Krzoska, Markus (Hrsg.): Erinnerungen des Posener Domherren Albert Steuer. . München 2010 : Martin Meidenbauer, ISBN 978-3-89975-209-0 248 S. € 37,90

: Niemieccy katolicy w poznańskiem a polityka narodowościowa rządu pruskiego 1871-1914. . Lublin 2009 : Wydawnictwo KUL - Katolicki-Uniwersytet-Lubelski, ISBN 978-83-7363-925-6 431 S. zł 40,92

Rezensiert für H-Soz-Kult von
Stefan Dyroff, Historisches Institut, Universität Bern / Schweizerischer Nationalfonds (SNF)

In einem 2006 erschienen Aufsatz zur Historiografie Großpolens hat der an der Katholischen Universität Lublin wirkende Historikers Witold Matwiejczyk beklagt, dass „die Forschung über lange Jahrzehnte hinweg auf den Nationalitätenkonflikt beschränkt wurde, den man aus den Höhen der Staatspolitik betrachtete.“1 Wer diese Kritik als programmatische Ankündigung für das eigene Tun begriff, wird enttäuscht sein, wenn er Matwiejczyks hier zu besprechende Monografie liest. Schon der Titel „Die deutschen Katholiken in der Provinz Posen und die Nationalitätenpolitik der preußischen Regierung 1871-1914“ zeigt, dass auch er sich weitgehend mit der Germanisierungspolitik im preußischen Teilungsgebiet beschäftigt und die Forschung um schul- und kirchenpolitische Aspekte bereichert. Nach einem einleitenden Kapitel zur demografischen und konfessionellen Struktur Großpolens beschreibt Matwiejczyk die Situation der deutschen Katholiken in der Zeit des Kulturkampfs aus Sicht der preußischen Staatsregierung. Anschließend wendet er sich den staatlichen Versuchen zu, die katholische Kirche Großpolens in seinem Sinne zu beeinflussen. Schwerpunkte der Darstellung liegen dabei in der Besetzung des Bischofsstuhls, der Sprachenfrage im Religionsunterricht sowie der Ausbildung eines von den kirchlichen Pfarreistrukturen unabhängigen deutschkatholischen Vereinswesens.

Grundlage der Untersuchung sind die Überlieferungen staatlicher Stellen im Geheimen Staatsarchiv Berlin-Dahlem sowie den Staatsarchiven in Posen (Poznań) und Bromberg (Bydgoszcz). Die Bestände der Diözesanarchive in Posen (Poznań) und Gnesen (Gniezno), die es ihm ermöglicht hätten, eine neue Perspektive einzunehmen, hat Matwiejczyk dagegen – wohl aufgrund der schwierigeren Recherchebedingungen vor Ort – nur marginal verwendet. Dabei ist vor allem die Materialsuche in Pfarreiakten unterblieben, obwohl gerade neuere Forschungen von Albert Kotowski2 gezeigt haben, dass deren mühevolle Durchsicht durchaus lohnend sein kann. Matwiejczyk, der selbst in dem einleitend genannten Artikel das bisherige Fehlen eines mikrogeschichtlichen Blicks „von unten“ kritisiert hat, wahrt im Gegensatz zur Mehrzahl der in der Untersuchungsregion wohnhaften Historiker die notwendige Distanz zum historischen Gegenstand und stellt den Einsatz der katholischen Kirche Großpolens gegen die Germanisierungspolitik nicht als nationale Pflicht und naturgegeben dar. Es bleibt daher zu hoffen, dass er Thematik wie Vorgehen treu bleibt und diese in weiteren – wenn möglich in Deutsch oder Englisch veröffentlichten Artikeln – vertieft.

Matwiejczyks Zugang zur Thematik zeichnet sich dadurch aus, dass er versucht, seine Quellen mit Hilfe des von Olaf Blaschke3 für die Religionsgeschichte der Moderne vorgeschlagenen Konfessionalisierungsparadigmas zu deuten. So schreibt er dem Erzbischof Florian Stablewski (1891-1906) eine Konfessionalisierungspolitik zu, die jedoch an der Dominanz des Nationalen im öffentlichen Diskurs scheiterte. Mit diesem Ansatz gelingt es auch, einen nüchternen Blick auf die kurze Amtszeit des einzigen deutschen Posener Bischofs Julius Dinder (1886-1890) zu werfen. Dieser hat sich demnach vor allem darum bemüht, den im Kulturkampf beschnittenen Einfluss der Amtskirche auf die Gesellschaft wiederherzustellen. Daher war er bereit, in der Sprachenfrage einen Kompromiss einzugehen. Aus dieser Sicht war Dinders Zustimmung zum deutschsprachigen Religionsunterricht in den oberen Schulklassen keinesfalls eine Germanisierungsmaßnahme, sondern der Versuch dessen konfessionsspezifische Inhalte weiterhin mitbestimmen zu können.

