C. Rass: Bilaterale Wanderungsverträge

Cover
Titel
Institutionalisierungsprozesse auf einem internationalen Arbeitsmarkt. Bilaterale Wanderungsverträge in Europa zwischen 1919 und 1974


Autor(en)
Rass, Christoph
Reihe
Studien zur historischen Migrationsforschung 19
Erschienen
Paderborn 2010: Ferdinand Schöningh
Anzahl Seiten
573 S.
Preis
€ 58,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Jenny Pleinen, SFB 600 „Fremdheit und Armut“, Universität Trier

Die Habilitationsschrift des Aachener Historikers Christoph Rass beschäftigt sich mit der Entstehung und Ausgestaltung eines staatlich regulierten Migrationssystems in (West-)Europa. Das Hauptinteresse liegt dabei auf bilateralen arbeitsmarktbezogenen Wanderungsverträgen, mit denen die europäischen Staaten die grenzüberschreitende Arbeitsmigration innerhalb Europas und nach Europa seit der Zwischenkriegszeit steuerten.

Diese Verträge regelten die selektive Mobilisierung als geeignet erscheinender Arbeitskräfte, hielten Modalitäten für deren Transport, Unterbringung und Arbeitsbedingungen fest und sahen auch Vorkehrungen für ihre Remigration vor. Den Anfang machte dabei der 1919 zwischen Frankreich und Polen abgeschlossene erste moderne Wanderungsvertrag. Diesem Vorbild folgten immer mehr Länder, so dass sich letztlich achtzehn Auswanderungs- und Einwanderungsländer mit über 80 bilateralen Verträgen an diesem Migrationssystem beteiligten. Seine größte geographische Ausdehnung, dichteste institutionelle Verfassung und größte quantitative Bedeutung erreichte dieses System staatlich regulierter Arbeitsmigration Anfang der 1970er-Jahre – nur wenige Jahre also, bevor die Einwanderungsländer Westeuropas nacheinander ab 1973 einen Anwerbestopp verhängten und somit sein Ende einläuteten.

Rass nähert sich seinem Gegenstand mit dem Konzept einer komparativ angelegten Langzeitbeobachtung, das sowohl die Seite der Entsender (Algerien, Griechenland, Italien, Jugoslawien, Marokko, Polen, Portugal, Spanien, Türkei und Tunesien) als auch die der Anwerbestaaten (Belgien, Deutschland, Frankreich, Luxemburg, Niederlande, Österreich, Schweden und die Schweiz) umfasst. Die bilateralen Abkommen standen seiner Meinung nach in einem dialektischen Zusammenhang mit zahlenmäßig bedeutsamen Wanderungsbewegungen: Einerseits wurden bereits bestehende bedeutende Wanderungsbeziehungen seit der Zwischenkriegszeit zunehmend Gegenstand dieser Staatsverträge. Andererseits wurden die Abkommen auch mit der Absicht beider Staaten abgeschlossen, Migration zwischen ihren Staatsgebieten zu stimulieren. Außerdem übten die bereits abgeschlossenen Anwerbeabkommen auch einen Druck auf die übrigen Industriestaaten aus, sich ebenfalls die benötigten Arbeitskräfte durch dieses Instrument zu sichern, da auf dem europäischen Arbeitsmarkt zunehmend Konkurrenz herrschte.

Rass’ Blick richtet sich daher nicht nur auf die Anwerbeabkommen selbst, sondern in einem ersten Großkapitel zunächst auf die Migrationsgeschichte der einzelnen Länder. Damit soll die Grundlage für die spätere Analyse der Entwicklung und des Einflusses der bilateralen Wanderungsabkommen geschaffen werden. Zeitlich gehen diese einzelnen Länderstudien daher bis ins späte 19. Jahrhundert zurück, um die Anfänge der modernen Arbeitsmigration und die dadurch entstandenen Migrationssysteme als Vorbedingung der Abkommen rekonstruieren zu können. Das zweite Großkapitel der Studie beschäftigt sich mit den Wanderungsabkommen selbst. Neben den allgemeinen Charakteristika dieser Verträge beleuchtet der Verfasser hier auch kurz die weiteren Institutionen wie die International Labour Organization (ILO), den Europarat und die Vorläuferorganisationen der Europäischen Union, die Einfluss auf die Arbeitsmigration in und nach Europa nahmen. In einem weiteren Schritt geht die Studie auch hier wieder auf die einzelnen Entsende- und Anwerbungsstaaten ein und erläutert im Einzelnen die abgeschlossenen Abkommen.

