Cover
Titel
Forschungsprojekte. Zum Organisationswandel in der Wissenschaft


Autor(en)
Besio, Cristina
Reihe
Science Studies
Anzahl Seiten
452 S.
Preis
€ 39,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Torsten Kahlert, Institut für Geschichtswissenschaften, Humboldt-Universität zu Berlin

Projekte sind mittlerweile so alltäglich, dass ihre weite Verbreitung kaum noch wahrgenommen wird. Fast keine Nachricht, kein Bericht über Wissenschaft, in dem nicht von Projekten die Rede ist. Scheinbar alles lässt sich in Projektform fassen, als Projekt bearbeiten oder wenigstens als solches bezeichnen, so dass schon von einer „projectified society“ gesprochen wurde. Die Allgegenwärtigkeit des Phänomens macht eine wissenschaftliche Analyse nicht leichter. Im Gegenteil: Es ist sehr schwer, ausreichend Distanz zu den uns ständig umgebenden, vertrauten und scheinbar so normalen Dingen zu schaffen, um sie angemessen und wissenschaftlich plausibel analysieren und beschreiben zu können.

Cristina Besio hat sich diesem Unterfangen angenommen und das „Forschungsprojekt“ in ihrer Dissertation über den Organisationswandel in der Wissenschaft zum Thema gemacht. Sie wählt dabei mit der Systemtheorie Luhmannscher Prägung einen wissenssoziologischen Ansatz. Besio will in ihrer Studie zeigen, dass „Projekte nicht so sehr zwischen guter und schlechter Forschung selegieren, sondern Vorhaben mit einem spezifischen Design begünstigen“ (S. 13). Ausgangspunkt ihrer Beobachtungen ist die Inkompatibilität von Planung und Neuheit. Wenn eigentlich klar ist, dass das Neue schwerlich schon vor Beginn von Forschung feststehen kann, werden zentrale Anforderungen an wissenschaftliche Arbeit – innovativ zu sein, neue Erkenntnisse bereitzustellen, den Forschungsstand zu erweitern usw. – kaum als projektier-, plan- oder kalkulierbar bezeichnet werden können. Wieso werden dennoch und dem Augenschein nach zunehmend Projekte initiiert, mit dem Ziel innovative Forschung zu erzeugen, wenn diese Projekte sich doch gerade dadurch auszeichnen, dass sie schon zu Beginn angeben müssen, wie, wann und mit welchen Mitteln sie zu welchem Ergebnis kommen werden? Besio hat darauf eine scheinbar einfache Antwort. Entscheidend sei, so die nüchterne These, dass Projekte als „entscheidbare Entscheidungsprämissen“ fungierten, also als Ausgangspunkt für Folgeentscheidungen dienen, ohne dass die nachfolgenden Entscheidungen gleich mit determiniert wären.

Die Struktur des Buches ist methodisch durchdacht und nachvollziehbar. In neun Abschnitten wird der Bedeutung der Projektform für den Organisationswandel in der Wissenschaft in unterschiedlichen Zusammenhängen nachgegangen. Die ersten vier Abschnitte kann man als lange Einleitung betrachten. Bevor sie ihre Fragen nach Funktion, Sinn und Konsequenzen des Gebrauchs von Projekten in der Wissenschaft expliziert, gibt Besio eine Einführung in Definitionen von Projekt und Forschungsstand. Darauf folgt ein Abschnitt, der ihre Methode begründet. In dem anschließenden historischen Abriss über die Anfänge der Projektform folgt Besio der gängigen These, dass moderne Wissenschaft nach längerer Vorgeschichte gegen Ende des 19. zu Beginn des 20. Jahrhunderts „projektierbar“ wurde. Diese Entwicklung sei einerseits von Industrielaboratorien, die über Projekte ihren Innovationsprozess zu optimieren suchten, und andererseits von den großen wissenschaftsfördernden Stiftungen zur Lösung der Verteilungsfrage, vorangetrieben worden. Voraussetzung für die Projektierbarkeit der Wissenschaft seien Merkmale wie Problemorientierung, Empirie, Umstellung von Systematisierung des Wissens auf Neuheit und Orientierung an Theorien als Grundlage für die Produktion von neuem Wissen gewesen. Wenig überraschend, aber durchaus konsequent, folgt daraus, dass „[d]as Projekt [...] die geeignete Form für eine Wissenschaft [wird], die sich als Fortschritt versteht, der durch das langsame Ansammeln neuer Beiträge erreicht wird, die das existierende Wissen zur Diskussion stellen oder vervollständigen.“ (S. 103) Die Konsequenz, die man hieraus für eine These heutiger projektorientierter Wissenschaft hinsichtlich des Verhältnisses zum Fortschritt ziehen könnte, verfolgt sie leider nicht.

