Cover
Titel
Pop. Geschichte eines Konzepts 1955-2009


Autor(en)
Hecken, Thomas
Reihe
Kultur- und Medientheorie
Anzahl Seiten
563 S.
Preis
€ 35,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Detlef Siegfried, Kopenhagen

Anders als in der Geschichtswissenschaft, die sich populärkulturellen Phänomenen erst kürzlich systematischer zugewandt hat1, gehören derartige Themen in anderen Fächern schon länger zum etablierten Themenspektrum – in der Europäischen Ethnologie/Empirischen Kulturwissenschaft und der Medienwissenschaft schon qua definitionem, aber auch in der Germanistik, wo alltagsethnologisch interessierte Autoren wie Hubert Fichte oder Rolf Dieter Brinkmann schon frühzeitig auf Interesse gestoßen sind. Im Kontext der in der zweiten Hälfte der 1990er-Jahre aufgekommenen Welle der „Pop-Literatur“ hat dieses Interesse einen enormen Aufschwung genommen und sich zugleich über seinen literarischen Gegenstand hinaus ausgeweitet. Dass Musik in den Büchern von Nick Hornby, Benjamin von Stuckrad-Barre oder Thomas Meinecke eine zentrale Rolle spielt, ist dabei ebenso von Belang wie die Tatsache, dass die Beschäftigung mit Popmusik spätestens seit den 1980er-Jahren zu einem Teil respektabler Kultur geworden ist, die auch – wie sich an ihrer Intellektualisierung in den Feuilletons ablesen lässt – Distinktionsgewinne mit sich bringen kann.

Unter den Germanisten, die sich populärkulturellen Phänomenen zugewandt haben, hat Thomas Hecken am weitesten ausgegriffen – insbesondere auf Pop Art und Popmusik – und die Geschichte des „Konzeptes“ Pop untersucht. Damit sind die Interpretationen gemeint, mit denen Intellektuelle – zumeist Kulturwissenschaftler, theoretisierende Künstler, Journalisten – versucht haben, popkulturelle Phänomene ihrer Gegenwart theoretisch zu fassen. Es geht also nicht um die Entwicklung der Popkultur oder um die mit ihr jeweils verbundenen Praktiken sozialer Akteure, sondern um intellektuelle Diskurse und ihre Konjunkturen. Heckens Methode besteht darin, die sich wandelnden Auslegungen der Massenkultur, wie sie unter anderem aus bislang kaum herangezogenen Quellen wie populären Zeitschriften à la New Yorker oder Melody Maker zusammengetragen werden, referierend nachzuzeichnen und analytisch einzuordnen. Dabei ist die Breite der vorgestellten Positionen zu bildender Kunst, Literatur, Musik, Design und Architektur einzigartig; nirgends sonst wird man eine Zusammenschau der Pop-Interpretationen in dieser Vielfalt und analytischen Durchdringung finden. Hier wird nicht, wie so häufig, nur Name-Dropping betrieben, sondern Hecken stellt die Positionen einer großen Anzahl von Autoren ausführlich vor – von Robert Christgau bis Paul Morley, von George Melly bis Charles Jencks, von Tom Wolfe bis Kid P. Dabei stehen die international tonangebenden Deutungen aus den USA und Großbritannien im Mittelpunkt, wobei gelegentlich am westdeutschen Beispiel kontinentale Sichtweisen einbezogen werden.

Dass Redundanzen vorkommen und der betont akademische, bisweilen apodiktische Sound der Darstellung (im Unterschied zum Gegenstand der untersuchten Diskurse) den „Fun“-Faktor der Lektüre nicht eben steigert, nimmt man angesichts der gebotenen Informationsfülle in Kauf. Konzeptionell zu bedauern ist die Entscheidung, Deutungen der Massenkultur etwa faschistischer oder kommunistischer Provenienz auszublenden, weil sie zur „Etablierung der Pop-Konzepte […] keinen Beitrag“ leisteten (S. 54). So erscheint Popkultur als per se an kapitalistisch-demokratische Gesellschaften gekoppeltes Deutungsphänomen, obwohl etwa Walter Benjamins oder Bertolt Brechts Medientheorien ebenso wie die neuesten „Soundtracks für den Volksempfänger“2 keinen Zweifel lassen, dass populäre Kunst offen für die unterschiedlichsten politischen Deutungen ist. Heckens Setzung, dass der „avancierte linke Angang“ (gemeint sind die Positionen einer frei schwebenden Avantgarde) „von der puritanischen Linie kommunistischer und größtenteils auch sozialdemokratischer Parteien maximal entfernt“ (S. 154) sei, erscheint unterkomplex – die empirische Forschung legt hier differenziertere Thesen nahe.

