B. von Kostka u.a. (Hrsg.): Die Berliner Luftbrücke

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Titel
Die Berliner Luftbrücke. Ereignis und Erinnerung


Herausgeber
von Kostka, Bernd; Trotnow, Helmut
Erschienen
Berlin 2010: Frank & Timme
Anzahl Seiten
160 S.
Preis
€ 16,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Arthur Schlegelmilch, Lehrgebiet Neuere Deutsche und Europäische Geschichte, FernUniversität in Hagen

Der Band beinhaltet die Vorträge eines im Frühjahr 2009 aus Anlass des sechzigjährigen Luftbrückenjubiläums im AlliiertenMuseum Berlin durchgeführten gleichnamigen Symposiums. Er möchte möglichst viele Facetten der zwischen 26. Juni 1948 und 30. September 1949 (US) bzw. 06. Oktober 1949 (GB) durchgeführten amerikanisch-britischen Luftbrückenaktion aufzeigen und dem bisherigen Bild neue Erkenntnisse hinzufügen. Hierzu gehören die Würdigung des französischen Beitrags mit der Bereitstellung des Tegeler Flugplatzgeländes ebenso wie Analysen über die sowjetischen Absichten sowie Reflexionen zum keineswegs ungetrübten britisch-amerikanischen Verhältnis am Vorabend der Krise. Bislang unbekannte Perspektiven bieten Beiträge über die Bedeutung ehemaliger deutscher Luftwaffenmechaniker für die Wartung der eingesetzten Maschinen (Roger Miller) bzw. über den Beitrag der zivilen britischen Charterfirmen zum Erfolg der Luftbrücke (Bernd von Kostka). Einen interessanten Nebenaspekt liefert Richard Hufschmieds Beitrag über amerikanisch-britische Notfallplanungen für den Fall einer Blockade Wiens, von denen aber nur die Anlage von Geheimdepots mit insgesamt 68.000 Tonnen Nahrungsmitteln umgesetzt wurde.

Die vier Eröffnungsbeiträge zum Themenfeld „Die Luftbrücke in der internationalen Politik“ liefern zwar keine grundlegend neuen Erkenntnisse, pointieren manchen Aspekt aber doch schärfer als man es gewohnt ist. So arbeitet Alexej M. Filitow den improvisierten und wenig durchdachten Charakter der sowjetischen Sperrungen überzeugend heraus. Diese begründete man in seltsamer Widersprüchlichkeit einerseits mit „Reparaturen, die keinen Zusammenhang mit der Londoner Konferenz haben“, verband die Feststellung indes mit dem Hinweis, dass „die Frage Berlins eng verknüpft ist mit der Londoner Konferenz.“1 Ähnlich vielschichtig gestaltete sich eine von Filitow zitierte Äußerung Stalins im Gespräch mit den drei Vertretern der Westmächte in Moskau vom 2. August 1948, derzufolge neben den technischen Schwierigkeiten weitere Motive existierten, so die illegale Verbringung von Industrieausrüstungen nach West-Berlin sowie generell Maßnahmen des Westens, welche der Wirtschaft der Sowjetzone Schaden zufügten (S. 25).

Wenn Filitow die ältere Vorstellung einer planvollen Blockadestrategie Stalins relativiert2, so passt dies gut zu Michael Lemkes Beitrag über „das Verhältnis von Abschottung und Durchlässigkeit im Berliner Krisenalltag 1948/49“. Lemke unterstreicht seinerseits den unsystematischen Charakter der östlichen Absperrungsmaßnahmen, die offenbar nicht auf das Aushungern der West-Berliner Bevölkerung zielten. Der „Selbsthilfe“ der Berliner im „kleinen Grenzverkehr“ zwischen Stadt und Umland schaute die Besatzungsmacht erstaunlich passiv zu bzw. griff nur sporadisch ein. Geduldet wurde sogar, dass Ost-Berliner und sowjetzonale Betriebe sich bemühten, mit ihren West-Berliner Wirtschaftspartnern im Geschäft zu bleiben, um die eigene Produktion nicht zu gefährden.

Als Fehlkalkulation der östlichen Seite erwies sich nicht nur die unterschätzte Leistungsfähigkeit der Luftbrücke, sondern auch die Stimmungslage der West-Berliner Bevölkerung, die sich mit nie gekannter Geschlossenheit hinter die im „Verschmelzungskampf“ zur antikommunistischen Symbolpartei gewordenen Berliner SPD stellte und ihr bei den Stadtverordnetenwahlen vom 5. Dezember 1948 mit 64,5 Prozent der Stimmen einen triumphalen Wahlsieg bescherte. Ein Gutteil dieses Ergebnisses ging zweifellos auf das Konto Ernst Reuters, der mit seiner Rede an die „Völker der Welt“ vom 9. September 1948 nicht nur die Westmächte moralisch in die Pflicht genommen hatte, sondern, so jedenfalls die Auffassung Malte Zierenbergs im vorliegenden Band, mit punktgenauer Rhetorik die Gefühlswelt der Berliner Bevölkerung ansprach und auch gegenüber den Westmächten nicht mit Kritik sparte. Es mag dahin gestellt sein, ob die „Schwarzmarktsemantik“ Reuters, mit der er gegen die Gefahr eines Tauschhandels auf Kosten Berlins polemisierte, tatsächlich die enorme historische Wirkung seiner Rede erklären kann – an ihrer überragenden erinnerungspolitischen Relevanz bis heute besteht jedenfalls kein Zweifel. Man beachte nur die historische Selbstdarstellung des Senats auf dem offiziellen „Hauptstadtportal“ der Stadt Berlin im Internet.3

