Titel
Die "Allgemeine Revision". Pädagogische Theorieentwicklung im 18. Jahrhundert


Autor(en)
Austermann, Simone
Reihe
Beiträge zur Theorie und Geschichte der Erziehungswissenschaft, Band 32
Erschienen
Bad Heilbrunn 2010: Julius Klinkhardt Verlag
Anzahl Seiten
288 S.
Preis
€ 32,00
Rezensiert für die Historische Bildungsforschung Online bei H-Soz-Kult von:
Ole Fischer, Friedrich-Schiller-Universität Jena,

Die „Allgemeine Revision des gesammten Schul- und Erziehungswesens“ (AR), herausgegeben zwischen 1785 und 1792 von Joachim Heinrich Campe, gehört zu den bedeutendsten Werken der deutschsprachigen Pädagogik im 18. Jahrhundert. In insgesamt 16 Bänden äußerten sich 15 Autoren und Kommentatoren auf knapp 6000 Seiten zu Fragen des Erziehungswesens und nahmen damit beträchtlichen Anteil an der Etablierung der Pädagogik als praxisorientierter Humanwissenschaft. Ziel von Austermanns Studie ist eine inhaltliche Erschließung der AR sowie eine Rekonstruktion der Entstehungszusammenhänge. Damit versucht die Autorin ein seit langer Zeit bekanntes Forschungsdesiderat zu beseitigen, denn obwohl in zahlreichen Untersuchungen auf das Werk Campes und seiner Kollegen Bezug genommen wurde, stand eine zusammenfassende Darstellung und Beschreibung der AR bisher noch aus.1

Nach einer kurzen Einleitung enthält das Buch drei inhaltliche Kapitel, eine abschließende Zusammenfassung sowie einen sehr umfangreichen Anhang. Das erste Kapitel (Kapitel 2) beschreibt die Entstehungszusammenhänge der AR. Austermann beleuchtet den Weg von einer ersten Idee Campes um 1780, über die Anwerbung von Autoren, die Finanzierung und Akquirierung von Subskribenten bis zur fertigen Drucklegung. Einen sinnvollen Schwerpunkt ihrer Darstellung legt Austermann auf die Mitarbeiter des Werkes. Die Mehrzahl der Autoren und Kommentatoren gehörte der 1785 von Campe gegründeten Gesellschaft praktischer Erzieher an. Diese Gesellschaft bildete den Kern der Arbeit an der AR; bekannte Mitglieder waren beispielsweise Carl Friedrich Bahrdt und Karl Philipp Moritz. Austermann stellt alle Mitglieder mit kurzen Biogrammen vor und versucht auch ihre Bedeutung für die AR zu erfassen. Hinzu kommen einige Autoren und Kommentatoren, die nicht Mitglied der Gesellschaft waren. Diese werden von Austermann im Anschluss vorgestellt. Ein weiterer Schwerpunkt dieses Kapitels liegt auf der inhaltlichen Zusammenfassung der einzelnen Aufsätze. Im Anschluss erfolgt eine kurze Beschreibung der ebenfalls im Rahmen der AR erschienenen Übersetzungen von Rousseaus „Émile ou de l'éducation“ und Lockes „Some thoughts concerning education“.

Nach der inhaltlichen Zusammenfassung versucht sich Austermann in Kapitel 3 an einer systematischen Darstellung des pädagogischen Konzeptes der AR. Diese Darstellung beginnt mit Überlegungen zur Rolle der Erziehenden. Zwar betont Austermann den Standpunkt der Revisionisten, dass die Erziehung im Idealfall von allen Personen im Umkreis eines Kindes mit übernommen werden solle, sie widmet sich jedoch besonders der elterlichen Erziehung sowie der Diskussion um das Ammenwesen und die Rolle des Hofmeisters bzw. Hauslehrers. Schade ist, dass Austermann ihre interessanten Beobachtungen zu den Geschlechterkonzeptionen der Autoren der AR, die vor allem im Zusammenhang mit einer Differenzierung von Vater- und Mutterrolle bei der Erziehung auffällig sind, weitgehend in einer Fußnote (S. 94-95) unterbringt. Eine im Gegensatz zur Rollenbeschreibung eher am Inhalt pädagogischer Überlegungen orientierte Darstellung unternimmt Austermann im Anschluss mit einer Untersuchung der Erziehungsgrundsätze, die sich die Erziehenden aneignen sollten. Im Vordergrund stehen dabei zunächst die Rahmenbedingungen der Erziehung, also die Frage nach dem jeweiligen Charakter eines Kindes und seinen speziellen Bedürfnissen, die grundsätzlich zu erstrebende Vorbildfunktion der Erziehenden sowie Überlegungen zu Belohnung und Strafe. Konkrete Ratschläge zu einzelnen Situationen im Erziehungsprozess werden dann im Anschluss von Austermann dargestellt, wobei sie sich zunächst der Erziehung des Körpers und dann der Erziehung des Geistes widmet. Eigene Abschnitte ihrer Arbeit widmet die Autorin den Fragen der religiösen Erziehung sowie der Herausbildung von Moralvorstellungen. Ein weiterer Schwerpunkt dieses Kapitels ist die korrigierende Erziehung. An dieser Stelle geht es um Maßnahmen, die Erziehende unternehmen können, wenn sie ein Kind erst in einem fortgeschrittenen Alter erhalten und bei diesem auffällige Verhaltensweisen entdecken. Dabei unterschieden die Autoren der AR zwischen Unarten und fehlgeleiteten Trieben. Während sich die Unarten, wie Habsucht und Eigensinn, bei fast allen Kindern feststellen ließen, würden die fehlgeleiteten Triebe, wie Selbstsucht übertriebene Frömmigkeit oder Trägheit, erst als Folge einer versäumten oder schlechten Erziehung entstehen. Während die bisherigen Punkte weitgehend für alle mit der Erziehung eines Kindes betrauten Personen gelten, widmet sich Austermann in einem speziellen Unterkapitel den Ausführungen über die Lehrer und den Schulunterricht. In diesen ginge es nicht mehr primär um eine gute Erziehung, sondern um die Vermittlung von Kenntnissen und Fähigkeiten (S. 186). Es folgen kurze Darstellungen der Überlegungen zur öffentlichen Erziehung, beispielsweise in Waisenhäusern sowie ein Überblick über Themen, die in der AR nur kurz angesprochen werden.

