S. Sand: Die Erfindung des jüdischen Volkes

Titel
Die Erfindung des jüdischen Volkes. Israels Gründungsmythos auf dem Prüfstand


Autor(en)
Sand, Shlomo
Erschienen
Anzahl Seiten
505 S.
Preis
€ 24,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Luise Hirsch, Heidelberg

Eine Folge des cultural turn ist, dass sich die Distanz zwischen Fachhistorikern und „Laien“ stark vergrößert hat: Historiker gehen von selbstverständlichen Voraussetzungen aus, die Nicht-Historikern fremd sind. Wenn dann das offene Geheimnis „verraten“ wird, herrscht Fassungslosigkeit, gefolgt von Empörung bei den meisten und Triumph bei einigen. Nur unter diesen Bedingungen konnte aus Shlomo Sands Buch „Die Erfindung des jüdischen Volkes“ die Sensation werden, die es zumindest in Israel ist – denn für die Fachwelt ist die grundsätzliche „Erfundenheit“ jeder Nation eine Binsenweisheit.

Mit der Frage „Wer ist Jude?“ haben sich Historiker bisher kaum beschäftigt, zumindest nicht epochenübergreifend. Theologisch gesehen war sie freilich immer zentral: Schon in der Hebräischen Bibel findet sich der nie aufgelöste Widerspruch zwischen Universalismus und Partikularismus. Die rabbinische Antwort lautet seit der Antike: Jude wird man entweder durch Abstammung oder durch Konversion. Nicht zufällig erinnert diese pragmatische Doppelstrategie an die moderner Staatsangehörigkeit: Auch sie wird entweder durch Abstammung oder durch einen Rechtsakt begründet, und tatsächlich sind Nationen immer eine unauflösliche, gänzlich „unreine“ Mischung aus beiden Komponenten. Das „jüdische Volk“ (um den strittigen Begriff zu benutzen) imaginiert sich schon seit mindestens zweitausend Jahren als mehr oder weniger endogame und dabei geographisch über die halbe Welt verstreute Gemeinschaft, die in ungebrochener Kontinuität fortexistiert. Dass zu diesem „Volk“ immer auch Konvertiten gehörten, war nie ein Geheimnis oder gar ein Tabu. Im Selbstbild dominierte zwar die Abstammungsgemeinschaft, aber in der Realität war das „jüdische Volk“ immer ein Hybrid. Und es unterscheidet sich von anderen, ebenso hybriden und imaginierten Völkern lediglich dadurch, dass es diesen Imaginations-Diskurs schon in der Antike begonnen hat. Man könnte durchaus zuspitzend sagen, dass das jüdische Volk die Erfindung des Volkes erfunden hat.

Ausgangspunkt von Sands Argumentation ist zu zeigen, dass diese Erfindung aber tatsächlich, kurz gesagt, auf den deutsch-jüdischen Historiker Heinrich Graetz und seine elfbändige „Geschichte der Juden von den Anfängen bis auf die Gegenwart“ (ab 1853) zurückgeht, also ein Produkt des 19. Jahrhunderts und des modernen Nationalismus ist und dem außerdem ein unhaltbares teleologisches Geschichtsbild des Zionismus zugrunde liegt. Im Folgenden macht sich Sand daran, die Graetzsche Totalkonstruktion Baustein für Baustein, in chronologischer Reihenfolge, einzureißen, also quasi einen „Anti-Graetz“ zu schreiben. Dass er dabei weit über die Grenzen seines Fachgebiets hinausgehen und sich auf die Forschung anderer verlassen muss, ist ihm nicht vorzuwerfen. Aber seine Auswahl von Richtigem und Absurdem – und vielem dazwischen – in seinen „Belegen“ ist höchst kritikwürdig. Noch ärgerlicher ist die das ganze Buch durchziehende Verschwörungsrhetorik, deren Tenor man ungefähr so paraphrasieren könnte: Die Historiker (vom Zionismus korrumpiert) haben die Wahrheit immer nur unterdrückt. Ich aber sage euch: Es war alles ganz anders.

Dem Buch ist zugute zu halten, dass Sand mit einigen populären Legenden aufräumt, die Fachhistoriker freilich ohnehin längst ad acta gelegt haben. Es ist an der Zeit, dass auch der Allgemeinheit zur Kenntnis gelangt, dass alle Gemeinschaften zu einem gewissen Grad imaginiert sind. Ebenso, dass die biblischen Erzählungen von den Erzvätern, vom Auszug aus Ägypten und der Landnahme in Kanaan just von der israelischen Archäologie als unhistorisch entlarvt wurden, die eigentlich angetreten war, sie zu beweisen. Oder die weithin ignorierte Tatsache, dass in der Spätantike vor dem Aufstieg des Christentums eine große Anzahl von Menschen zum Judentum konvertiert ist – was den Schluss zulässt, dass auch die heutigen Juden zum Teil auf Proselyten zurückgehen. Die wichtigste dieser Klarstellungen ist vielleicht, dass es eine umfassende, systematische „Vertreibung“ der Juden aus Palästina durch die Römer nie gegeben hat – dies ist vornehmlich ein antijüdisches christliches Interpretament, das die Verstoßung der Juden durch Gott untermauern sollte.

