Titel
Freude und Arbeit. Zur internationalen Freizeit- und Sozialpolitik des faschistischen Italien und des NS-Regimes


Autor(en)
Liebscher, Daniela
Reihe
Italien in der Moderne 16
Erschienen
Köln 2009: SH-Verlag
Anzahl Seiten
693 S.
Preis
€ 49,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Patrick Bernhard, Freiburg Institute for Advanced Studies (FRIAS), Albert-Ludwigs-Universität Freiburg im Breisgau; Anne Rohstock, Fakultät für Sprachwissenschaften und Literatur, Geisteswissenschaften, Kunst und Erziehungswissenschaften, Université du Luxembourg

Transnationalität als perspektivische Erweiterung des ehedem nationalen Zugangs zu historischen Themen steht auch in der Zeitgeschichte seit geraumer Zeit hoch im Kurs. Anspruch und Wirklichkeit dieses boomenden Forschungskonzepts klaffen allerdings immer noch erstaunlich häufig auseinander. So haben bisher nur wenige Arbeiten vermocht, die Überwindung der nationalen Engführung nicht nur methodisch zu reflektieren, sondern auch empirisch einzulösen. Darüber hinaus ist die scheinbar so undogmatische Perspektive der transnationalen Geschichtsschreibung allzu oft von Vorannahmen geprägt, die ihre an sich wohltuende und dringend einzufordernde Paradigmenlosigkeit konterkarieren.1 Während die hier zu besprechende Dissertation der in Berlin lebenden Historikerin Daniela Liebscher in ihren quellengesättigten, starken Passagen den Beweis dafür liefert, wie ertragreich ein konsequent transnationaler Zuschnitt mit bescheidenem Anspruch sein könnte, zeigen die schwächeren Kapitel vor allem eines: die weitreichenden Konsequenzen, die eine missverstandene Transnationalität hat, die ihrerseits und paradoxerweise monokausale Erklärungsansätze sucht.

Gegenstand der Dissertation ist die Sozial- und Freizeitpolitik des Dritten Reichs und des faschistischen Italiens in beziehungsgeschichtlicher Perspektive. Die Kapitel, in denen es um gegenseitige Wahrnehmung, Wissenstransfer und Kooperation der Regime untereinander geht, bilden die eindeutige Stärke des Buches. So kann Liebscher etwa am Beispiel der 1925 ins Leben gerufenen italienischen Freizeitorganisation Dopolavoro zeigen, auf welch breiten Wegen der Vermittlung Wissen um den Faschismus nach Deutschland gelangte; die 1933 gegründete NS-Organisation „Kraft durch Freude“ war letztlich eine nahezu detailgenaue Kopie des italienischen Vorbilds. In Deutschland kannte die Faszination für das neue Ordnungsmodell südlich der Alpen offensichtlich kaum Grenzen. Mussolini galt schlicht als politisches Genie. Sein Ansehen war sogar so groß, dass man Italien in den Auseinandersetzungen innerhalb der NSDAP als Argument benutzte. Liebscher weist hier beispielsweise auf Goebbels Interesse an der faschistischen Gewerkschaftspolitik hin, weil der Gauleiter von Berlin die Nationalsozialistische Betriebszellenorganisation unterstützte, wo sich der „linke“ Flügel der NS-Bewegung gegen unternehmerfreundliche Gruppierungen konzentrierte.

Auf eng gesetzten 700 Seiten, die der Leser leider vergeblich nach einer strukturierenden Forschungsfrage durchsucht, hat sich Liebscher allerdings noch eine andere Aufgabe gestellt. Sie will nicht nur die bilateralen Wechselbezüge zwischen Italien und Deutschland untersuchen, sondern auch das sozialpolitische Beziehungsgeflecht zwischen den beiden Regimen und der Internationalen Arbeitsorganisation (IAO), einer in Genf beheimateten Organisation des Völkerbunds, durchleuchten. An diesem Anspruch scheitert die Autorin in weiten Teilen. Die Bedeutung von Genf für die Ausprägung von Konvergenzen und Divergenzen zwischen Italien und Deutschland wird schlicht überschätzt – und das in zweifacher Hinsicht. Zum einen finden Spezifika, die sich aus der jeweiligen Nationalgeschichte des Landes erklären, kaum Berücksichtigung. Liebscher spricht vielmehr davon, dass sich die strukturellen Unterschiede zwischen den Regimen „zu einem Großteil“ aus den unterschiedlichen internationalen Kontexten erklären ließen, die bei der Machergreifung Mussolinis 1922 und Hitlers 1933 bestanden (S. 622). So kommt sie etwa zu der reichlich konstruierten Einschätzung, dass in der Frage der Beziehung von Staat und Partei im Sozialbereich Genfer Einflüsse so stark gewesen seien, dass sich in Deutschland und Italien trotz aller Nähe letztlich je unterschiedliche Modelle durchgesetzt hätten. Einen echten Beweis kann sie dafür jedoch nicht anführen. Sie übersieht zudem, dass in beiden Diktaturen in vielen anderen Politikbereichen das Verhältnis von Partei und staatlicher Bürokratie ebenfalls immer wieder neu bestimmt wurde, ohne dass in jedem dieser Fälle der Völkerbund als Impulslieferant gedient hätte. Hier gerät also die Transnationalisierung der Perspektive kurioserweise zum Dogma; nationale Pfadabhängigkeiten, die die Forschung gerade für die sozialpolitische Ausgestaltung Deutschlands sehr hoch veranschlagt, spielen in diesem Interpretationsrahmen letztlich keine Rolle mehr.2