Ansonsten aber wird alles einbezogen, was an popkulturellen Strömungen im 20. Jahrhundert relevant war, wobei sich die Arbeit nach einem Abriss der Vorläufer auf die Jahre 1955 bis 1985 als Hochzeit des Pop-Diskurses konzentriert – danach kommt es Hecken zufolge nur noch zu Variationen bereits ausgearbeiteter Konzepte. Ausführlich wird die Entstehung des Pop im Kontext der britischen Independent Group um Richard Hamilton dargestellt, die aus einer avantgardistischen Haltung heraus in einer Mischung aus Affirmation und Kritik auf die explosionsartige Ausbreitung der Konsumgesellschaft reagierte. Vier weitere historische Durchgänge behandeln die unter anderem von Susan Sontags „Camp“-Deutung intellektuell abgesicherte „Durchsetzung“ des Pop Mitte der 1960er-Jahre, das Verhältnis von Pop und Underground in der zweiten Hälfte der 1960er-Jahre, die sich auf Glam und Punk gleichermaßen beziehende anti-authentizistische Deutung des Pop aus dem Geist einer „Postmoderne“ 1968-1977 und eine nachfolgende, um den „New Pop“ in der Musik kreisende „Vollendung der Pop-Affirmation“ bis 1985. Zwischengeschaltet sind zwei Kapitel, die Systematisierungen der geradezu verwirrend vielfältigen „Konzepte“ anbieten und damit etwas mehr Überblick schaffen. Eine bis zur Gegenwart ausgreifende „Nachgeschichte“ schließt die Darstellung ab.

Hecken hält sich mit Urteilen angenehm zurück, trifft aber, wenn er Position bezieht, zumeist ins Schwarze. So hält er etwa die Kulturkritik der Situationisten und Herbert Marcuses für „zu eindimensional“ (S. 183), weil der von ihnen kritisierte „Underground“ der späten 1960er-Jahre eben nicht nur konsumistisch funktionalisiert wurde, sondern tatsächlich auch etwas veränderte. Auch manchen anderen Thesen, wie etwa der vom Hegemonieverlust der linken Popkritik in den 1980er-Jahren, ist zuzustimmen. Auf Glatteis begibt sich der Verfasser allerdings, wenn er am Ende die Thesen der Pop-Theoretiker auf ihre gesellschaftliche Triftigkeit hin bewertet, denn die Gesellschaftsanalyse ist nicht Gegenstand der Untersuchung – sie erscheint nur gelegentlich als Kontext zur Einordnung der Diskurse. Inwiefern etwa Popkultur und Medienkonsum die Gesellschaft veränderten oder wie sich Popkultur und liberale Demokratie zueinander verhielten, lässt sich nicht aus dem Handgelenk beurteilen, sondern hier sind differenziertere Antworten wünschenswert und möglich, die freilich nicht allein aus den Diskursen zu gewinnen sind. Dennoch ist Thomas Heckens Standardwerk zu den sich wandelnden Deutungen des Pop ein großer Gewinn auch für diejenigen Zweige der Popkulturforschung, die sich diesem Thema gesellschaftsgeschichtlich nähern. Es bietet einen vorzüglichen diskurshistorischen Rahmen, den die beginnende Popgeschichte mit Leben füllen muss.

Anmerkungen:
1 Vgl. die Zusammenschau von Bodo Mrozek, Popgeschichte, Version: 1.0, in: Docupedia-Zeitgeschichte, 6.5.2010, <http://docupedia.de/zg/Popgeschichte?oldid=75533> (14.03.2011).
2 Max Annas / Ralph Christoph, Neue Soundtracks für den Volksempfänger. Nazirock, Jugendkultur und rechter Mainstream, Berlin u.a. 1993.

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