Titel
Die Siedlerbewegung. Fundamentalismus in Israel


Autor(en)
Hagemann, Steffen
Erschienen
Schwalbach am Taunus 2010: Wochenschau-Verlag
Anzahl Seiten
504 S.
Preis
€ 49,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Peter Lintl, Politik und Zeitgeschichte des Nahen Ostens, Institut für Politische Wissenschaft, Universität Erlangen-Nürnberg

Bei der vorliegenden Monographie handelt es sich um die überarbeitete Fassung der Dissertation von Steffen Hagemann, die er am Institut für Politikwissenschaften der Freien Universität Berlin vorgelegt hat. Damit widmet sich der Autor einem Thema, zu dem bereits unter verschiedensten Gesichtspunkten publiziert wurde. Genau dies ist auch der Anknüpfungspunkt Hagemanns: Ihm geht es weniger darum, neue empirische Erkenntnisse darzulegen, als vielmehr die unterschiedlichen Aspekte der Forschung in einem umfassenden Analyseansatz zu vereinen, um so eine ganzheitliche Erklärung für das Siedler-Phänomen vorlegen zu können. In einer „multifaktorielle[n] Analyseperspektive“ (S. 29) befasst sich Hagemann daher mit unterschiedlichen Aspekten der Bewegung wie Ideologie, Anhängerschaft, politischer Arbeit, Einbettung in die Gesellschaft oder interner Differenzierung.

Vor diesem Hintergrund entwickelt er im ersten Kapitel einen Ansatz, der Fundamentalismustheorien, Theorien zu sozialen Bewegungen und politischen Gelegenheitsstrukturen miteinander vereint. Damit will Hagemann einerseits Ideologie und Strukturen fundamentalistischer Bewegungen charakterisieren und andererseits ihr Verhalten in ihrem spezifisch historisch-sozialen Umfeld analysieren. Zusätzlich ergänzt Hagemann diesen theoretischen Ausgangspunkt je nach Betrachtungsfeld um weitere theoretische Elemente, wie zum Beispiel ‚kognitive Dissonanz‘ und ‚gescheiterte Prophetie‘ (S. 325ff.) (zur Erklärung der Differenzierung)‚ Hegemonie- und Nationalismustheorien (S. 235-251) (zur Verhältnisbeschreibung verschiedener Narrativen), ‚diagnostische framing Analysen‘, die im ‚Diskursfeld‘ der ‚Bewegungsnarrativen‘ verortet werden (S. 29ff) (zur Erklärung, wie Texte unter bestimmten politischen Umständen gelesen werden) und weitere mehr.

Unter diesen theoretischen Prämissen beleuchtet Hagemann sehr kenntnisreich verschiedene Themenfelder im Zusammenhang mit dem Phänomen Gush Emunim. Er widmet sich der messianischen Ideologie sowie der Genese der Bewegung (Kapitel 2) und beschreibt ihre politische Aktivität durch eigene Parlamentarier, Lobbyarbeit oder außerparlamentarischen Protest (Kapitel 3).

Im Anschluss daran hebt Hagemann hervor, wie zentral die Kooperation zwischen Siedlern und Säkularen zur Förderung des Siedlungsprojekts war. Er unterstreicht dies, indem er herausarbeitet, dass die Affinität zwischen den Narrativen der nationalreligiösen Siedlerbewegung und den säkularen Zionisten die ideologische Voraussetzung für die Förderung des Siedlungsprojekts durch die säkulare Mehrheit war (Kapitel 4). Gleichzeitig zeigt er aber auch die sich im Laufe der Zeit entwickelnden Konfliktlinien zwischen beiden Narrativen auf, die letztlich im Oslo-Abkommen und im Abzug aus Gaza sichtbar wurden. Die daraufhin folgende Krise im Lager der Nationalreligiösen resultierte in einem Überdenken ihres Verhältnisses zu Staat und Gesellschaft.

Diese Neuorientierung sowie die sich daraus ergebende Dynamik und die damit zusammenhängende Radikalisierung in Teilen der Bewegung werden im fünften Kapitel thematisiert. Dieses Kapitel ist insofern das spannendste des Buches, da es zu der ideologischen als auch organisatorischen Ausdifferenzierung der Bewegung noch relativ wenig Sekundärliteratur gibt. Daher ist es auch begrüßenswert, dass Hagemann mit rund 140 Seiten den Schwerpunkt des Buches auf diesen Aspekt legt. Der Autor greift hier die von Gideon Aran erstmalig in die Siedlerforschung eingeführte Theorie der „gescheiterten Prophetie“ auf, die sich mit den Folgen enttäuschter messianischer Erwartungen befasst – eine Situation mit der sich die religiösen Siedler spätestens seit den Oslo-Abkommen 1993 konfrontiert sahen. Hagemann zeigt vor dem Hintergrund dieses Analyserahmens auf, wie sich die Bewegung in Folge des Auseinandertretens von Erwartung und Realität ideologisch und organisatorisch ausdifferenziert.

