Titel
Bauhausstadt Dessau:. Identitätssuche auf den Spuren der Moderne


Autor(en)
Bittner, Regina
Reihe
Interdisziplinäre Stadtforschung
Erschienen
Frankfurt am Main 2010: Campus Verlag
Anzahl Seiten
269 S.
Preis
€ 29,90
Rezensiert für den Rezensionsdienst "Europäische Ethnologie / Kulturanthropologie / Volkskunde" bei H-Soz-Kult von:
Melanie Keding, Ludwig-Uhland Institut für Empirische Kulturwissenschaft, Universität Tübingen

In ihrer stadtethnographischen Studie „Bauhausstadt Dessau“ – die zugleich als Promotion am Berliner Institut für Europäische Ethnologie angenommen wurde – untersucht Regina Bittner die ostdeutsche Stadt Dessau und deren Identitätssuche nach innen wie außen. Die Autorin, Leiterin des internationalen Bauhaus Kollegs der Stiftung Bauhaus Dessau, stellt dabei das 1919 in Weimar gegründete und 1925 nach Dessau umgesiedelte Bauhaus in den Mittelpunkt. Die „epochemachende Bildungsstätte der Avantgarde“ (S. 243) wird dabei im Laufe des Buches in ihrem breiten Bedeutungsspektrum entfaltet, das von der konkreten baulichen und architektonischen Präsenz bis hin zu ihrer Einordnung als Weltkulturerbe reicht. Im Verlauf der Arbeit werden zunächst die dessauischen Leitbilder mit ihren symbolischen und historischen Referenzen gezeigt. Der Prozess der Leitbildsuche mit seinen Argumentationen und Entscheidungen wird daraufhin selbst zum Untersuchungsgegenstand, der es erlauben soll, die „[s]tädtische Eigenlogik in Umbruchsprozessen“ (S. 12) nachzuzeichnen. Mit dem stadtsoziologischen Begriff der Eigenlogik als Forschungsansatz bezieht sich Regina Bittner auf ein Konzept von Martina Löw und Helmuth Berking.1 Gleichzeitig schlägt sie damit einen neuen Interpretationsansatz für ostdeutsche Städte vor, deren wissenschaftliche Bearbeitung bislang eher im Rahmen von Transformationstheorien geschehen sei. Die Arbeit ist ethnographisch angelegt und möchte „konkurrierende Stadtwahrnehmungen“ in Gestalt verschiedener Perspektiven – vom Lokalpolitiker bis zur Vereinsaktivistin – und literarischer Erzählfiguren rekonstruieren, um daraus „das Eigene der Stadt Dessau zu rekonstruieren“ (S. 14).

Um dem „distinkten Charakter Dessaus auf die Spur (zu) kommen“ (S. 29), stellt die Autorin in einem ersten Kapitel einen theoretischen Analyserahmen für ihre Fallstudie her. Die Debatten um kollektive Identität, Gedächtnisorte und neue Geschichtskulturen werden von Regina Bittner mit Forschungen zum „Urbanen Imagineering“ (Alexa Färber 2) zusammen gebracht. Mit diesen führt sie auch die beiden Kategorien „Image“ und „Imaginäres“ (Rolf Lindner 3) ein: Das „Image“ als „Produkt politischer und ideologischer Ziele“ (S. 28) und das „Imaginäre“, das den alltäglichen „Erfahrungsraum Stadt“ (S. 28) bezeichnet. Zwischen diesen politisch-strategischen und alltäglich-lebensweltlichen Bildern der Stadt spannt sich ein Feld auf, in dem die städtische Eigenlogik in ihren Facetten aufscheine, so die These von Regina Bittner.

Im zweiten Kapitel wird die besondere Situation Dessaus thematisiert, die seit 1990 einerseits den plötzlichen Globalisierungsdruck als Industriestandort, andererseits den gesellschaftlichen Systemwechsel verarbeiten muss. Diese Transformationserfahrung wird als spezifisch ostdeutsches Phänomen eingeschätzt. Das „weniger am Raum denn an ideellen und normativen Bezügen ausgerichtete Konstrukt Ostdeutschland“ (S. 46) stellt damit einen zentralen Interpretationsrahmen für die stadtethnographische Untersuchung Dessaus dar.

