R. Schlögl (Hrsg.): Urban Elections and Decision-Making in Europe

Cover
Titel
Urban Elections and Decision-Making in Early Modern Europe, 1500-1800.


Herausgeber
Schlögl, Rudolf
Erschienen
Newcastle upon Tyne 2009: Cambridge Scholars Publishing
Anzahl Seiten
329 S.
Preis
£ 44.99
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Thomas Weller, Abteilung für Universalgeschichte, Institut für Europäische Geschichte Mainz

Die von Rudolf Schlögl unter Mitarbeit von Patrick Oelze, Jan Marco Sawilla und Alexander Schlaak herausgegebene Aufsatzsammlung geht zurück auf eine Sektion auf der „Eighth International Conference on Urban History“, die im Jahr 2006 in Stockholm stattfand. Die dort gehaltenen Vorträge wurden durch eine Reihe weiterer Beiträge ergänzt. So eröffnet sich dem Leser ein breites Spektrum von Fallstudien zur politischen Kultur unterschiedlicher europäischer Städte: Neben dem Heiligen Römischen Reich und der Eidgenossenschaft werden auch Beispiele aus Spanien, Frankreich, England, Schottland, Tschechien, Ungarn und Norditalien behandelt, abschließend schweift der Blick sogar über die Grenzen des Kontinents hinaus nach Asien.

Der geographischen Breite steht eine inhaltliche Engführung auf das Thema städtischer Wahlen und politischer Entscheidungsfindung gegenüber, wobei der zweite Begriff wiederum recht weit gefasst wird. Unter dem Stichwort „decision-making“ werden in den einzelnen Aufsätzen zum Teil sehr unterschiedliche Dinge angesprochen: verfahrenstechnische und institutionengeschichtliche Aspekte ebenso wie innerstädtische Konflikte und ritualisierte Formen des Protests bis hin zu gewaltsamem Aufruhr.

In der Einleitung geht der Herausgeber auf die zentrale Bedeutung von Wahlen als Proprium städtischer politischer Kultur und die komplexen Vorgänge politischer Entscheidungsfindung in den Städten ein. Die zentrale These von der Stadt als einer „Anwesenheitsgesellschaft“, die sich nicht zuletzt durch ihren spezifischen Mediengebrauch von den sich formierenden Territorialstaaten und ihren Institutionen unterschied, hat Rudolf Schlögl bereits in zahlreichen anderen Veröffentlichungen entfaltet.1 Demgegenüber bietet die Einleitung wenig Neues, leistet aber einen wertvollen Beitrag zur Internationalisierung der bislang hauptsächlich auf den deutschen Sprachraum begrenzten Diskussion. Vor diesem Hintergrund ist es allerdings zu bedauern, dass Schlögl auf Literaturhinweise gänzlich verzichtet bzw. es bei einem summarischen Verweis auf die eigenen Publikationen zum Thema und das inzwischen ausgelaufene Projekt des Konstanzer Sonderforschungsbereichs belässt.2

Dessen ungeachtet liest man die Einleitung mit Gewinn, denn der Verfasser versteht es geschickt, zentrale Ergebnisse der folgenden Einzelstudien im Licht der leitenden Fragestellung zu fokussieren und in sein Gedankengebäude zu integrieren. Dies weckt freilich Erwartungen, die sich bei der Lektüre der Einzelbeiträge nicht immer erfüllen. Nicht alle Autorinnen und Autoren bewegen sich auf gleichem Argumentationsniveau; der Zusammenhang mit den in der Einleitung umrissenen Fragen und Hypothesen bleibt bei manchen Beiträgen ein wenig unklar.

