die Auswirkungen und Folgen der deutschen Bombardierungen auf die britische Bevölkerung in Deutschland weitgehend ausgeklammert geblieben sind. So bleibt der mehr als zufriedene Eindruck eines besonders empfehlenswerten, inhaltlich anspruchsvollen und längst überfälligen Buches, das gute Grundlagen liefert und den Maßstab für weitergehende Untersuchungen und Studien setzt.

Anmerkung:
1 Vgl. Jörg Arnold/Dietmar Süß/Malte Thießen (Hrsg.), Die "Katastrophe" im europäischen Gedächtnis – Erinnerung an den Luftkrieg 1940-2000, Göttingen 2009; Dietmar Süß (Hrsg.), Deutschland im Luftkrieg. Geschichte und Erinnerung, München 2007.

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