David L. Anderson (Hrsg.): The Columbia History of the Vietnam War

Titel
The Columbia History of the Vietnam War.


Herausgeber
Anderson, David L.
Erschienen
Anzahl Seiten
488 S.
Preis
€ 50,28
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Erik Fischer, Zivildienstschule Ith

Historiker/innen hat stets die Frage umgetrieben, ob man aus der Geschichte lernen könne. So wird es interessant sein zu sehen, wie die Historiker/innen in einigen Generationen über den jüngst zu Ende gegangenen Irakkrieg denken und schreiben werden. Für David L. Anderson ist dieser schon heute der Ausgangspunkt, um über die Geschichte eines anderen, die USA bis heute belastenden Krieges nachzudenken: den Vietnamkrieg. Dieser weise nicht nur auffällig viele Parallelen zum Krieg im Irak auf; er ist vor allem auch ein Gegenstand, der die Amerikaner bis heute beschäftigt, was – selbsterfüllende Prophezeiung – schon daran kenntlich wird, dass sein Beispiel im Zuge des Irakkrieges so oft bemüht wurde.

Bereits die ersten Seiten machen deutlich, dass der vorliegende, von David L. Anderson herausgegebene Sammelband den Irakkrieg zum Hintergrund hat und diesen auch immer mitdenkt: Einmal, wenn der Frage nachgegangen wird, welche Lehren man aus dem Vietnamkrieg ziehen kann. Denn auch wenn der Irakkrieg offiziell vorbei ist, der Kampf in Afghanistan wird noch lange dauern und auch anderswo auf der Welt keimen immer wieder neue Konflikte auf, wie es ein Blick auf das derzeitige Nordafrika deutlich macht. Zum anderen will der Sammelband den Gegenstand des Vietnamkrieges angemessen „historisieren“ und zu einem Prozess der Aufarbeitung mit beitragen.

David L. Anderson ist auf dem Gebiet der Vietnamkriegesforschung kein Unbekannter. Er hat mehrere Bücher zu diesem Thema publiziert, unter anderem einen Sammelband, der sich mit dem Massaker von My Lai auseinandersetzt, und jüngst einen Band, der sich der Diskussion aktueller Forschungsfragen und -kontroversen zum Vietnamkrieg widmet. Dem stehen die anderen Beiträger der „Columbia History of the Vietnam War“ in nichts nach – Anderson versammelt hier einige der bedeutendsten Wissenschaftler auf diesem Gebiet. Zu nennen seien nur George C. Herring, Robert D. Schulzinger, Robert J. McMahon und John Prados, die alle mit zahlreichen eigenen Publikationen, darunter Standardwerke, zum Vietnamkrieg hervorgetreten sind.1 Leider hat es den Anschein, dass europäische Wissenschaftler nicht dazu gehören. Einen Beitrag oder auch nur einen Literaturhinweis beispielsweise auf die Arbeiten Bernd Greiners sucht man in diesem Kompendium, welches sich mit verschiedensten Aspekten des Vietnamkrieges auseinandersetzt, vergebens – und das obwohl seine Studie „Krieg ohne Fronten“ längst in englischer Sprache verfügbar ist.2 Aber vielleicht drückt sich hier auch ein Konflikt aus: Denn so wie man einige Namen vermisst, die man in so einem Band vermutet hätte, vermisst man auch Thematiken. Ich denke dabei an die Frage der amerikanischen Kriegsverbrechen, die in dieser Veröffentlichung an keiner Stelle dezidiert untersucht oder gar bewertet werden.

Eröffnet wird der Band mit einem umfangreichen Essay von Anderson, in welchem er den Bogen von der frühen Geschichte des Landes über die Ereignisse, die wir den Vietnamkrieg nennen, bis hin zu kultur- und mentalitätshistorischen Fragestellungen schlägt. Eine wesentliche Stärke des Bandes wird schon hier deutlich. Denn auch wenn er von der Substanz her wenig neues verrät, so ist doch allein dieser Überblick, der einen stringenten und konzisen Überblick zum Thema Vietnam vermittelt, schon Grund genug, die „Columbia History of the Vietnam War“ in die Hand zu nehmen. Gekonnt flechtet Anderson immer wieder die Querverweise auf die weiteren und vertiefenden Aufsätze in seinen Essay mit ein. Wenn man sich überhaupt an etwas stören kann, dann vielleicht an seiner allzu offensiven Parteinahme für den glücklosen US-Präsidenten Lyndon B. Johnson, der bei Anderson – anders zum Beispiel als bei Robert J. MacMahon im selben Band – als ein Getriebener erscheint, der den Krieg eigentlich gänzlich verhindern wollte. Interessant ist, dass sowohl in seinem Essay als auch im Beitrag von Gary R. Hess die Frage aufgeworfen wird, wie John F. Kennedy das Problem Vietnam weiter gehandhabt hätte, wäre er nicht dem Attentat in Dallas zum Opfer gefallen. Beide Autoren machen deutlich, dass mit Kennedy eine Entwicklung begonnen hat, die zu einer immer weiteren Eskalation in Vietnam beitrug. Kennedy war der erste, der in größerem Maße Soldaten nach Vietnam schickte, die auch schon während seiner Amtszeit an Kämpfen teilnahmen. Er legte damit einen folgenschweren Grundstein für seine Amtsnachfolger, denen sowohl die Möglichkeiten als auch der Wille fehlte, aus diesem Krieg auszuscheren. Zuletzt sei erwähnt, dass es sehr angenehm ist, dass sich Anderson neben der Politik in seinem Essay auch der medialen Aufarbeitung bzw. Verarbeitung des Vietnamkrieges in Film, Roman und Gedicht widmet und ebenso die Rolle und die Geschichte der eigentlichen Hauptfiguren, der Soldaten bzw. Veteranen, thematisiert.

