Titel
The Marne, 1914. The Opening of World War I and the Battle that Changed the World


Autor(en)
Herwig, Holger H.
Erschienen
New York 2009: Random House
Anzahl Seiten
432 S.
Preis
$ 28.00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Olaf Jessen, Freiburg im Breisgau

Die Schlacht an der Marne gilt als Wendepunkt des Ersten Weltkriegs. In der zweiten Septemberwoche 1914 stießen östlich von Paris französische, britische und deutsche Armeen aufeinander – in einem Großraum, der durch vier Flüsse geprägt wird, die allesamt in die Marne münden. Die Schlacht endete mit dem Rückzug des deutschen Heeres hinter die Aisne. Damit war der Schlieffenplan gescheitert.

Holger H. Herwig, Professor an der Universität Calgary und verdienter Fachmann für die Geschichte des Ersten Weltkriegs, verdichtet seine Darstellung auf wenige Hauptdarsteller: die Armeeführer. Ihre Pläne und Entscheidungen sind es vor allem, die Herwig über neun Kapitel hinweg im Rhythmus eines literarischen Dramas schildert – Prolog, drei Akte (Entfaltung, Wendepunkt, Entscheidung), Epilog. Insofern erinnert das Buch an Haffners Kammerspiel „Das Wunder an der Marne“; schon Sebastian Haffner hatte die Marneschlacht als Duell der Generäle geschildert.1 Und wie Haffner behandelt auch Herwig den gesamten August-Feldzug, nicht nur die Kämpfe an der Marne. Herwig entwickelt keine Fragestellungen, sondern betont das Eigengewicht der Schlacht: Die Marne sei „die bedeutendste Landschlacht des 20. Jahrhunderts“ (S. XI). Solche Wertungen können aber nicht zuletzt mit nationalen Prägungen zusammenhängen. Russische, deutsche, amerikanische, britische und französische Historiker zum Beispiel könnten auch „Stalingrad“, „D-Day“, „Verdun“ oder die „Somme“ zur bedeutendsten Landschlacht des letzten Jahrhunderts erklären.

Herwig wagt Ausflüge in die kontrafaktische Geschichtsschreibung. „Ohne die Schlacht an der Marne höchstwahrscheinlich kein Hitler, kein Horthy, kein Lenin, kein Stalin.“ (S. XII) Solche Gedankenspiele sind stets reizvoll und nie zu widerlegen; der historischen Einsicht aber dienen sie in diesem Fall wenig. Denn Ähnliches könnte man von vielen Schlachten behaupten. Ohne Königgrätz etwa höchstwahrscheinlich kein Sedan, kein Reich, kein Hitler, kein Horthy, kein Lenin, kein Stalin – wer wollte widersprechen?

Herwig wählt einen ungewohnten Blickwinkel. „Dieses Buch ist anders. Zum ersten Mal wird die Schlacht an der Marne aus Sicht derjenigen analysiert, die sie begonnen haben: aus Sicht der sieben deutschen Armeen, die in Belgien und Frankreich einmarschierten“ (S. XIV). Tatsächlich schließt Herwigs moderne, archivnahe Studie der Marneschlacht aus überwiegend „deutscher“ Sicht fachlich eine Lücke. Herwig hat Material aus den Staatsarchiven in Freiburg, München, Karlsruhe, Stuttgart und Dresden herangezogen, darunter dreitausend bisher kaum genutzte preußische Heeresakten, die 1988 aus der Sowjetunion in die DDR gelangten und nun im Bundesarchiv-Militärarchiv lagern.

Die Studie bietet Neues vor allem zum Partisanenkrieg, zur „Hentsch-Mission“ und zum Schwenk der Ersten Armee unter Alexander von Kluck nordöstlich von Paris. Am deutschen Schwenkungsflügel bildeten Klucks Streitkräfte die äußerste Rechte. Ende August waren sie nicht mehr stark genug, um Paris wie geplant im Südwesten zu umfassen. Daher beschloss Generalstabschef Moltke, Kluck solle stattdessen östlich der Metropole seinen halben Linksschwenk vollziehen – was für Kluck freilich die Gefahr heraufbeschwor, seinerseits aus Richtung Paris an der eigenen rechten Flanke umfasst zu werden. Diese Schwenkung der Ersten Armee galt bisher als spontane Entscheidung der deutschen Heeresleitung, der Not des Augenblicks geschuldet. Herwig aber kann belegen, dass Moltke, Kluck und dessen Stabschef von Kuhl auf eine solche Möglichkeit theoretisch schon seit Jahren vorbereitet gewesen waren (S. 222).