Neben diesen kirchenpolitischen Aspekten der Arbeit verdient vor allen Dingen die im zweiten Kapitel thematisierte Assimilation deutscher Katholiken an die polnische Kultur besondere Aufmerksamkeit. Matwiejczyk gelingt es ansatzweise zu zeigen, dass sich deutsche Katholiken gerade während des Kulturkampfs mit ihrer Kirche solidarisierten und diese Bindung durch die sprachliche Integration in die mehrheitlich polnischsprachigen Pfarreien stärken wollten. Das nationale Identitätsangebot des 1871 entstandenen deutschen Nationalstaats wurde auf der Mikroebene abgelehnt, da dies die Ausgrenzung aus dem unmittelbaren soziokulturellen Umfeld zur Folge gehabt hätte. So begründet ein vom Autor auf S. 117 zitierter Familienvater die Anmeldung seiner Kinder zum polnischen Religionsunterricht damit, dass er nicht wolle, dass diese als „Luther“ beschimpft werden. Leider verfolgt Matwiejczyk die hier angeschnittenen Probleme nicht weiter und wendet sich stattdessen der Kirchenpolitik der Bischöfe Stablewski und Dinder zu.

Da die schwierige Lage der deutschen Katholiken Großpolens, denen von den Polen ihre religiöse Identität und von den deutschen Protestanten ihre nationale Identität abgesprochen wurde, in zukünftigen Forschungen unbedingt aufgegriffen werden sollte, seien hier einige Hypothesen vorgestellt, die sich aus der Lektüre von Matwiejczyks Ausführungen ergeben: Es scheint für einzelne deutsche Katholiken wesentlich attraktiver gewesen zu sein, sich an die polnische Kultur anzunähern, als sich - wie vom Staat erwartet - als Vorkämpfer des Deutschtums aufzuspielen. Dies bestätigen auch die bislang nicht über einige Aufsätze hinaus gekommenen Forschungen zu deutschkatholischen Priestern von Eligiusz Janus.4 Erst massive staatliche Interventionen in den späten Jahren des Kaiserreiches und die zunehmende Nationalisierung (Polonisierung) der katholischen Kirche Großpolens erschwerten diese Option. Der Übergang des Gebietes an Polen nach dem Ersten Weltkrieg und der damit verbundene Wegfall des Staates als gemeinsamem Gegner aller Katholiken vollendeten die ethnische Separation von deutschen und polnischen Katholiken in dieser Region. Leider geht der Autor auf diesen Prozess jedoch nur marginal ein. Wie bereits angemerkt, könnte erst die Heranziehung von nichtamtlichen Quellen zu einer Bestätigung dieser aus seiner Arbeit ableitbaren Hypothesen führen.

Eine solche Quelle stellen die auch von Matwiejczyk verwendeten Erinnerungen des letzten deutschen Posener Domherren Albert Steuer dar. Diese liegen nun, vom Herausgeber Markus Krzoska mit zahlreichen erläuternden Anmerkungen versehen, in Buchform vor. Krzoska verortet in seiner kurzen Einleitung das Leben des 1874 in Lissa (Leszno) geborenen Priesters in ein nationenübergeifendes Milieu katholischer Würdenträger, in dem die Deutschsprachigen eine bis 1918 vom Staat geförderte Minderheit verkörperten. Steuer verdankte seine Ernennung zum Domherrn so einzig und allein der Tatsache, dass die preußische Regierung das Vorschlagsrecht für den vakanten Posten hatte. Da nur wenige geeignete deutschsprachige Kandidaten vor Ort vorhanden waren, fiel die Wahl auf den nach Theologie- und Philosophiestudium im Priesterseminar lehrenden 37-jährigen Steuer. Dieser war keineswegs für ein solch herausragendes Amt in der Kirchenhierarchie prädestiniert, da er sich – wie man den Erinnerungen entnehmen kann – in der Lehre und geistlichen Praxis mitunter schwer getan hat und zum Zeitpunkt seiner Ernennung noch Schwierigkeiten mit der polnischen Sprache hatte. Steuers mangelnde intellektuelle Brillianz erleichterte es dem polnischen Erzbischof Edmund Dalbor, ihm nach dem Übergang Posens an den polnischen Staat 1919 seinen Philosophielehrstuhl zu entziehen und ihn mit randständigen Aufgaben wie dem Deutschunterricht für angehende Kleriker oder der Zensur religiöser Schriften zu betrauen. Im Gegensatz zu den anderen deutschen Domherren exponierte er sich aber keinesfalls im Nationalitätenkampf, sondern widmete sich dem Abfassen theologischer und geistesgeschichtlicher Kurztexte für die deutschsprachige Tagespresse. Mit Beginn der deutschen Besatzung 1939 erweiterte sich sein Wirkungskreis noch einmal, da er unter anderem als Gefängnisseelsorger für zum Tode verurteilte polnische Katholiken eingesetzt wurde. 1945 gelang es Steuer nicht mehr vor der vorrückenden Roten Armee zu fliehen. Er verbrachte mehr als ein Jahr in polnischen Gefängnissen, bevor er Hauskaplan in einem Nonnenkloster bei Posen wurde, wo er 1967 verstarb.

