A. Assmann u.a. (Hrsg.): Memory in a Global Age

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Titel
Memory in a Global Age. Discourses, Practices and Trajectories


Herausgeber
Assmann, Aleida; Conrad, Sebastian
Reihe
Palgrave Macmillan Memory Studies
Erschienen
Basingstoke 2010: Palgrave Macmillan
Anzahl Seiten
XIII, 252 S.
Preis
£ 55.00 / $ 85.00 / € 65,99
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Christiane Wienand, Department of German, University College London

Das globale Zeitalter ist gekennzeichnet durch weltweite ökonomische, politische und institutionelle Verflechtungen sowie durch die Herausbildung transnationaler sozialer Netzwerke mit den entsprechenden Kommunikations- und Partizipationsformen. Dadurch haben sich auch die politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Rahmenbedingungen von Erinnerung und deren Akteure verändert. Aleida Assmann und Sebastian Conrad fordern in ihrem Sammelband „Memory in a Global Age“ deshalb dazu auf, die Wechselwirkungen zwischen globalen Rahmenbedingungen und Erinnerungsdiskursen sowie das Auftauchen von Erinnerung in der globalen Arena zu untersuchen (S. 2).

Assmann und Conrad haben elf Beiträge zusammengestellt, die die Erinnerung im globalen Zeitalter aus verschiedenen disziplinären Perspektiven untersuchen. Der Großteil basiert auf einer Tagung am Internationalen Forschungszentrum Kulturwissenschaften in Wien vom März 2008. Ganz überwiegend beziehen sich die Beiträge auf Globalisierungsphänomene seit 1945. Dementsprechend stellen der Holocaust und der Zweite Weltkrieg, aber auch post-diktatorische Vergangenheitsdebatten in Südamerika, wichtige historische Bezugspunkte der untersuchten Erinnerungsdiskurse und -praktiken dar. Die Artikel spannen zudem ein geographisch weites Untersuchungsfeld auf, das von Europa bis Australien, von Asien bis Südamerika reicht.

Freilich wurde die Frage nach dem Zusammenhang von Erinnerung und globalem Zeitalter bereits gestellt – beispielsweise in der einflussreichen Studie von Daniel Levy und Natan Sznaider.1 Der Sammelband setzt sich in einzelnen Beiträgen kritisch mit der Reichweite der von Levy und Sznaider untersuchten kosmopolitischen Erinnerung an den Holocaust auseinander, weitet diese auf den Holocaust fokussierende Perspektive jedoch sowohl thematisch als auch geographisch beträchtlich aus und bietet einen facettenreichen Einblick in empirische Forschungen.

Zum einen erweitern die Autorinnen und Autoren den Blick auf Aktivitäten kollektiver, transnational agierender Akteure wie „Wahrheitskommissionen“, Popmusikgruppen oder Institutionen wie die „International Task Force on Holocaust Education, Remembrance and Research“. Zudem zeigen die Beiträge auf, wie sich globale Kommunikationsräume beispielsweise in Form sozialer und kultureller Netzwerke bilden, in denen kollektive Deutungen der Vergangenheit ausgehandelt, produziert und verbreitet werden. Dazu gehören etwa Demonstranten, die sich via Internet verabreden. Schließlich analysieren mehrere Autorinnen, wie „Global Icons“ entstehen und für die Erinnerung wirkmächtig werden; als solche Icons werden der Holocaust, der Schauspieler Bruce Lee (für den 2005 in Mostar eine Statue eingeweiht wurde) und das Bild der bei den Teheraner Protesten im Sommer 2009 getöteten Iranerin Neda untersucht.