Demgegenüber scheint sich der Symbolwert der Luftbrücke, zu deren Gedenken sich in den 1950er-Jahren noch zehntausende, danach indes immer weniger Berliner auf dem „Platz der Luftbrücke“ zusammenfanden, ungleich schneller verflüchtigt zu haben und bald schon geradezu kontraproduktiv für das nach Überwindung der schlimmsten Krisenjahre auf Entspannung und Normalisierung gerichtete Lebensgefühl der West-Berliner geworden zu sein. In der wiedervereinigten Stadt stellt sie in gewisser Weise sogar ein trennendes Erinnerungsmoment dar – nicht nur wegen der unterschiedlichen lebensgeschichtlichen Erfahrungen und Verarbeitungen diesseits und jenseits des Brandenburger Tors, sondern vielleicht auch, weil die Absperrmaßnahmen der Sowjets und die Gegenmaßnahmen des Westens über einen langen Zeitraum geschichtspolitisch überstrapaziert wurden und sich zu weit von den tatsächlichen Verhältnissen entfernten, die mit dem Kampfbegriff „Blockade“ letztlich nur unzureichend beschrieben werden. Dies jedenfalls ist einer der Eindrücke, die der Rezensent aus der Lektüre des Bandes mitnimmt.

Obwohl dessen Titel vor allem auf die Luftbrücke abhebt, scheint mir der interessanteste Ertrag in neuen Sichtweisen auf die Berliner Blockade zu liegen. Dabei handelt es sich um Perspektiven jenseits der Verdrehungen und Leugnungen der DDR-Historiographie, aber auch jenseits westlicher Geschichtserzählungen, die den aus welchen Gründen auch immer vor Ort gebliebenen West-Berliner schnell zum Freiheitshelden machte und die Berlin-Verbundenheit der Westmächte überschätzte. Die Beiträge des Bandes zeichnen in ihrer Mehrheit dagegen das Bild eines tastenden Übergangs in das Zeitalter des Kalten Kriegs, wobei die eigentlichen Akteure der Luftbrücke noch am wenigsten von Zweifeln geplagt wurden, wenn sie sich auf die Bewältigung der an sie gestellten technischen und physischen Anforderungen konzentrierten, die sie mit bemerkenswerter Präzision und Ausdauer meisterten – ganz im Gegensatz zur laxen Kontroll- und Absperrungspraxis der Sowjets.

Letztlich unklar bleibt, ob sich in Washington, London und Paris während der Blockade tatsächlich schon die im Grunde irrationale Vorstellung durchsetzte, dass das Schicksal der westlichen Zivilisation ausgerechnet in Berlin entschieden würde. Vermochte man sich an diesem Punkt womöglich der diesbezüglichen „Dauerwerbekampagne“ Ernst Reuters nicht zu entziehen? Oder schuf erst der im Grunde unerwartete Erfolg der Luftbrücke neue Fakten, die einer Aufgabe Berlins bis auf weiteres im Wege standen? Dass es sich noch um keine festgefügte Position handelte, belegt nicht zuletzt das berlinpolitische Schwanken Präsident Eisenhowers, der sich unter dem Druck des Chruschtschow-Ultimatums von 1958 zu Verhandlungen bereit erklärte und mit Blick auf den bestehenden Zustand von einer „abnormalen Situation“ sprach.4

Anmerkungen:
1 Vgl. Unterredung der westlichen Militärgouverneure mit Marschall Sokolowski über die Blockade, 3.7.1948, in: Senat von Berlin (Hrsg.), Berlin. Quellen und Dokumente 1945-1951, Berlin 1946, 2. Hlbbd., Nr. 856, S. 1497.
2 So etwa W. Phillips Davison, Die Blockade von Berlin. Modellfall des Kalten Krieges, Frankfurt am Main 1959, der Berlins Rolle in diesem Konflikt als „sowohl „Hebel als auch Preis“ beschrieb (S. 179) und damit für längere Zeit den Forschungsstand dominierte.
3 Vgl. <http://www.berlin.de/rubrik/hauptstadt/geschichte/ernstreuterrede.html> (27.04.2011).
4 Vgl. Der Spiegel, 13. Jg. v. 7.10.1959, H. 41, S. 17f.

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