Titel
Contemporary Arab Thought. Cultural Critique in Comparative Perspectives


Autor(en)
Kassab, Elizabeth Suzanne
Erschienen
Anzahl Seiten
512 S.
Preis
€ 23,13
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Christoph Schumann, Institut für Politische Wissenschaft, Friedrich-Alexander-Universität Nürnberg-Erlangen

Das Forschen und Publizieren zum liberalen Denken in der Arabischen Welt war lange Zeit ein Unterfangen, das mit verständnisvollem Schulterklopfen und einem wohlwollenden Lächeln quittiert wurde. Natürlich mochte kein ernstzunehmender Akademiker der Arabischen Welt das Potenzial zu einer liberalen Kultur absprechen, aber die Zeichen, die in diese Richtung deuteten, waren bisher wenig kraftvoll und aussagefähig. Diese Einschätzung könnte sich nun mit der Arabischen Revolte von 2011 dramatisch verändern. Natürlich ist die Demokratisierung in Tunesien und Ägypten noch lange nicht erreicht, aber selbst bei oberflächlicher Betrachtung der Ereignisse muss man zu dem Schluss gelangen, dass autoritäre Ideologien, panarabische Vereinigungsphantasien und Vorstellungen von einem islamischen Gottesstaat nicht die geringste Rolle spielten. Stattdessen sind die Forderungen der Demonstrantinnen und Demonstranten so einfach wie unideologisch: Sie wollen erreichen, dass der Staat wieder für die Bürger da ist, und nicht umgekehrt. Dabei soll sich der Staat einerseits um soziale Gerechtigkeit kümmern und andererseits die Rechte seiner Bürger respektieren. Im Kontext autoritärer Regime sind diese Forderungen so einfach, dass sie sich – für jeden verständlich – sowohl in einer säkularen als auch in einer islamischen Sprache formulieren lassen.

Das vorliegende Buch lässt sich im weitesten Sinne als einen Beitrag zum liberalen Denken in der Arabischen Welt nach 1967 verstehen, auch wenn die Autorin diese Begrifflichkeit nicht verwendet. Ihr geht es in erster Linie um kritisches und emanzipatorisches Denken über die Grenzen der ideologischen Lager hinweg. Selbst wenn in diesem Zusammenhang auch etliche marxistische und krypto-islamistische Autoren (wie Hasan Hanafi) zu Wort kommen, kann der Grundtenor der von Suzanne Kassab untersuchten Texte dennoch als liberal bezeichnet werden. Denn egal ob sich die Kritik marxistisch oder islamisch artikuliert, sie richtet sich fast immer gegen absolute und umfassende Geltungsansprüche, hermetische Narrative, essentialisierte Identitäten und patriarchalische Machtverhältnisse. Dem lesenden Publikum dürfte dabei bewusst sein, dass vor allem der herrschende Autoritarismus für die Zementierung der oft beschriebenen intellektuellen „Malaise“ verantwortlich ist.

In ihrer Einleitung zeichnet Kassab in kurzen, prägnanten Zügen die intellektuelle Geschichte der so genannten „liberalen Ära“ (Hourani) bzw. der arabischen Nahda von Tahtawi über Afghani, Abduh, Bustani bis zu Taha Hussein nach – um nur einige wichtige Namen zu nennen. Damit folgt sie der allgemeinen Annahme, dass die Tradition des liberalen Denkens mit dem Zweiten Weltkrieg und dem Sieg der autoritären Regime in der Region einen Bruch erlebte. Die Darstellung ihres eigentlichen Themas beginnt deshalb mit der intellektuellen (Selbst-)Kritik nach der militärischen Niederlage der arabischen Staaten im Sechs-Tage-Krieg von 1967.

Ein durchgängiges Leitmotiv der „Selbstkritik nach der Niederlage“ (Sadiq al-Azm) war in diesem Sinne das ungläubige Gewahrwerden vieler arabischer Intellektueller, dass Freiheit und Demokratie nach Erreichen der nationalen Unabhängigkeit trotzdem ausblieben. So fragte sich der syrischstämmige Historiker und ehemalige Präsident der Universität von Damaskus, Constantin Zureiq (Qustantin Zurayq), mit Blick auf die herrschenden autoritären Regime und ihre nationalistische Legimitationsrhetorik rückblickend, was die ursprünglichen „zivilisatorischen“ Ziele des arabischen Nationalismus eigentlich gewesen seien. Er selbst betont dabei, dass er den arabischen Nationalismus nicht als Faktor im „Kampf zwischen den Kulturen“ sieht, sondern allenfalls im „Kampf für Kultur“, und zwar im Sinne der emanzipatorischen Selbstbefreiung des Menschen (S. 67).

Der syrische Marxist Sadiq al-Azm ging in seinen Schriften nach 1967 bereits einen Schritt weiter und wies darauf hin, dass die autoritären Verhältnisse in der arabischen Welt eine neue Form von religiösem Obskurantismus hervorgebracht hätten, der dem Ziel der Aufklärung diametral entgegenstehe. In den folgenden Jahrzehnten hat sich al-Azm dann auch konsequent immer wieder für aufklärerische Intellektuelle eingesetzt, auch wenn sie so polarisierten wie Salman Rushdie.