Besonders in den Fokus rücken politische Entschuldigungsrituale und -gesten in den internationalen Beziehungen wie auch innerhalb nationaler Vergangenheitsdiskurse unter dem Einfluss der Globalisierung (Beiträge von Christopher Daase, Danielle Celermajer / A. Dirk Moses, Jie-Hyun Lim und Sebastian Conrad).2 Zudem erlangen universelle Normen wie die Menschenrechte in einem globalen Erinnerungskontext und in transnationalen Erinnerungsdiskursen zunehmende Bedeutung, wie aus den Beiträgen von Elizabeth Jelin, Berthold Molden und Aleida Assmann hervorgeht.

Die Herangehensweisen der Autoren lassen sich zu mehreren Strängen zusammenfassen. So wird untersucht, wie Globalisierungsphänomene auf nationale, regionale oder lokale Erinnerungsdiskurse und kulturelle Identitätskonstruktionen einwirken (Danielle Celermajer / A. Dirk Moses, Jan Assmann, Berthold Molden, Ana Sobral) und welche Grenzen diesen Wirkungen gesetzt sind (Grace Bolton / Nerina Muzurović). Sebastian Conrad stellt heraus, dass die Globalisierung andere Referenzrahmen wie das Regionale oder das Nationale nicht verdränge, sondern diese gleichsam befördere, was er am Beispiel der zunehmenden Einbettung der japanischen Erinnerung in den ostasiatischen Raum seit den 1990er-Jahren zeigt. Die globale Dimension wird zudem in Fallstudien zur Rolle von Erinnerung in internationalen Beziehungen berücksichtigt, die als politisches Handlungsfeld ebenfalls durch die Globalisierung beeinflusst sind (Christopher Daase). Andere Autoren analysieren Versuche, transnationale Erinnerungsformen und -normen zu etablieren, wie beispielsweise Aleida Assmann in ihrer Untersuchung von Erinnerungsdiskursen an den Holocaust. Zudem wird Erinnerung über den Ansatz einer „histoire croisée“ in ihren transnationalen Verflechtungen betrachtet; diesen Ansatz hat Jie-Hyun Lim für seine Analyse von Opfernarrativen in Polen, Israel, Japan und Deutschland gewählt.

Das Forschungsinteresse des Sammelbandes richtet sich auf kollektive Erinnerungsformen, die durch „memory activists“ hervorgebracht werden (Assmann / Conrad, S. 4), welche wiederum „transnational memory alliances“ zur Durchsetzung ihrer Forderungen bilden (S. 9). Neben dem Begriff „collective memory“ verwenden die Beiträge semantisch ähnliche Termini wie „historical memory“, „public memory“, „transnational memory“, „political memory“ oder „popular memory“.3 Aleida Assmann und Sebastian Conrad legen sich in ihrer Einleitung nicht auf einen bestimmten theoretischen Ansatz zum Verständnis des Rahmenbegriffs „memory“ fest. Damit lassen sie zwar eine gewisse terminologische Uneinheitlichkeit zu, pressen die Fallstudien jedoch auch nicht in ein starres Konzept. Dies mag der Tatsache Rechnung tragen, dass die von Aleida und Jan Assmann ausgearbeiteten Konzeptionen zum kollektiven Gedächtnis, deren Erläuterung in der Einleitung durchaus naheliegend gewesen wäre, im angloamerikanischen Wissenschaftsbereich nicht denselben Rezeptionsgrad aufweisen wie in der deutschsprachigen und kontinentaleuropäischen Erinnerungsforschung.

Ein besonderes Augenmerk richten Assmann und Conrad in ihrer Einleitung auf den Begriff „global memory“ – sie fragen: „Is memory in a global age equivalent to global memory?“ (S. 7) Die Ergebnisse der Beiträge bieten hierfür keine abschließende Antwort. Am ausführlichsten setzt sich Aleida Assmann selbst mit der Frage nach der Existenz einer globalen Erinnerung auseinander und verfolgt diese Frage anhand von Reichweite und Grenzen transnationaler Deutungen des Holocaust. Dabei erklärt sie, wie durch eine Entkontextualisierung und Enthistorisierung des Holocaust ein „Global Icon“ entstanden sei, das vom historischen Phänomen losgelöst und als universelle Metapher für Traumata, Schmerzen und Zerstörungen benutzt werde. Auf dieser metaphorischen Ebene, so Assmann, „the Holocaust has indeed gone global“ (S. 114).