Das anschließende Kapitel bildet den analytischen Kern von Austermanns Buch. In diesem begibt sich die Autorin auf die „Suche nach dem Theorierahmen der Revisionisten“ (S. 199). Zurecht betont Austermann, dass in der AR zwar die Erziehungspraxis im Vordergrund stehe, die Äußerungen der zahlreichen Autoren ihren Zusammenhalt jedoch erst durch einen gemeinsamen theoretischen Rahmen erhalten, wobei sie darauf hinweist, dass es Campe und seine Mitarbeiter nicht darauf abgesehen hätten, ein theoretisches System zu konstruieren oder eine Wissenschaft zu begründen (S. 199). Die gemeinsamen theoretischen Standpunkte der Autoren und Kommentator fügten sich, so Austermann in ihrem Fazit, zusammen zu einem System der Entscheidungsfindung im Erziehungsprozess und dienten somit wiederum der praktischen Anwendbarkeit der pädagogischen Ratschläge der AR im Handlungsprozess. Somit hätten die Autoren der AR trotz einer unbestreitbaren Praxisorientierung des Werks zur Verwissenschaftlichung pädagogischer Überlegungen Entscheidendes beigetragen und auch auf die moderne Erziehungswissenschaft nachhaltigen Einfluss ausgeübt.

Im Anschluss an die inhaltliche Analyse steht den Leserinnen und Lesern von Austermanns Buch ein umfangreicher Anhang zur Verfügung. Dieser umfasst einerseits tabellarische Übersichten über den Inhalt der 16 Bände, die Mitglieder der Gesellschaft praktischer Erzieher sowie die weiteren Publikationen aus dem Kreis der Gesellschaft. Es folgt eine Darstellung der verschiedenen Drucke bis hin zur digitalen Edition, die begleitet wird von kurzen Äußerungen zur Rezeption des Werkes und einer kommentierten Darstellung der wichtigsten Sekundärliteratur, bevor sich Austermann noch einmal kurz den in der AR enthaltenen Übersetzungen zuwendet und dafür exemplarisch die Übersetzung des vierten Buches aus Rousseaus „Émile“ analysiert.

Insgesamt bietet das Buch von Austermann einen kompakten Überblick über das monumentale Werk Campes und seiner Mitarbeiter. Ihre Studie ist vor allem deshalb lesenswert, weil bisher keine umfassende Darstellung des Gesamtwerkes vorlag. So liegt denn auch die besondere Stärke des Buches auf der gründlich recherchierten und übersichtlichen Beschreibung des Werkes. Austermanns Thesen zur Theoriebildung und Wissenschaftlichkeit der AR sind zwar schlüssig, können aber aufgrund der äußerst knappen Darstellung lediglich als erste Überlegungen und Anregungen für weitere Studien verstanden werden. Hier wäre vor allem eine gründliche Kontextualisierung des Werkes auch über den engeren Kreis der Mitarbeiter vonnöten. Zu bemängeln bleibt die mangelnde Sorgfalt der Abschlussredaktion: Redundanzen, orthographische und syntaktische Fehler sowie unbegründete Wechsel der Zeitformen sind keine Seltenheit. Dies mindert den inhaltlichen Wert des Buches nicht, stört jedoch den Lesefluss und wäre eigentlich ein leicht zu vermeidender Mangel. Gleichwohl wird zukünftig kaum eine Studie zum deutschsprachigen Erziehungsdiskurs des späten 18. Jahrhunderts an Austermanns Werk vorbeikommen.

Anmerkung:
1 Von den bisherigen Arbeiten zur „Allgemeinen Revision“ ist vor allem die Studie Christa Kerstings zu nennen. Siehe Christa Kersting, Die Genese der Pädagogik im 18. Jahrhundert. Campes „Allgemeine Revision“ im Kontext der neuzeitlichen Wissenschaft, Weinheim 1992.

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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit der Historischen Bildungsforschung Online. (Redaktionelle Betreuung: Philipp Eigenmann, Michael Geiss und Elija Horn). https://bildungsgeschichte.de/