F. Dierl u.a. (Hrsg.): Ordnung und Vernichtung

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Titel
Ordnung und Vernichtung. Die Polizei im NS-Staat. Eine Ausstellung der Deutschen Hochschule der Polizei, Münster, und des Deutschen Historischen Museums, Berlin. 1. April bis 31. Juli 2011


Herausgeber
Dierl, Florian; Hausleitner, Mariana; Hölzl, Martin; Mix, Andreas
Erschienen
Dresden 2011: Sandstein Verlag
Anzahl Seiten
320 S.
Preis
€ 24,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Kurt Schilde, Siegen/Potsdam

Es mussten 65 Jahre nach dem Ende des nationalsozialistischen Deutschland vergehen, bis sich die deutsche Polizei in der Ausstellung „Ordnung und Vernichtung“ mit ihrer NS-Geschichte auseinandersetzen wollte. Für Hans Ottomeyer – den Präsidenten der Stiftung Deutsches Historisches Museum – ist es „die historische Distanz, die wir gemeinhin zu den Katastrophen der Geschichte halten“ (S. 13). In seinem Haus in Berlin ist vom 1. April bis 31. Juli 2011 die gemeinsam mit der Deutschen Hochschule der Polizei (Münster) veranstaltete Ausstellung zu besichtigen. Zusammen mit dem Katalog ist ein zentraler Bestandteil eines Vorhabens zur Erforschung der Geschichte der Polizei in der NS-Zeit fertig geworden. Die beiden ergänzenden Projektelemente sind die Entwicklung von Unterrichtsmaterialen für die Aus- und Fortbildung der Polizei sowie ein Ausstellungsmodul, welches – durch regionale Aspekte ergänzt – an den Standorten der Fachhochschulen für öffentliche Verwaltung gezeigt werden soll. Nach dreijähriger Arbeit ist die Ausstellung zur Geschichte der Polizei im NS-Staat – durch den Projektleiter Wolfgang Schulte treffend als „Entgrenzung staatlicher Gewalt“ (S. 14) gekennzeichnet – öffentlich.

Die Leitung des Projektes hatten Wolfgang Schulte von der Polizeihochschule und Detlef Graf von Schwerin, Polizeipräsident von Potsdam außer Dienst und bis 2009 Leiter des Zentrums für Zeitgeschichte der Polizei an der Fachhochschule der Polizei des Landes Brandenburg in Oranienburg. Ohne seinen Anstoß hätte es das Forschungsprojekt wohl nicht gegeben. Kuratoren bzw. Kuratorin waren Florian Dierl, Mariana Hausleitner, Martin Hölzl und Andreas Mix. Der durch sie und die Polizeihochschule herausgegebene Ausstellungskatalog stellt eine wichtige Ergänzung und Erweiterung eines Sammelbandes dar.1

Der Katalog beginnt – neben Gruß- und Vorworten – mit einer kurzen Einleitung des Projektleiters Schulte. Die anschließenden sieben Essays führen auf 80 Seiten in die Themen der Ausstellung ein. Die Kuratorin Mariana Hausleitner beginnt mit den militärischen Traditionen in der Geschichte der Polizei in der Weimarer Republik: 1919 wurden Heereseinheiten und Freikorps in die Sicherheitspolizei überführt und fungierten als Schutzpolizei. Anschließend geht der Kurator Florian Dierl auf die weitere Entwicklung der uniformierten Polizisten in der NS-Zeit (1936) zur Ordnungspolizei ein. Er weist darauf hin, dass es schon vor 1933 deutliche Sympathien für den Nationalsozialismus gegeben hat. Die Ordnungspolizei ergänzten 1933 zu Hilfspolizisten ernannte SA-, SS- und Stahlhelmmänner, die Feuerwehren, der im zivilen Luftschutz eingesetzte Sicherheits- und Hilfsdienst und die Katastrophenschutzorganisation Technische Nothilfe. Das Erscheinungsbild dieser neu formierten Polizei veränderte sich – wie in der Ausstellung und im Katalog deutlich wurde: „Rein äußerlich waren Ordnungs- und Sicherheitspolizei kaum noch zu unterscheiden“ (S. 111). Aus der Ordnungspolizei entstanden im Zweiten Weltkrieg Polizeibataillone, die in den besetzten Gebieten als Besatzungsarmee eingesetzt wurden. Ordnungspolizisten waren für die Bewachung von Ghettos, die Begleitung von Deportationstransporten und die Liquidierungen in geräumten Ghettos und Zwangsarbeiterlagern zuständig. Die Truppen der Ordnungspolizei hinterließen – mit anderen polizeilichen und militärischen Einheiten – in den okkupierten Staaten eine „Schneise der Vernichtung“ (S. 41).