Der Sammelband weist eine disziplinäre und thematische Vielfalt an Einzelstudien auf, die wichtige Aspekte für die Frage nach dem Zusammenhang von Erinnerung und globalem Zeitalter beleuchten und zu weiteren Forschungen anregen. Einige mögliche Forschungsrichtungen möchte ich hier andeuten.

Erinnerung als „mémoire collective“ im Sinne von Maurice Halbwachs bezieht sich nicht nur auf die im Sammelband untersuchte Dimension kollektiv produzierter, ausgehandelter und durchgeführter Erinnerungsdiskurse und -praktiken, sondern auch auf die kollektive Bedingtheit individueller Erinnerungen. Die Rahmenbedingungen des globalen Zeitalters und die im globalen Diskurs entstehenden „Global Icons“ wirken auch auf einzelne Akteure und ihre Erinnerungs- und Identitätskonstruktionen; sie führen möglicherweise zu einer Neujustierung von Subjektivität innerhalb globaler Bezugsrahmen. Andererseits partizipieren diese Akteure am Entstehen globaler Erinnerungsdiskurse und -praktiken durch das Engagement in virtuellen Netzwerken, durch Migration, über die mediale Rezeption und durch den Konsum globaler kultureller Produkte. Eine Untersuchung derartiger Wechselwirkungen würde die Ergebnisse des Sammelbandes nicht nur um die individuelle Dimension ergänzen, sondern auch den im Band angeführten Zusammenhang von Erinnerung und Identität aus der Perspektive des Globalen und des Individuums in den Blick nehmen.

Auch die Erinnerungsforschung selbst, innerhalb derer sich verschiedene und in ihren jeweiligen akademischen Kontexten wirkmächtige Forschungsrichtungen herausgebildet haben, stellt einen lohnenden Gegenstand weiterer Untersuchungen dar. Wie verhält es sich in diesem Zusammenhang mit Globalisierungstendenzen wie wissenschaftlichem Austausch, Rezeption und Verflechtung?4

Wünschenswert sind schließlich Studien zu den im Sammelband nicht zentral behandelten Phasen der Globalisierung im 19. und frühen 20. Jahrhundert sowie eine stärkere Einbeziehung der USA, deren Bedeutung für globale und transnationale Erinnerungsphänomene größer sein dürfte, als aus den Beiträgen hervorgeht. Insgesamt stößt der erkenntnisreiche Sammelband in ein wahrlich globales Forschungsfeld vor, dessen Konturen sich abzeichnen, das aber noch viele offene Fragen bietet.

Anmerkungen:
1 Daniel Levy / Natan Sznaider, Erinnerung im globalen Zeitalter. Der Holocaust, Frankfurt am Main 2001 (rezensiert von Jan-Holger Kirsch, 2.4.2002: <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/GA-2002-020> [18.05.2011]).
2 Zu diesem Forschungsfeld siehe Jeffrey K. Olick, The Politics of Regret. On Collective Memory and Historical Responsibility, New York 2007 (rezensiert von Kerstin von Lingen, 24.11.2008: <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2008-4-164> [18.05.2011]).
3 Zur Kritik am Begriff „collective memory“ siehe beispielsweise Bill Niven, On the Use of „Collective Memory“, in: German History 26 (2008), S. 427-436.
4 In ihrer Überblicksdarstellung wichtiger theoretischer Studien zum kollektiven Gedächtnis schlägt Astrid Erll interdisziplinäre Vernetzungsmöglichkeiten verschiedener Ansätze vor und bezieht dabei sowohl die kontinentaleuropäische als auch die angloamerikanische Forschung ein; siehe Astrid Erll, Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen, Stuttgart 2005.