So weit, so akzeptabel. Jedoch sind diese Teile des Buches nicht frei von Ideologie: Das von Sand behauptete „Verschweigen“ besagter Fakten durch jüdische Historiker (Stilprobe: „Doch bekanntlich ignoriert die Historikerzunft einfach die Dinge, die ihr nicht in den Kram passen“, S. 276f.) ist unwahr, wie schon ein kurzer Blick in die Bibel der Mainstream-Judaistik, die Encyclopaedia Judaica, belegt.1 Sie sind vielmehr unbestrittener Konsens. Eher schon lässt sich Sand Verschweigen vorwerfen: Die wirtschaftlich motivierte Emigration großer Teile der jüdischen Bevölkerung aus Palästina in andere Teile des Römischen Reichs in der Spätantike, durch Quellen gut belegt, kommt bei ihm nicht vor. Diese Emigranten gründeten Diasporagemeinden im gesamten Mittelmeerraum und darüber hinaus (die älteste belegte Präsenz von Juden auf deutschem Boden datiert auf das Köln des 4. Jahrhunderts). Dass zu diesen Gemeinden auch Konvertiten gehörten, ist wahrscheinlich, widerspricht aber offenbar Sands extrem vereinfachendem Geschichtsbild. Er stellt der (nirgends seriös vertretenen) Vorstellung, „alle“ Juden seien biologisch verwandt, die Behauptung entgegen, dass die gesamte jüdische Präsenz außerhalb Palästinas bis auf unbedeutende Ausnahmen auf Konversion zurückgehe. Die einzigen „Original-Juden“ sind für ihn die heutigen Palästinenser, die er als zum Islam konvertierte Nachfahren der antiken jüdischen Bevölkerung betrachtet.

Je weiter die „Beweiskette“ chronologisch fortschreitet, desto absurder werden die Behauptungen. Um den Ursprung der osteuropäischen Juden zu erklären, greift Sand zu der Legende vom im Kaukasus gelegenen Chasarenreich. Die Existenz dieses Reichs und die Konversion des Königshauses sowie vermutlich einer kulturellen Elite zum Judentum um das Jahr 800 kann als belegt gelten. Dass aber mehr als ein kleiner Teil der osteuropäischen Juden auf die Chasaren zurückgeht, glaubt kein ernstzunehmender Historiker. Sands Argumentation kulminiert darin, die Migration großer Teile der deutschen Juden ins polnisch-litauische Großreich ab dem Hochmittelalter zu bestreiten. Diese Migration ist durch zahlreiche Quellen belegt, von Erlassen des polnischen Königs bis hin zu den mittelhochdeutschen Wurzeln der jiddischen Sprache. Wer sie bestreitet, stellt sich endgültig außerhalb des fachwissenschaftlichen Minimalkonsenses.

Am Beispiel der Palästinenser als Nachfahren konvertierter Juden lässt sich Sands unseriöse Argumentationsweise gut verdeutlichen: historische Quellen, so viel ist klar, gibt es nicht. Das Zeitalter der arabischen Eroberung liegt weitgehend im Dunkeln. Sand kann sich lediglich auf andere moderne Autoren berufen, und diese akzeptiert oder verwirft er je nach ideologischer Agenda. Kronzeuge ist für ihn vor allem der aus Russland stammende frühe Zionist Israel Belkind, der 1882 mit der Ersten Alija ins Land kam. Belkind, vielleicht ein origineller Kopf, aber kein Wissenschaftler, stellte die rein spekulative Behauptung auf, die im Land lebende arabische Bevölkerung sei „ein Teil unseres Volkes“ und „unser Fleisch und Blut“ (S. 278). Als Beweis diente ihm unter anderem die Beobachtung, „die besondere Mentalität“ der Araber „erinnere […] sehr an das Benehmen der hebräischen Erzväter“ (also der biblischen Gestalten Abraham, Isaak und Jakob).