Neben der Ordnungs- war auch die Kriminalpolizei ein zentraler Bestandteil des NS-Verfolgungssystems, worauf Thomas Roth hinweist. Kriminalpolizisten assistierten bei Deportationen und verfolgten vermeintliche Fälle von „Rassenschande“. Sie wirkte auch bei den Mordaktionen der Einsatzgruppen mit. „Zum Kernprojekt der NS-Kriminalpolizei entwickelte sich jedoch die Ausgrenzung der Sinti und Roma.“ (S. 50) Nach 1945 ist es den Angehörigen der Polizei in der Regel sehr gut gelungen, ihre Beteiligung an Verbrechen zu verschleiern. Die von Gerhard Paul portraitierte Geheime Staatspolizei hatte als völkisch orientierte Geheimpolizei umfassende Vollmachten: sie definierte, was als „staatsgefährlich“ angesehen wurde, hatte reichsweite Exekutivbefugnisse und die Berechtigung zur unbeschränkten Gefangennahme („Schutzhaft“). Ihr Mythos der allmächtigen Wirkungsmacht wurde erst seit den 1990er-Jahren durch Robert Gellately und die von Paul mit Klaus-Michael Mallmann herausgegebenen Arbeiten zerstört.2

Der Initiator der Ausstellung Detlef Graf von Schwerin weist in seinem Essay zum Verhältnis von Polizei und Wehrmacht auf das Zusammenwirken von militärischen und polizeilichen Truppen hin: „Nur der Vormarsch der Wehrmacht eröffnete der Polizei den Spielraum für den Völkermord“ (S. 69). Die von dem Ausstellungskurator Andreas Mix dargestellte strafrechtliche Aufarbeitung der Polizeiverbrechen hat sich als eine „Geschichte von Versäumnissen und Unterlassungen“ (S. 80) erwiesen, die aber nicht allein auf Skandale und Fehlurteile reduziert werden dürfe. Trotzdem sprechen die Zahlen eine deutliche Sprache: Von den schätzungsweise 250.000 Deutschen in Polizeibataillonen und anderen an NS-Verbrechen beteiligten Einheiten sind nur 6700 durch westdeutsche Gerichte angeklagt und nur 200 von ihnen zu einer Freiheitsstrafe verurteilt worden. Ostdeutsche Gerichte verurteilten etwa 12.000 Personen. Die strafrechtliche Aufarbeitung der NS-Verbrechen von Polizisten ist noch kein abgeschlossenes Kapitel. Abschließend befasst sich der Kurator Martin Hölzl mit der Auseinandersetzung der deutschen Polizei mit ihrer Vergangenheit, die erst in den 1990er-Jahren begonnen hat.

Die in den Essays angesprochenen Probleme, Fragen und Legenden werden im Hauptteil des Bandes – dem mit 200 Seiten eigentlichen Katalog – Exponat für Exponat, teils ohne, teils mit Abbildung, dargestellt. In neun Schritten werden das öffentliche Bild des unpolitischen Schutzpolizisten widerlegt und die militärischen Traditionen und die gescheiterten demokratischen Ansätze der Weimarer Jahre gezeigt. Es wird auf die ersten Frauen hingewiesen, die in die Polizeigeschichte eintraten und sich um Kuppelei, Abtreibungen, Kindstötungen und anderes zu kümmern hatten. In eine Leitungsfunktion gelangte nur Friederike Wieking, die 1940 Leiterin der Reichszentrale zur Bekämpfung der Jugendkriminalität wurde.