Mehrere Aufsätze kreisen um das Thema städtischer Rituale, das sich spätestens seit der Rezeption der Pionierstudien von Edward Muir und Richard Trexler auch im deutschsprachigen Raum großer Popularität erfreut.3 Angesichts der für die städtische Anwesenheitsgesellschaft typischen Kontingenzerfahrungen und ihrer hohen Anfälligkeit für Krisen und Konflikte bedurften gerade Wahlverfahren und Prozesse der Entscheidungsfindung einer symbolischen Rahmung, um Erwartungssicherheit und Akzeptanz der Ergebnisse zu gewährleisten. Diese Beobachtung trifft, unter je unterschiedlichen regionalen Voraussetzungen, für Städte wie Zürich und Münster (Uwe Goppold) ebenso zu wie für das französische Lyon (Delphine Estier), die tschechischen Städte (Josef Hrdlička) oder die des Königreichs Ungarn (István H. Németh). Tendenziell ergebnisoffene Verfahren der Entscheidungsfindung auf der einen und die symbolische Darstellung politischer Entscheidungen bzw. die Repräsentation der dem Verfahren zugrundeliegenden politisch-sozialen Ordnung auf der anderen Seite gingen dabei vielfach Hand in Hand.

Während einige Autorinnen und Autoren, meist auf der Grundlage normativer Quellen, den Akzent auf die ordnungsstiftende und herrschaftslegitimierende Funktion von Ritualen setzen (Ruth Schilling), heben andere das enorme Konfliktpotential symbolischer Kommunikation hervor. So kann etwa Michael Jucker an den Ereignissen rund um den Aufstieg und Fall des Zürcher Bürgermeisters Waldmann eindrucksvoll zeigen, welch fatale Konsequenzen Missverständnisse im politischen Zeichengebrauch für einzelne Akteure haben konnten. Diese ganz anderen „Gefahren des Rituals“ (S. 261), so Andreas Würgler in sehr freier Anlehnung an Philippe Bucs einprägsame Formel4, konnten sich potenzieren, wenn, wie im Fall des Frankfurter Fettmilch-Aufstands, die Öffentlichkeit durch den Einsatz von Druckmedien über den Kreis der unmittelbar Anwesenden hinaus erweitert wurde.

Trotz der fast überall spürbaren Versuche von Stadtherren bzw. Ratsoligarchien, den politischen Entscheidungsfindungsprozess zu monopolisieren, mangelt es bis ins 18. Jahrhundert hinein nicht an Beispielen für die Partizipation breiterer Bevölkerungsschichten und die Einbeziehung nicht genuin politischer Institutionen wie Zünften oder Bruderschaften in den Prozess politischer Willensbildung. James Lee hebt die zentrale Funktion subalterner städtischer Funktionsträger als Vermittler zwischen Obrigkeit und Gemeinde in den englischen Städten der Tudorzeit hervor. Das große Gewicht von Zunft- und Bürgerversammlungen während der Reformation arbeitet Patrick Oelze am Beispiel von Konstanz heraus. Den nachfolgenden Bedeutungsverlust solcher Formen direkter Partizipation der Bürgerschaft deutet er unter anderem als Folge eines sich beschleunigenden Medienwandels. Unter anderen Voraussetzungen kam es rund 100 Jahre später im schottischen Edinburgh zu wütenden Bürgerprotesten. Der Auslöser waren hier Eingriffe der Krone in das religiöse Leben und die Kirchenverfassung, die zugleich die politischen Artikulations- und informellen Mitbestimmungsmöglichkeiten breiterer Bevölkerungskreise beschnitten, wie Laura A. M. Stewart zeigt.

Nicht nur politische Amtsträger und Korporationen, sondern auch einzelne Bürger fühlten sich zum Teil berechtigt, in den Prozess politischer Entscheidungsfindung einzugreifen, wie Luis R. Corteguera am Beispiel eines Handwerksmeisters aus Barcelona ausführt, der in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts als Verfasser mehrerer an die Obrigkeit adressierter Reformdenkschriften (arbitrios) hervortrat. Die scheinbare Ausnahme – die Autoren dieser im frühneuzeitlichen Spanien weit verbreiteten Textgattung waren in aller Regel Gelehrte und nicht Handwerker – deutet Corteguera als Ausdruck einer aus dem Mittelalter herrührenden Tradition politischer Mitbestimmung, die noch bis ins 17. Jahrhundert die Mentalität der Stadtbewohner in den Reichen der Krone von Aragón geprägt habe.