Diese Ethnoromantik folgte, wie Shlomo Sand darlegt, einem klaren erkenntnisleitenden Interesse: in bester orientalistischer Tradition waren Belkind und andere zionistische Vordenker (der prominenteste war der junge David Ben Gurion) überzeugt, dass die angebliche Blutsverwandtschaft von Juden und palästinensischen Arabern „die Aufnahme der [zionistischen] Siedler durch die eingesessene Bevölkerung erleichtern würde. Da ihre Kultur auf einer niedrigeren Stufe stünde, würden die […] Fellachen sich schnell an die hebräischen kulturellen Gepflogenheiten gewöhnen und schließlich völlig in ihnen aufgehen“ (S. 279). Nachdem sich diese Erwartung als strategischer und grundsätzlicher Irrtum erwiesen hatte (die zionistische Besiedlung beschleunigte vielmehr die Entstehung eines modernen arabischen Nationalismus, der die Juden als „das Andere“ benutzt), wandten sich ihre Urheber von ihr ab. Nach den arabischen Aufständen in den 1920er-Jahren war von den Fellachen als den Abkömmlingen konvertierter antiker Juden keine Rede mehr. Die gesamte Diskussion entbehrt so, wie sie Sand selektiv darstellt, der empirischen Grundlage.

Dabei existieren einige ernstzunehmende Belege, die Sand heranziehen könnte. Sie kommen von einer ganz anderen Seite: der Populationsgenetik.2 Tatsächlich gibt es signifikante genetische Gemeinsamkeiten von Palästinensern und Juden, die sie nicht mit anderen teilen. Die Forschung auf diesem Gebiet ist noch jung und ihre Rezeption in der Allgemeinheit ist stark behindert durch die Tatsache, dass Naturwissenschaft auf populäre Darstellungen angewiesen ist, um Laien verständlich zu sein. Einiges ist dennoch „übersetzt“ worden.3 Dass Sand diese Publikationen ignoriert, mag an einem prinzipiellen methodischen Problem liegen, das man als die Crux des gesamten cultural turn bezeichnen könnte: Was ist, wenn das hypostasierte kulturelle Konstrukt selber eines ist? Oder anders gefragt: Wie viel Respekt schuldet die Geschichts- der Naturwissenschaft?

Nach den bisherigen Ergebnissen der Populationsgenetik ist das „jüdische Volk“ womöglich tatsächlich mehr als nur ein kulturelles Konstrukt. Es gibt genetische Gemeinsamkeiten von jüdischen Populationen auf der ganzen Welt (aschkenasische und sefardische), die den vorsichtigen Schluss auf gemeinsame Vorfahren bis in die Zeit des Babylonischen Exils zulassen.4 Es gab auch immer wieder genetische „Beimischungen“, die entweder durch Konversionen zum Judentum oder durch „Mischehen“ erklärlich sind. Es könnte möglicherweise sogar nachweisbare „chasarische“ Gene bei einigen osteuropäischen Juden geben.5 Und es gibt eben Hinweise auf eine Verwandtschaft von Juden und Palästinensern.

Mit anderen Worten: Für Sands Behauptungen über die „wahren“ historischen Ursprünge sowohl des jüdischen (zum Judentum konvertierte Heiden) als auch des palästinensischen Volkes (zum Islam konvertierte Juden) gibt es naturwissenschaftliche Belege. Aber in seinem manichäischen Weltbild, in dem es entweder nur „reine“ Juden oder eben nur Konvertiten geben kann, ist für ein „Mischvolk“ kein Platz. Das ist umso unverständlicher, als Sands eingestandenes, wortreich dargelegtes erkenntnisleitendes Interesse, dass Israel sich nicht länger als eine ethnische, sondern als politische Nation aus gleichberechtigten Bürgern definieren soll, dass seine Existenzberechtigung einfach in seiner Existenz begründet ist und nicht in einer mythischen „Heimkehr“, zumindest der Rezensentin vollkommen einleuchtet. Aber wenn dieses respektable Ziel von solchen Publikationen gestützt wird, bleibt nur das bekannte Bonmot, dass, wer solche Freunde hat, keine Feinde braucht.

Anmerkungen:
1 So z.B. unter dem Stichwort „History“, in: Encyclopaedia Judaica, 2. Aufl., Bd. 9, S. 163-285, Detroit 2007.
2 Populärwissenschaftlich dargestellt z.B. bei Jon Entine, Abrahams’s Children, New York 2007, S. 332 und passim.
3 Siehe neben Entine auch David Goldstein, Jacob’s Legacy. A Genetic View of Jewish History, New Haven 2008.
4 Doron Behar u.a., The genome-wide structure of the Jewish people, in: Nature, 466 (7303), (8. Juli 2010), S. 238–242; Gil Atzmon u.a., Abraham's Children in the Genome Era: Major Jewish Diaspora Populations Comprise Distinct Genetic Clusters with Shared Middle Eastern Ancestry, in: The American Journal of Human Genetics 2010 86, S. 850–859.
5 Goldstein (wie Anm. 3), Kap. 3.

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