Oberstleutnant Richard Hentsch, angereist vom Großen Generalstab aus Luxemburg, besuchte am 8. und 9. September in Moltkes Auftrag die Hauptquartiere der Zweiten und Ersten Armee. Durch seine pessimistische Beurteilung der Lage soll er dort die Kommandeure zu einem überstürzten Rückzug veranlasst und den schon sicheren Sieg verspielt haben. Ohne die „Hentsch-Mission“ und Moltkes schwache Nerven, so die von Zeitgenossen und Historikern oft vertretene Meinung, wäre ein deutscher Erfolg unvermeidlich gewesen. Ausführlich rekonstruiert Herwig den Entscheidungsprozess im Hauptquartier von Bülows Zweiter Armee. Ergebnis: Nicht Hentsch oder Moltke, sondern Bülow sei verantwortlich für den Rückzug der Zweiten Armee, ein Befehl, der auch zum Rückzug der Ersten Armee und schließlich zum Weichen der gesamten Frontlinie führte.

Herwigs „Epilog“ fasst wichtige Ergebnisse der Studie zusammen. An der Marne, so Herwig, habe die Entscheidung auf Messers Schneide gestanden. Der Schlachtausgang sei die Folge von Glück oder Zufällen, vor allem aber von operativen Entscheidungen der Armeeführer gewesen. Doch nicht die „Hentsch-Mission“ oder Moltkes Nervenschwäche, sondern eine verworrene deutsche Kommandostruktur, Moltkes Befehlsstil der „langen Leine“, Joffres Führungsweise der „kurzen Leine“, die Vorteile der inneren Linie, logistische Mängel, ein veraltetes deutsches Kommunikationssystem und operative Fehler Klucks, Bülows und Hausens hätten am Ende den Ausschlag gegeben.

Wie immer glänzt Herwig als Stilist. Zusammenhänge wie die Julikrise, Generalstabspläne oder den Aufbau von Streitkräften beleuchtet er knapp, verständlich und stets auf dem neuesten Stand der Forschung. Darüber hinaus kann Herwig mit farbigen, teilweise aufschlussreichen Details aufwarten. So erfährt der Leser, dass über jeder belgischen Stadt, durch die das deutsche Heer zog, tagelang der Geruch einer halben Million ungewaschener Männer hing, dass es im langen Zug des Kaiserlichen Hauptquartiers auf dem Weg von Berlin nach Koblenz einen Speisewagen mit Sitzordnung und festen Essenszeiten gab, dass Moltke schon beim Handstreich auf Lüttich einen Nervenzusammenbruch erlitt, dass auf deutscher Seite landsmannschaftliche Gegensätze die Operationsführung beeinflussten und dass viele deutsche Soldaten auf den Befehl zum Rückzug hinter die Aisne mit Weinkrämpfen oder Trinkgelagen reagierten, einige Offiziere sogar mit Beinahe-Meutereien.

Durch die Neubewertungen von Klucks Linksschwenk und der Hentsch-Mission setzt Herwig wichtige Akzente für die Geschichtsschreibung zur Marneschlacht. Seine Ausführungen zu Moltkes Führungsstil oder den Kommunikationsmängeln hingegen sind beispielsweise schon bei Haffner nachzulesen. Aufschlussreich sind Herwigs neue Quellen zu den Auseinandersetzungen zwischen französischen oder belgischen Zivilsten einerseits und deutschen Soldaten andererseits. Bekanntlich gab es vor allem in Belgien standrechtliche Erschießungen von Zivilisten, Geiseltötungen, Massendeportationen, Plünderungen und Brandschatzungen. Mit Recht behauptet nun Herwig, dass seine Funde nahe legen, viele Opferberichte und Pressemeldungen der Alliierten „neu zu bewerten“ (S. XV) – doch leider überlässt er diese „Neubewertung“ seinen Lesern.