Stattdessen analysiert sie in einem weiteren Abschnitt die Semantik des Projektemachens und kommt zu dem Schluss, dass die Erwartungen an Projekte, gleichzeitig innovativ und planbar, flexibel und kontrolliert sein zu müssen, praxisfern und überzogen seien. Besio ist keineswegs so naiv, nicht auch Projekte zu erwähnen, die gerade oder ausschließlich von dieser semantischen Zuschreibung profitierten, aber letztlich alles andere als innovativ seien. Folgerichtig fragt sie anschließend danach, welche Funktionen und Folgen Projekte dann überhaupt haben können.

Dieser Spur geht sie in den folgenden vier Abschnitten nach. Zunächst wird das Projekt als eigenständige Struktur, d.h. aus der Binnenperspektive betrachtet. Anschließend erweitert sie die Perspektive auf projektförmig arbeitende Organisationen, um danach beides zu verbinden und Projekte als Schnittstellen und Verbindungselemente zwischen unterschiedlichen Organisationen zu beleuchten. Zugespitzt formuliert läuft Besios Argumentation darauf hinaus, dass sich Projekte in Forschung und Wissenschaft trotz ihrer Beschränkungen immer mehr durchzusetzen scheinen. Die Grenzen von Projekten liegen in großen und langfristigen Problemen, zum Beispiel ökologischen oder Risikoproblemen. Sehr gut geeignet sind Projekte, so Besio, für die Normalwissenschaft, das heißt für Probleme, die sich innerhalb bestehender Theorien und Methoden behandeln lassen. Hingegen lassen sich neue Theorien nur schwer und mit Tricks als Projekt initiieren. Auch für die soziale Entwicklung der Beteiligten sind Projekte nicht immer die nachhaltigste Form von Wissenschaft. Historisch lässt sich nicht bestimmen, ob Projekte in Folge der spezialisierten Forschung immer kleinerer Ausschnitte zur geeigneten Form wurden, oder ob umgekehrt die Einführung von Projekten genau diese Prozesse erst begünstigte. Obwohl die Kritik, dass bei einer zu „übertriebenen Vervielfältigung dieser Art der Forschung“ (S. 313), die großen Synthesen, das Ganze, allgemeine Probleme usw. aus dem Blick geraten würden, keineswegs so neu ist, ist sie richtig, aktuell und im Zusammenhang mit dieser Analyse durchaus wiederholenswert.

Ein letzter Abschnitt entwirft Perspektiven zukünftiger projektförmiger Forschung und verweist auf funktionale Äquivalente, jenseits projektförmiger Organisation. Darunter versteht Besio beispielsweise die Vergabe von Forschungsaufträgen an einzelne Personen statt an Projekte, von Preisen für innovative und risikoreiche Forschungen, von Finanzierungen für Ergebnisse statt für Anträge. All diese Vorschläge sind richtig und wichtig. Jedoch haben sie auch ihre Vor- und Nachteile. Wann, wie viel und in welcher Form gefördert werden sollte, ist damit nicht gesagt. Aber das weist schon über die Studie hinaus und soll hier nicht als Manko gelten.

Die Autorin hat neben einer großen Menge an Forschungsliteratur sowie einem Datenbank-Sample von circa 300 Kurzbeschreibungen für ihre Studie lobenswerterweise auch eigenes empirisches Material an zehn sozialwissenschaftlichen Projekten erhoben.1 Sie gibt dem Leser zudem einen Einblick in ihren Interview-Leitfaden. Dennoch erscheinen die zehn case studies im Text auffallend blass. Das könnte einerseits daran liegen, dass die im Anhang gegebenen Informationen zu den Projekten sehr knapp ausgefallen sind und andererseits sowohl die eigentlichen Projekte als auch die befragten Teilnehmer anonym bleiben mussten. Damit fehlt dem Leser zuweilen die Verbindung von empirischem Material zu ihren Aussagen. Ein Begriffsregister hat es leider nicht mehr ins Buch geschafft, was aber ebenso zu verschmerzen ist wie die optisch eigentümliche gleiche Schriftgröße für Haupttext und Fußnoten. Die Arbeit hält durchweg ein theoretisch hohes Niveau. Manchmal fehlt ihr dadurch leider der argumentative Boden unter den Füßen, was das flüssige Lesen der Arbeit teilweise erschwert. Die oft eng an der Luhmannschen Systemtheorie orientierte Sprache hätte durch stärkere Bemühungen um eigene Formulierungen sicherlich an Plastizität gewonnen.

Festzuhalten bleibt, dass es Cristina Besio mit ihrer Studie überzeugend gelungen ist, zu zeigen, wie Projekte funktionieren, welche Funktion sie erfüllen, aber auch, dass die einseitige Fokussierung auf Projekte in kaum einem Bereich die langfristig optimale Variante sein dürfte. Wer nachhaltig Wissenschaft betreiben will, sollte verschiedene Organisations- und Finanzierungsformen fördern, statt einer kurzfristig besonders innovativ und effizient scheinenden Form ohne Betrachtung ihrer Risiken und Nachteile den alleinigen Vorzug zu geben.

Anmerkung:
1 Es handelt sich wahrscheinlich aufgrund der Herkunft der Autorin ausschließlich um Schweizer Projekte.

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