Zum anderen lässt sich auch die Adaption von „Kraft durch Freude“ nicht direkt auf Genf zurückführen, wie das Liebscher behauptet (S. 616). Es handelte sich im Gegenteil um einen indirekten Wirkungszusammenhang. Liebscher selbst gesteht an anderer Stelle ein, dass sie keinen Transfer von Genf nach Berlin nachweisen kann (S. 401). Das empirische Material, das sie in diesem Kontext ausbreitet, spricht sogar eine ganz andere Sprache: Höchstwahrscheinlich ist, dass das faschistische Regime Genf gar nicht bedurfte, um für sich im Ausland Werbung zu machen. Wie beim Lesen deutlich wird, startete die Propagandakampagne, die Italien etwa in Deutschland betrieb, bereits 1922 und damit zeitgleich zum Engagement des Landes in Genf. Und es war diese Kampagne, die die Grundlage für Transfers und eine immer engere Kooperation zwischen dem Dritten Reich und dem faschistischen Italien bildete. In anderen Worten: Erneut verstellt die an sich wünschenswerte Einbettung des Forschungsgegenstandes in einen größeren internationalen Rahmen den Blick auf alternative Lesarten: So wäre mit den engen bilateralen Beziehungen ein in letzter Konsequenz vermutlich wirkungsmächtigeres Beziehungsgeflecht in den Vordergrund zu stellen gewesen. Trotz aller Vorbehalte und Misstrauen zwischen den beiden Achsenpartnern scheint es sich ja letztlich doch um einzigartig enge Kontakte gehandelt zu haben. Als ausgewiesene Sozialexpertin hätte Liebscher einen Vergleich mit anderen binationalen Austauschbeziehungen wagen müssen, um die Intensität der deutsch-italienischen Beziehungen überhaupt angemessen beurteilen zu können.

Die Kritik an Liebschers Arbeit richtet sich damit nicht auf unbedeutende Fehler im Detail. Ganz im Gegenteil: Es geht vielmehr um die grundlegende Frage, wie sich die beiden Rechtsdiktaturen zueinander verhielten, wie ihre Geschichten in den größeren internationalen Kontext einzubetten sind und mit welchem Maßstab man die Verflechtungen, die sich auf binationaler und internationaler Ebene ergaben, richtig bemisst. Das gilt umso mehr, als man das Bemühen Liebschers, Genf zum Dreh- und Angelpunkt aller Erklärungen zu machen, auch böswillig auslegen kann: dass die Verantwortung für das Aufkommen totalitärer Sozialpolitik nämlich bei den westlich-liberalen Demokratien lag. Den Vorwurf, damit fundamentale Unterschiede zu verwischen, hat man ähnlich argumentierenden Studien bereits gemacht.3 Es wäre sehr wünschenswert gewesen, wenn Liebscher diese Kritik stärker aufgegriffen hätte.

In ihrem Bemühen, die deutsche und italienische Zeitgeschichtsforschung aus ihrer nationalen Engführung zu befreien, schießt Daniela Liebscher über das Ziel hinaus. Zugleich hat sie aber eine Studie vorgelegt, die ausgesprochen interessante Transferprozesse zwischen dem Dritten Reich und dem faschistischen Italien aufzeigt und so unser Wissen um die wechselseitigen Beeinflussungen beider Diktaturen deutlich erweitert hat.

Anmerkungen:
1 Die Wichtigkeit, transnationale Geschichte nicht als Paradigma oder Methode zu verstehen, macht deutlich: Kiran Klaus Patel: Transnationale Geschichte – Ein neues Paradigma?, in: H-Soz-u-Kult, 02.02.2005, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/forum/id=573&type=artikelikel> (23.05.2011).
2 Winfried Süß, Der Wohlfahrtsstaat in einer Zeit vielfältigen Aufbruchs. Zur sozialpolitischen Bilanz der Reformära, in: Hans Günter Hockerts (Hrsg.), Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland seit 1945, Bd. 5: Bundesrepublik Deutschland 1966-1974. Eine Zeit vielfältigen Aufbruchs, Baden-Baden 2006, S. 943-962, hier: S. 962.
3 Siehe die Rezension von Hans Woller zu Wolfgang Schivelbusch, Entfernte Verwandtschaft, in: Neue Zürcher Zeitung vom 30.3.2005, sowie Jörg Baberowski, Moderne Zeiten? Einführende Bemerkungen, in: Ders. (Hrsg.), Moderne Zeiten? Krieg, Revolution und Gewalt im 20. Jahrhundert, Göttingen 2006, S. 7-11, bes. S. 8.

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