Der gewählte Untersuchungszeitraum und die Zahl der als Teil dieses Migrationssystems untersuchten Einzelstaaten ergeben zusammen also ein Thema von enormen Ausmaßen. Verschärft wird dieses Problem durch das Fehlen einer klaren Fragestellung: Einerseits geht es Rass explizit darum, die Geschichte einer normativen Institution zu erzählen, andererseits will er diese Geschichte in die Migrationsgeschichte der einzelnen Länder einbetten und an manchen Stellen auch Aussagen über Praktiken der jeweiligen Behörden treffen. Diese Konzeption steht dem eigentlichen Erkenntnisinteresse der Arbeit an vielen Stellen im Wege. So handelt der Verfasser die einzelnen Länderstudien im ersten Großkapitel auf jeweils 10 bis 20 Seiten in alphabetischer Reihenfolge ab und stützt sich dabei ausschließlich auf Sekundärliteratur. Die Darstellung erfolgt daher zwangsläufig eher in groben Zügen und an einzelnen Stellen auch mit Fehlern. So war zum Beispiel das belgische Justizministerium nicht erst seit 1945 für die Vergabe von Aufenthaltserlaubnissen zuständig, wie auf Seite 51 angegeben. Da quellenbasierte Studien über die administrative Ausgestaltung des belgischen Migrationsregimes nach der Zwischenkriegszeit bislang noch fehlen, ist die Unsicherheit in diesem Punkt sicher verständlich. Das Beispiel verdeutlicht aber die Problematik einer rein literaturbasierten Studie, die eine Darstellung internationaler wie nationaler Normen mit einer Darstellung der Umsetzungsebene kombinieren will, für die es teilweise eben noch keine entsprechende Forschung gibt. Dieser erste Teil der Studie muss sich – nicht nur wegen seines alphabetischen Aufbaus – mit Veröffentlichungen wie der im selben Verlag erschienenen „Enzyklopädie Migration in Europa“1 vergleichen lassen, in denen die Artikel zu einzelnen Ländern von Forschern verfasst wurden, die in diesen Fällen selbst geforscht haben und über die entsprechenden Kenntnisse der Landessprachen verfügen.

Die Breite des Themas gibt Rass als Grund dafür an, warum die Studie, abgesehen von den Anwerbeabkommen selbst, nicht auf der Auswertung von Primärquellen beruht. So seien Archivstudien auch wegen fehlender Sprachkenntnisse – was bei der Fülle der in den Blick genommenen Länder völlig verständlich ist – abgesehen vom deutschen Bundesarchiv nicht möglich gewesen. Grade diese aus eigener Quellenarbeit entstandenen Kenntnisse seien jedoch nicht vollständig in die Studie eingeflossen, um das „Gleichgewicht“ (S. 38) der Untersuchung durch eine exponierte Stellung Deutschlands nicht zu stören. Hier muss jedoch die Frage erlaubt sein, ob sich der Anspruch einer Studie nicht letztlich an den zur Verfügung stehenden Möglichkeiten orientieren muss. Auch der im Literaturbericht formulierte Befund, einschlägige, aus den Auswanderungsländern stammende Studien zum institutionellen Rahmen der Arbeitsmigration existierten „überraschenderweise“ (S. 35) nicht, muss angesichts der (bis auf einige niederländischsprachige Titel) ausschließlich deutsch-, englisch- und französischsprachigen Literatur, die der Studie laut Verzeichnis zugrunde liegt, zumindest mit einem Fragezeichen versehen werden.