Vor dem Hintergrund dieses bewegten Lebenslaufes geben Steuers sehr persönlich gefärbte Erinnerungen einen Einblick in den Alltag eines katholischen Studenten, Priesters und Domherren. Im Gegensatz zur behördlichen Überlieferung und der Mehrzahl der zeitgenössischen Wahrnehmung spielte der nationale Gegensatz für den Priester Steuer scheinbar nur eine untergeordnete Rolle. Er stand in geselligem Kontakt mit polnischen Kollegen, kaufte wie selbstverständlich bei polnischen Händlern ein und scheute sich nicht, mit führenden evangelischen Geistlichen der Provinz in Glaubensfragen zu polemisieren. Somit entsteht ein deutlicher Kontrast zu den in den in den Erinnerungen des Posener evangelischen Superintendenten Arthur Rhode beschriebenen Lebenswelten.5

Die von Krzoska edierten Steuer-Memoiren bestätigen letztlich den bei der Lektüre Matwiejczyks gewonnenen Eindruck: Die Religionsgeschichte des deutsch-polnischen Kontaktbereichs sollte nicht nur durch das Prisma nationalstaatlicher behördlicher Überlieferungen, sondern auch unter verstärkter Berücksichtigung konfessioneller Gesichtspunkte geschrieben werden. Auch wenn die Nationalitätenproblematik das Denken vieler Bewohner Großpolens in den Jahren zwischen 1871 und 1945 dominiert haben dürfte, sollte in Zukunft verstärkt danach gefragt werden, welche Rolle andere Identitätsentwürfe im Leben der Bevölkerung gespielt haben.

Anmerkungen:
1 Witold Matwiejczyk, Nation und Konfession in Großpolen zur Zeit des „Nationalitätenstreits“ (1871-1914). Bemerkungen zur deutsch- und polnischsprachigen Historiographie, in: Rainer Bendel (Hrsg.), Kirchen- und Kulturgeschichtsschreibung in Nordost- und Ostmitteleuropa. Initiativen, Methoden, Tendenzen, Berlin 2006, S. 113-138.
2 Albert Kotowski, Wokół sporów i konfliktów narodowościowych w parafii bydgoskiej w latach [Nationalitätenkonflikte in der Bromberger Pfarrei] 1906-1939, in: Kronika Bydgoska XXVIII (2007), S. 99-149.
3 Olaf Blaschke, Das 19. Jahrhundert: Ein Zweites Konfessionelles Zeitalter?, in: Geschichte und Gesellschaft 26 (2000), S. 38-75.
4 Eligiusz Janus, Nationale Identität katholischer Priester in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhundert in der Provinz Posen, in: Bernard Linek / Kai Struve (Hrsg.), Nacjonalizm a tożsamość narodowa w Europie Środkowo-Wschodniej w XIX i XX w. [Nationalismus und nationale Identität in Ostmitteleuropa], (= Tagungen zur Ostmitteleuropa-Forschung; 12), Opole 2000, S. 87-98.
5 Arthur Rhode, Die Evangelische Kirche in Posen und Pommerellen. Erfahrungen und Erlebnisse in drei Jahrzehnten 1914-1945, Lüneburg 1984; ders., Erinnerungen an die Kriegszeit 1914 - 1920 in der Provinz Posen, hrsg. v. Wolfgang Kessler, Herne 2003; ders., Schildberger Erinnerungen, hrsg. v. Roman Dziergwa, Poznań 2004; ders., Ostrowoer Erinnerungen; bearb. v. Jarosław Biernaczyk, Ostrów Wielkopolski 2008.

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