Das dritte Kapitel fokussiert das Bauhaus als umstrittenes Erbe. Differenziert und materialreich setzt sich die Autorin mit den verschiedenen Bezugsrahmen und Interpretationen des Bauhauses seit seiner Gründung auseinander. So benennt sie in dem als Erinnerungsort aufgefassten Bauhaus drei Kontextualisierungsebenen (vgl. S. 57), die es als kulturellen Ort in der Stadt, als „nationalen Leuchtturm“ wie als Identifikationsmoment des neuen Bundeslandes Sachsen-Anhalt und als UNESCO-Welterbe einordnen. In diesen verschiedenen Zusammenhängen wird das Bauhaus jeweils um- und neuinterpretiert. Diese Kontextualisierungen versteht Regina Bittner als „deembedding“ und „reembedding“, als Globalisierung (vgl. S. 85) und Lokalisierung, als Ent- und Verortung des Bauhauses im Bezug zur Stadt Dessau. Diese durchaus schlüssige theoretische Interpretation würde an Überzeugungskraft gewinnen, wenn der lokale Bezugshorizont nicht nur benannt, sondern auch ausführlicher beschrieben würde.

Im vierten Kapitel wird der städtische Wandel nach 1990 als Einheit von politischen und ökonomischen Entwicklungen sowie städtebaulich-planerischen Prozessen dargestellt. Dessaus Weg von der Industriestadt zum Oberzentrum „geht mit einer massiven Umorganisation des Stadtraumes einher“ und „wird von Bildern und Visionen begleitet“ (S. 107). Die städtebaulichen und politischen Entwicklungen korrespondieren mit Leitbildern, die Regina Bittner überzeugend als geschichtspolitische Prozesse der Identitätssuche darstellt: „Bauhausstadt im Gartenreich“, „Raum für Ideen“ und wieder „Bauhausstadt“ werden hier diskutiert. Besonders schlüssig ist dieser Abschnitt des Buches durch die klare Benennung der jeweiligen Akteure mit ihren politischen und wirtschaftlichen Interessenlagen. Den stadtplanerischen Umgang mit der alten Bausubstanz und die neueren Baumaßnahmen nimmt die Autorin genauso in den Blick wie die Entstehung stadtweiter Veranstaltungen, wie beispielsweise des Farbfestes, das im Sinne der „reinveneting tradition“ einer „am subjektiven Erleben ausgerichteten Geschichtskultur“ (S. 164) folgt. Hierin zeigt sich beispielsweise ein Moment des bereits thematisierten „reembedding“, mit dem das Bauhaus an die Stadt rückgebunden wird und bei dem es nicht mehr selbst, sondern die Stadt als Ort des Bauhauses im Mittelpunkt steht (vgl. S. 171). Dass sich die „Verhaltensspur“ (S. 32) der Stadt Dessau als „wenig traditionsbewahrend“ (S. 172) erweist, zeigt sich nicht nur an solchen Veranstaltungen, sondern auch am Umgang mit historischer Bausubstanz: Rekonstruktion wird vor allem als Einzelobjektsanierung betrieben, die eher an der Schaffung visueller Glanzpunkte, denn am städtebaulichen Kontext orientiert ist.

Die beiden folgenden Kapitel wirken etwas losgelöst von den vorhergehenden kulturpolitisch zugeschnittenen und beschäftigen sich mit dem alltagsweltlichen und subjektiven Dessau. Aus verschiedenen literarischen Quellen über die Stadt werden im fünften Kapitel drei Erzählfiguren herausgearbeitet, die sich in die bereits bekannten Leitbilder einfügen und diese stützen. Im sechsten Kapitel wendet sich die Autorin den Akteurinnen und Akteuren zu, die nicht den städtischen Eliten angehören, um sich nun mit den alltäglichen „sozialen Praxen“ (S.31-32) zu befassen. Diese Akteure findet die Autorin in vier Vereinen, die sich mit dem materiellen und immateriellen Erbe der Stadt beschäftigen. Durch die Analyse der jeweils involvierten Milieus bekommt man nun auch ein genaueres Bild von den Bewohnern und Bewohnerinnen der Stadt. Die Umgangsweisen der untersuchten Vereine mit dem Bauhaus bzw. mit der Geschichte der Stadt ergänzen die bereits bestehenden Sichten auf deren historisches Erbe. Mit den ausgewählten Beispielen gelingt es, Geschichtsinterpretationen verschiedener Milieus darzustellen.