Stärker als der erste ist der zweite Teil der Untersuchung: Hier liegt der Fokus auf der Institutionalisierung regulierter Arbeitsmigration. Der Verfasser skizziert zunächst kurz, wie und unter welchen Bedingungen internationale Organisationen wie ILO, OECD und Europarat sowie die supranationale EGKS/EWG seit der Zwischenkriegszeit (normativen) Einfluss auf diesen Prozess genommen haben. So konnte sich etwa die ILO nach dem Zweiten Weltkrieg zwar nicht mehr als wichtige Akteurin der Migrationspolitik positionieren, hatte aber während der Zwischenkriegszeit entscheidend dazu beigetragen, die Grundlinien späterer Wanderungsabkommen – wie die selektive Anwerbung durch staatliche Stellen, die Gleichbehandlung der Vertragspartner und die Überwachung der Vertragstreue – zu etablieren. Während die ILO intern einen Ausgleich sowohl zwischen Industrie- und Entwicklungsstaaten als auch zwischen Arbeitgeber- und Arbeitnehmerinteressen geleistet hatte, vertraten die in der Nachkriegszeit dominanten europäischen Institutionen deutlich stärker die Interessen der Industriestaaten. Auch in deren Politik schlugen sich aber letztlich die durch die ILO erarbeiteten Standards nieder.

Im Anschluss stehen die bilateralen Wanderungsverträge selbst im Mittelpunkt, deren Entwicklung als durch die Zäsur des Zweiten Weltkrieges in zwei Gruppen geteilt dargestellt wird. Die vor 1945 abgeschlossenen Abkommen sind dabei nach den Einwanderungsländern, die Nachkriegsübereinkommen hingegen nach den Entsendestaaten alphabetisch geordnet. Bei der Entwicklung der Rolle der Wanderungsabkommen stellt der Verfasser zwei wichtige Trends fest: Zum einen orientierten sich viele Staaten am Beispiel Frankreichs, das das neue Instrument des Anwerbeabkommens konsequent nutzte, um neue Arbeitskräftereservoirs zu erschließen. Andererseits versuchte Deutschland bis zur Gründung der Bundesrepublik einen Gegentrend zu etablieren, indem es Anwerbeabkommen ohne Referenz auf die internationalen Normen abschloss, die sich ausschließlich an den eigenen Interessen orientierten und die der Entsendestaaten nicht berücksichtigten. An diesem Beispiel orientierten sich zwischenzeitlich auch die Schweiz und Luxemburg. Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges setzte sich die an die ILO-Standards und den französischen Mustervertrag angelehnten Wanderungsabkommen endgültig als das maßgebliche Modell staatlich organisierter Arbeitsmigration durch.

Die hier geleistete Übersicht der bilateral organisierten Steuerung von Arbeitsmigration stellt für zukünftige Forschungen zur Migrationsgeschichte eine wertvolle Hilfe dar. Für den Leser profitabler als der aus den genannten Gründen problematische erste Teil, der immerhin die Hälfte der gesamten Seitenzahl einnimmt, wäre es gewesen, die Abkommen stärker in ihre diplomatische Entstehungsgeschichte einzubinden. Insgesamt bleiben erhebliche Bedenken gegen die Konzeption der Arbeit, auch wenn sie durch die darin zusammengetragenen Fakten Forschern und auch Studierenden, die sich vertieft im Hauptstudium mit der Migrationsgeschichte Europas auseinandersetzen wollen, in Zukunft ein erhebliches Stück Arbeit abnehmen wird.

Anmerkung:
1 Klaus J. Bade / Corrie van Eijl, Enzyklopädie Migration in Europa. Vom 17. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Paderborn 2010.

Redaktion
Veröffentlicht am
Beiträger
Redaktionell betreut durch