An diesen umfangreichen Essay schließen sich in drei Abschnitten nun vertiefende Aufsätze an. Die Abschnitte sind dabei sinnvoll nach chronologischen Darstellungen zur Geschichte des Vietnamkrieges, nach typologischen Fragestellungen und schlussendlich nach Perspektiven nach dem Ende des Krieges unterteilt. Analoges wie zum Einführungsessay von David Anderson ist auch hier zu sagen: Es wird nichts wirklich Neues mitgeteilt und dennoch ist es hilfreich, die Zusammenhänge und Hintergründe des Vietnamkrieges in dieser Form gebündelt zu lesen, wobei ein deutlicher Schwerpunkt auf dem amerikanischen Vietnamkrieg liegt.

Gary Hess macht nochmals auf beeindruckende Art und Weise deutlich, wie sich die Regierung Kennedys und Johnsons immer tiefer und auswegloser in diesen Krieg verstrickte. Doch dieser Umstand ist an anderer Stelle ebenso hinlänglich und umfangreich dokumentiert; man denke nur an die beeindruckende Studie von H.R. McMaster, die mit keiner Silbe erwähnt wird.3 John Prados kurzer Abriss zur Strategie der USA in Vietnam ist vielleicht der drastischste Beitrag, denn er bringt in aller Deutlichkeit zum Ausdruck, „[that] in truth, there was only one strategy in the Vietnam War – to kill the enemy […].“ (S. 248) Prados kommt, wie Jahre vor ihm Harry G. Summers jr., zu dem Schluss, dass die USA in Vietnam keine Strategie im klassischen Sinne hatten. Das einzige Konzept, welches den Einsatz von Anfang bis Ende zusammenhielt, war das der Abnutzung bzw. Zermürbung – mit den bekannten Folgen. Bezeichnenderweise werden diese von Prados nicht weiter thematisiert; der gesamte Komplex, der mit dem berüchtigten „body count“ und den so genannten „free fire zones“ einhergehenden Kriegsverbrechen findet keine nennenswerte Erwähnung. Lediglich in einem Zitat von James William Gibson wird die „routine violation of the rules of engagement and regulations covering treatment of prisoners, and systematic slaughtering of Vietnamese noncombatants“ (S. 257) überhaupt erwähnt.4 Prados Schlussfolgerung erscheint, gemessen an den Erkenntnissen Bernd Greiners, noch erschreckender als seine Darlegungen über die amerikanische Strategie selbst: „Perhaps the worst impact of attrition as the U.S. strategy in the Vietnam War was that it substituted statistical measures for visible goals. Leaders, commanders, and the American citizen were enmeshed in a morass of murky data […].“ (S. 258).

Eine interessante Perspektive bringt Helen E. Anderson in den Band, wenn sie über Frauen im Vietnamkrieg nicht als Opfer, sondern als Soldatinnen und damit Kämpferinnen schreibt. Vor allem im Norden Vietnams und in den Reihen der Guerillas leisteten Frauen Kampfdienste, vor allem, weil sie der Überzeugung waren, nur so ihre Familien schützen zu können. Zudem begriffen sie den Beitrag zum Befreiungskampf als ein Mittel ihrer eigenen Emanzipation, denn die konfuzianische Tradition Vietnams stufte die Frau hinter den Mann zurück. Der Beitrag von Helen E. Anderson erweitert damit überzeugend die Perspektive auf den Vietnamkrieg.

Alles in allem wird in den verschiedenen Beiträgen deutlich, dass sich in den Vereinigten Staaten schon während der Amtszeit von John F. Kennedy, jedoch nochmals verstärkt als Lyndon B. Johnson und Richard Nixon die amtierenden Präsidenten waren, ein politisches Klima entwickelt hatte, in welchem Warnungen sowie unbequeme und nicht in die vermeintliche Strategie des Vietnamkriegs passende Tatsachen einfach ignoriert wurden. Diese von großen Teilen des Militärs und der Politik gepflegte institutionelle Blindheit geht dabei noch weit über die von Barbara Tuchmann genannte »Torheit der Regierenden« hinaus. Der Sammelband macht wieder einmal deutlich, dass der Vietnamkrieg kein Sumpf war, in den man planlos hineinschlitterte, sondern im Gegenteil einer, den man in einem selbst gewählten Martyrium bewusst ansteuerte und durchquerte. Neben vielen Publikationen zum Vietnamkrieg ist die „Columbia History of the Vietnam War“ eine gewinnbringende Fundgrube zu verschiedensten und speziellen Fragen des amerikanischen Traumas, wobei die Ausblendung solch wichtiger Probleme, wie die amerikanische Verstrickung in Kriegsverbrechen, als deutlicher Mangel erscheint.

Anmerkungen:
1 Eine Auswahl stellen dar: David L. Anderson (Hrsg.), Facing My Lai: Moving Beyond the Massacre (Modern War Studies), Lawrence, KS 1998; George C. Herring, America's Longest War. The United States and Vietnam, 1950 – 1975, New York 1996; John Prados, Vietnam: The History of an Unwinable War, 1945-1975, Lawrence, KS 2009.
2 Bernd Greiner, War Without Fronts: The USA in Vietnam, London 2009.
3 Herbert Raymond McMaster, Dereliction of Duty: Lyndon Johnson, Robert McNamara, the Joint Chiefs of Staff, and the Lies that Led to Vietnam, New York 1998.
4 John Prados zitiert hier aus James William Gibson, The Perfect War: The War We Couldn’t Lose and How We Did, New York 1986, S. 125.

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