Fest steht: Deutsche Feldpostbriefe, offizielle Kriegstagebücher oder militäramtliche Berichte erwähnen bewaffnete, oft tödliche Anschläge von Zivilisten auf Soldaten ebenso regelmäßig wie ausführlich. Daher erscheint es zweifelhaft, die Übergriffe des Militärs vor allem als Ergebnis einer „Franctireurs-Psychose“ zu deuten, als Überreaktion auf Phantom-Partisanen, deren Scheinexistenz der kollektiven Erinnerung an den Krieg von 1870/71 geschuldet sei. Vielmehr handelte es sich offenbar um bewaffnete, massenhafte, völkerrechtswidrige Angriffe von Nichtkombattanten auf Kombattanten einer völkerrechtswidrig angreifenden Invasionsarmee. Folgt man Herwig, so verebbten die Anschläge auf deutsche Soldaten nach dem Überschreiten der belgisch-französischen Grenze (S. 234). Eine Erklärung für diesen immerhin erstaunlichen Wandel bleibt er allerdings schuldig.

Herwig nutzt das klassische Vokabular der Operationsgeschichte. „Flanken“ werden „umgangen“, Armeeführer beginnen eine „Gegenoffensive“ oder bangen um die „Stabilität“ des eigenen „Zentrums“. Das „Antlitz des Krieges“ (Keegan) bleibt häufig im Dunkeln, der „Krieg des kleinen Mannes“ (Wette) findet kaum statt, die Schilderung der Gefechte wirkt meist steril. Wohl kaum ein Leser kann erahnen, wie Gefechte im industriellen Volks- und Bewegungskrieg jenseits der Hauptquartiere tatsächlich ausgesehen haben.

Auf die Diskussion der älteren deutschsprachigen Forschung über die Frage, ob Moltke den Schlieffenplan „verwässert“ habe, geht Herwig nicht ein. Auch der Umstand, dass die Heeresrüstung keinesfalls jene Armeestärken erreichte, die Schlieffen gefordert hatte, taucht in der Darstellung nirgendwo auf. Zwar erklärt Herwig, Moltke habe niemals zugestehen können, „dass Krieg für Deutschland nicht länger eine echte Option war, ohne seine staatliche Existenz aufs Spiel zu setzen“ (S. 40); ob es dann aber zutreffen kann, dass „nichts an der Marne vorherbestimmt war. Wahlmöglichkeiten, Zufälle und Was-Wäre-Wenns schlichen an jeder Ecke herum“? (S. 307) Moltke jedenfalls ahnte die hohe Wahrscheinlichkeit einer Niederlage. Anfang September schließlich konnte es nur noch darum gehen, ob seine geschwächten Armeen sich an der Marne oder an der Aisne eingraben würden. Längst schon war die Hoffnung auf ein Riesen-Cannae zerstoben. Diesen Hinweis aber sucht man bei Herwig vergebens.

Von Nachteil ist das überwiegend schlechte Bild- und Kartenmaterial. Die Bebilderung beschränkt sich fast durchweg auf Porträtfotos von Heerführern oder Politikern. Die Karten, sämtlich in Schwarz-Weiß, erleichtern dem Leser die Lektüre wenig.

Fazit: Herwig schließt eine Lücke, legt eine stilistisch glänzende, archivnahe Studie vor, erschließt wichtige Quellen, bietet inhaltlich und interpretatorisch viel Neues, wählt aber eine eher konservative Methodik, offenbart ungewohnte, kleinere Schwächen bei der Analyse und bebildert ausgerechnet eine operationsgeschichtliche Arbeit mit schlechtem Kartenmaterial. Zwar gehört „The Marne“ wohl nicht zu seinen stärksten Büchern; doch wie allen Arbeiten Holger H. Herwigs lohnt auch bei dieser Studie die Lektüre.

Anmerkung:
1 Sebastian Haffner/Wolfgang Venohr, Das Wunder an der Marne. Rekonstruktion der Entscheidungsschlacht des Ersten Weltkriegs, Bergisch Gladbach 1982.

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