In der Gesamtbetrachtung von Hagemanns „Die Siedlerbewegung“ gibt es positive, wie auch negative Aspekte zu erwähnen. Sehr positiv hervorzuheben ist sicherlich wie er in Kapitellänge die wichtigsten Themenfelder Gush Emunims darlegt. In diesem Sinne ist Hagemann eine umfassende Beschreibung der Bewegung durchaus gelungen. Zu Diensten kam ihm hier seine offenkundige Vertrautheit mit der breiten Literatur zum Thema.

Ob es ihm allerdings gelungen ist, einen neuartigen theoretischen Rahmen zu entwickeln, der die Siedlerbewegung in all ihren Aspekten zu erklären vermag, erscheint fraglich. Vielmehr scheint der Autor dieses Bemühen dadurch auszudrücken, möglichst eine Vielzahl der in der Sekundärliteratur verwandten theoretischen Elemente in seinem Ansatz inkorporieren zu wollen. So finden sich im Laufe des Buches unter anderem Konzepte zu Zivilreligion, „diagnostischer frame“, hermeneutische Textanalysen, praxeologische Betrachtung des Bewegungshandelns, Nationalismustheorie, Hegemonietheorien, Illegalismus, „camp party“, „failed prophesy“ und noch einige mehr. Dies lässt das Buch überladen wirken und hilft kaum Sachverhalte anschaulicher zu machen. Als Leser fragt man sich oftmals, ob die Erläuterung des empirischen Sachverhalts nicht als Erklärung ausgereicht hätte.

Ein zweiter Kritikpunkt betrifft das letzte Kapitel zur Ausdifferenzierung der Siedlerbewegung. Hagemann beschreibt zwar die im Zuge der Differenzierung entstandenen radikalisierten Lager „rechts“ vom Siedler-Mainstream sehr anschaulich. Es wäre aber auch wünschenswert gewesen, einen Blick auf die moderateren Siedlerrabbiner „links“ vom Mainstream zu werfen. Dazu gehören prominente Rabbiner wie Aharon Lichtenstein, Yoel Ben Nun, Yehuda Amital, Menachem Fruman, Avi Gisser und weitere. Im Zusammenhang des Buches ist dies von Bedeutung, da diese Rabbiner explizit Demokratie als System unterstützen – was Hagemanns These, dass die Siedler ein theokratisches System errichten wollen, das „zentralen demokratischen Grundsätzen […] widerspricht“ (S. 295) in ein anderes Licht stellen würde.

Dass Hagemann hierauf nicht eingeht, ist bedauerlich, denn dies hätte unter Umständen auch einen neuen, kritischen Blick auf die von ihm verwandten Fundamentalismustheorien eröffnet, denn aus Sicht der Fundamentalismustheorien streben „fundamentalistische“ Bewegungen nach einem theokratischen Staat, dessen Charakter zumindest latent in die Nähe des Totalitarismus gerückt wird.1 Die oben genannten Rabbiner lassen sich sicherlich nicht unter einer solchen Prämisse einordnen.

Eine letzte, noch am Rande zu erwähnende Korrektur betrifft Hagemanns Kapitel zur Ausdifferenzierung der Siedlerbewegung aufgeworfene These, dass sich der Grad der antistaatlichen Haltung an der messianischen Überzeugung messen lässt. Dies mag zwar für einen Teil der Siedler zutreffend sein, aber sicherlich nicht für alle. Das wichtigste Gegenbeispiel war der in den letzten Jahren bedeutendste Führer der religiösen Zionisten selbst: Abraham Shapira, der Leiter des Merkas HaRav Yeshiva (gestorben 2007). Dieser hat seine antistaatliche Haltung dezidiert halachisch (dem religiösen Gesetz folgend) und nicht messianisch-kabbalistisch (den Advent des Messias verhindernd) begründet.2

Hagemann hat mit „Die Siedlerbewegung“ ein sehr gut informiertes Überblicksbuch vorgelegt, das in auch in der englischen Forschungsliteratur keine Entsprechung hat. Das heißt als Überblicks- und Einführungsliteratur in einem wissenschaftlichen Rahmen ist das Buch durchaus zu empfehlen. Wenn man allerdings mit der Materie vertraut ist, bietet das Buch kaum empirische oder analytische Neuerungen. Für Laien ist das Buch auf Grund seiner Theorielastigkeit kaum zu empfehlen.

Anmerkungen:
1 Hagemann zitiert Autoren, die von „totalitärer Ideologie“ (S. 61), „totaler religiöser Gesetzesethik“ (S. 62) oder von der „Bezeichnung des Fundamentalismus als dritten Totalitarismus“ (S. 69) sprechen.
2 Dies beschreibt Shlomo Fischer anschaulich: Während die messianische Strömung Befehlsverweigerung mit der vom Staat nicht erkannten inhärenten Bestimmung des jüdischen Volkes begründet, urteilt Shapira streng halachisch: Es sei nach der Thora verboten Land aufzugeben, daher muss man sich dem Staat verweigern. Vgl. Shlomo Fischer, Self-Expression and Democracy in Radical Religious Zionist Ideology, 2007, unveröffentlichte Dissertation, S. 391ff.

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