Während solche Reformvorschläge meist ohne praktische Konsequenz blieben, demonstriert Kevin C. Robbins, wie groß die politischen Handlungsspielräume vermeintlich marginalisierter Akteure auch in der Praxis sein konnten. So gelang es den Angehörigen einer im 15. Jahrhundert im burgundischen Beaune gegründeten und später in weiteren Städten mit der Leitung von Hospitälern betrauten Laienschwesternschaft bis ins 18. Jahrhundert, ihre Autonomie gegen Mediatisierungsversuche kirchlicher und weltlicher Akteure erfolgreich zu behaupten. Den Schwestern ging es dabei nicht um politische Mitsprache im engeren Sinne, sondern um die Wahrung ihrer Privilegien, insbesondere um das Recht, ihre Oberinnen selbst zu ernennen. Zur Erreichung dieses Ziels bedienten sie sich aber mit bemerkenswertem Geschick unterschiedlicher Kanäle politischer Einflussnahme.

Bis in die jüngste Zeit hat es nicht an Versuchen gemangelt, die unterschiedlichen Formen politischer Mitbestimmung in den städtischen Gemeinwesen Alteuropas im Sinne einer bürgerlich-demokratischen ‚invention of tradition‘ für gegenwartsaffine Zwecke zu instrumentalisieren. Der vorliegende Band zeichnet demgegenüber insgesamt ein erfreulich differenziertes Bild. So mahnt auch der von Christopher R. Friedrichs abschließend angestellte Vergleich zwischen europäischen und asiatischen Städten diesbezüglich ausdrücklich zur Vorsicht.

Der von Rudolf Schlögl und seinen Konstanzer Projektmitarbeitern angestoßene kommunikationsgeschichtliche Ansatz hat in den letzten Jahren wertvolle Anregungen für eine Neuformulierung ‚klassischer‘ Fragen der Stadtgeschichte gegeben. Dazu gehört nicht zuletzt die nach der Bedeutung von Wahlen und politischer Partizipation. Auch wenn nicht alles gänzlich neu ist, was der vorliegende Band an Einsichten zu diesem Thema formuliert, kann man ihn, vor allem wegen der europäischen Erweiterung des Blickwinkels, dem Fachpublikum wärmstens zur Lektüre empfehlen und ihm eine möglichst breite internationale Rezeption wünschen.

1 Vgl. u.a. Rudolf Schlögl, Vergesellschaftung unter Anwesenden. Zur kommunikativen Form des Politischen in der vormodernen Stadt, in: ders. (Hrsg.), Interaktion und Herrschaft. Die Politik der frühneuzeitlichen Stadt, Konstanz 2004, S. 9-60; ders., Kommunikation und Vergesellschaftung unter Anwesenden. Formen des Sozialen und ihre Transformation in der Frühen Neuzeit, in: Geschichte und Gesellschaft 34 (2008), S. 155-224.
2 Sonderforschungsbereich 485, Teilprojekt B4 <http://www.uni-konstanz.de/FuF/sfb485/Arbeitsbereiche/B4.htm> (27.04.2011)
3 Edward Muir, Civic Ritual in Renaissance Venice, Princeton, NJ 1981; Richard C. Trexler, Public Life in Renaissance Florence, Ithaca/London 1980; Gerd Schwerhoff, Das rituelle Leben der mittelalterlichen Stadt. Richard C. Trexlers Florenzstudien als Herausforderung für die deutsche Geschichtsschreibung, in: Geschichte in Köln 35 (1994), S. 33-60.
4 Philippe Buc, The Dangers of Ritual. Between Early Medieval Texts and Social Scientific Theory, Princeton, NJ 2001.

Redaktion
Veröffentlicht am
Beiträger
Redaktionell betreut durch
Klassifikation
Region(en)
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit
Weitere Informationen
Sprache der Publikation
Sprache der Rezension