Die Polizei erwies sich als eine bedeutende Stütze der NS-Diktatur, war maßgeblich an der Zerschlagung der politischen Opposition beteiligt und wurde zentralisiert. Im Zweiten Weltkrieg erfolgte eine enorme Radikalisierung der Verfolgung mit Hilfe neuer und einer Verschärfung bestehender Straftatbestände. Polizisten überwachten und suchten geflüchtete Zwangsarbeiter, organisierten den Luftschutz und machten Luftschutz-Hauswarte zu Hilfsbeamten der Polizei. Die von Deutschland besetzten Staaten gerieten zunehmend in den Griff der Polizei, deren Bataillone grenzenlos mordeten. Den vielen Vollstreckern und „ganz gewöhnlichen Männern“ (S. 264) standen nur wenig Verweigerer gegenüber.

Am Neuanfang ab 1945 standen die bekannten Legenden, woran „alte Kameraden-Netzwerke“ mitgewirkt haben. Erst seit den 1990er-Jahren und nun verstärkt mit Hilfe der Ausstellung und des Kataloges müssen sie als widerlegt gelten. Die Wiederkehr der verdrängten Vergangenheit zeigte sich zum Beispiel noch 2007: Ein Hauptmann der Schutzpolizei wollte sich mittels einer zivilrechtlichen Auseinandersetzung gegen die Erinnerungen einer ehemaligen Geliebten zur Wehr setzen und machte damit die Justiz auf seine Beteiligung an Verbrechen im Warschauer Ghetto aufmerksam. Der Mann verstarb 2010 während des Ermittlungsverfahrens.

Der Anhang des informativen und gut lektorierten Ausstellungskataloges enthält unter anderem eine Zeittafel und ein Personenregister. Bei einer Neuauflage sollte ein kleiner Fehler korrigiert werden. Der 1934 in Untersuchungshaft genommene Fritz Neubecker ist nicht 1945 verstorben. Ende der 1980er-Jahre habe ich noch mit ihm gesprochen. Leider ist unterlassen worden, zu den Projektbeteiligten und anderen Autoren persönliche Angaben zu nennen.

Eine aus dem Ausstellungskatalog zu gewinnende Erkenntnis sei hervorgehoben: Die Ausführungen und die Exponate verdeutlichen die starken Militarisierungstendenzen der deutschen Polizei. Während in der Weimarer Republik viele Soldaten bei der Polizei unterkamen, begingen in der NS-Zeit viele Polizisten in die von der Wehrmacht besetzten Gebiete Verbrechen unter dem Schutz des Militärs. So schloss sich ein Kreis. Noch nicht umfassend erforscht und offensichtlich daher nicht im Katalog dargestellt wurde die Rolle der Polizei bei den Pogromen im November 1938. Hier gibt es noch etwas zu tun.

Anmerkungen:
1 Wolfgang Schulte (Hrsg.), Die Polizei im NS-Staat. Beiträge eines internationalen Symposiums an der Deutschen Hochschule der Polizei in Münster (= Schriftenreihe der Deutschen Gesellschaft für Polizeigeschichte, Band 7), Frankfurt am Main 2009. Vgl. meine Besprechung: Kurt Schilde: Rezension zu: Schulte, Wolfgang (Hrsg.): Die Polizei im NS-Staat. Beiträge eines internationalen Symposiums an der Deutschen Hochschule der Polizei in Münster. Frankfurt am Main 2009, in: H-Soz-u-Kult, 14.01.2010, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2010-1-028> (13.1.2010).
2 Robert Gellately, The Gestapo and German Society. Enforcing Racial Policy 1933-1945, Oxford 1990; deutsche Ausgabe: Die Gestapo und die deutsche Gesellschaft. Die Durchsetzung der Rassenpolitik 1933-1945, Paderborn 1993; Gerhard Paul / Klaus-Michael Mallmann (Hrsg.), Die Gestapo. Mythos und Realität, Darmstadt 1995, dies.: (Hrsg.), Die Gestapo im Zweiten Weltkrieg. „Heimatfront“ und besetztes Europa, Darmstadt 2000.

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