Im abschließenden Kapitel werden nun die bisher herausgestellten Hinweise auf die Eigenlogik Dessaus resümiert. Als „wenig konservativ oder traditionsbewahrend“ (S. 248) stuft Regina Bittner den Umgang mit dem materiellen (Einzelobjektsanierung) und immateriellen Erbe (reinventing tradition) ein. Dies könnte Dessau als einen Ort auszeichnen, der durch „prinzipielle Offenheit gegenüber dem Neuen gekennzeichnet ist und [...] quasi prädisponiert ist für Innovation“ (S. 252). In der Vergangenheit ließe sich dies vor allem durch die Beheimatung des Bauhauses belegen. Ein im kollektiven Gedächtnis verankertes Erfahrungswissen der Stadt über den schnellen Wechsel von Aufbau und Niedergang wirkt hier als strukturierendes Grundprinzip. Die Autorin greift gleichermaßen als Zuspitzung den Begriff der „WerkStadt“ auf, der am Rande vergangener Leitbildebatten aufkam und als „Werkstatt“ sowohl für den transformatorischen Charakter der Stadt als auch für den experimentellen des Bauhauses paradigmatisch ist. An dieser Stelle führt Regina Bittner ein neues Begriffspaar ein: „defensive space“ (Manuel Castells) als „Moment des Rückzugs“ (S. 256), das eine lokale Orientierung immer beinhaltet und „open city“ als Offenheit für Neues und Ausrichtung nach außen. Damit verknüpft sie die Diskussion um Ver- und Entortung des Bauhauses mit den Ergebnissen zur städtischen Eigenlogik und kommt zu einem offenen Schluss: Die Weichen in Dessau, die die Stadt entweder zu einer „open city“ oder zu einem „defensive space“ machen, scheinen bis heute nicht gestellt zu sein.

Mit „Bauhausstadt Dessau“ gelingt Regina Bittner eine differenzierte und materialreiche Fallstudie, die den Leser in die komplexen und vorstrukturierten Suchbewegungen nach einem städtischen Leit- und Selbstbild eintauchen lässt. Der von Regina Bittner gewählte Fokus ist ein aussagekräftiger Ausschnitt aus der Komplexität des Städtischen. Die Schlussfolgerungen über die Eigenlogik Dessaus eröffnen eine interessante Perspektive für eventuelle weiterführende (vergleichende) Studien.

Anmerkungen
1 Helmuth Berking / Martina Löw (Hrsg.), Die Eigenlogik der Städte. Neue Wege für die Stadtforschung. Frankfurt am Main 2008.
2 Alexa Färber, Urbanes Imagineering in der postindustriellen Stadt: Zur Plausibilität Berlins als Ost-West-Drehscheibe. In: Thomas Biskup / Marc Schalenberg (Hrsg.), Selling Berlin: Imagebildung und Stadtmarketing von der preußischen Residenz bis zur Bundeshauptstadt, Stuttgart 2008, S. 279-296.
3 Rolf Lindner, Perspektiven der Stadtethnologie. In: Historische Anthropologie, 5,2 (1997) S. 319-328.

Redaktion
Veröffentlicht am
Beiträger
Redaktionell betreut durch
Kooperation
Diese Rezension entstand in Kooperation mit dem Rezensionsdienst "Europäische Ethnologie/Kulturanthropologie/Volkskunde" http://www.euroethno.hu-berlin.de/forschung/publikationen/rezensionen/
Klassifikation
Epoche(n)
Region(en)
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit
Weitere Informationen
Sprache der Publikation
Sprache der Rezension