Besondere Aufmerksamkeit widmet Kassab in diesem Zusammenhang auch einer ganzen Reihe von feministischen Autorinnen (S. 91-113), von denen die Ägypterin Nawal El Saadawi die bekannteste ist. Saadawi machte als Intellektuelle und Aktivistin immer wieder deutlich, dass arabische „Authentizität“ und nationale „Identität“ nicht zu einem neuen Gefängnis für die Frauen werden dürfen (S. 95). Deswegen sei weibliche Emanzipation auch nationale Emanzipation – und umgekehrt.

Ein eigenes, ausführliches Kapitel behandelt drei internationale Konferenzen, die 1971, 1974 und 1984 in Kairo und Kuwait stattfanden und sich um die Fragen von „Authentizität“ (asala) und das „arabische Erbe“ (turath) drehten. Im Zentrum stand dabei vor allem die Frage, wie man den politischen und gesellschaftlichen Herausforderungen der Zeit gerecht werden und dabei gleichzeitig das eigene historische Erbe und damit auch die nationale Identität bewahren könne. Natürlich gingen die Ansichten darüber weit auseinander, was dieses „Erbe“ überhaupt beinhalte und mit welchen historischen Verpflichtungen es verbunden sei. Aus westlicher Sicht ist die Intensität dieser Debatten nur zu verstehen, wenn einem bewusst ist, dass das Konzept des „Erbes“ sowohl für säkulare Nationalisten als auch für Islamisten intellektuell anschlussfähig ist. Gleichzeitig machten die inhaltliche Unbestimmtheit und die tendenzielle Rückwärtsgewandtheit des Konzepts gerade die Marxisten skeptisch. Einige von ihnen haben die turath-Debatte folglich als intellektuelle Ablenkung von den eigentlichen Problemen scharf kritisiert (S. 171 f).

Mit dem Aufstieg des politischen Islam in den 1970er-Jahren wurde die Religion auch bei den Intellektuellen zu einem zentralen Thema. Die Autorin arbeitet hier zwei Lager heraus, die sehr unterschiedlich mit diesem Thema umgingen. Auf der einen Seite stand eine Reihe von scharfzüngigen Säkularisten (wie Farag Fouda), die den Einfluss der Religion auf die Politik kritisierten. Auf der anderen Seite gab es Intellektuelle, die versuchten, aus dem Islam heraus ein liberales Religionsverständnis zu entwickeln (wie zum Beispiel Nasr Hamid Abu Zaid). Beide Gruppen mussten sich gegen massive Angriffe aus dem islamistischen Lager zur Wehr setzen. Dies zwang sie aber auch dazu ihre Argumente zu schärfen. Dabei betont Kassab allerdings, dass sich das Denken dieser Intellektuellen nicht in der Abwehr des politischen Islam erschöpfte, sondern dass sie bestrebt waren, das emanzipative Element der arabischen Nahda des späten 19. Jahrhunderts wieder aufzugreifen und erneut fruchtbar zu machen (S. 217 ff).

Im sechsten und letzten Kapitel ihres Buches erweitert Suzanne Kassab ihre Perspektive noch einmal erheblich, indem sie postkoloniale Diskurse im Westen, in Lateinamerika und in Afrika in den Blick nimmt. Ein zentrales Motiv der untersuchten Autorinnen und Autoren ist dabei immer die Forderung nach gleichberechtigter Teilhabe in der modernen Weltgesellschaft und die kritische Rekonstruktion des eigenen kulturellen Erbes, das durch Kolonialismus und Imperialismus fast überall stark in Mitleidenschaft gezogen, wenn nicht sogar zerstört wurde. Im direkten Vergleich beurteilt Kassab das besondere Verhältnis der Araber zu ihrer eigenen Geschichte aber als durchaus zweischneidig. Auf der einen Seite verleihe der Blick auf die glänzenden Epochen der Geschichte Stolz und Zuversicht. Hinsichtlich der gegenwärtigen „Malaise“ führe der Blick in die Vergangenheit bisweilen aber auch zu Frustration und Wut (S. 342). Aus dieser Konstellation, so die Autorin, könnten spezifische Blockaden erwachsen: „The historical past feeds into a revenge mentality and produces a fixation on power rivalry. This attitude in turn prevents the present from becoming an opportunity for an honest dealing with reality, especially in times of such great desolation as in the past decades. The quest for power becomes a fantasy for world domination instead of a search for universal justice.” (S. 342f.)

Insgesamt handelt es sich bei dem Buch von Suzanne Kassab um einen außerordentlich wichtigen Beitrag zur modernen arabischen Ideengeschichte. Anders als vor allem unter westlichen Autorinnen und Autoren oft üblich, nimmt Kassab den Islam nicht als selbstverständlichen Ausgangspunkt für ihre Darstellung. Stattdessen sucht sie nach Ansätzen zum selbstkritischen und emanzipatorischen Denken sowohl bei säkularen als auch bei islamischen Intellektuellen. So gelingt es ihr, ideologische Scheuklappen und essentialistische Zuschreibungen zu vermeiden. Die Autorin hat eine Unmenge an Material für ihr Buch verarbeitet, das die Darstellung sehr dicht – streckenweise fast zu dicht – macht. Aus diesem Grund ist das Buch vor allem für Interessierte geeignet, die bereits etwas Vorwissen über die moderne arabische Ideengeschichte haben.

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