M. Scherm: Die Reidemeister auf der Vollme

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Titel
Kleine und mittelständische Betriebe in unternehmerischen Netzwerken. Die Reidemeister auf der Vollme im vor- und frühindustriellen Metallgewerbe der Grafschaft Mark


Autor(en)
Scherm, Michael
Reihe
Beiträge zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte 116
Erschienen
Stuttgart 2009: Franz Steiner Verlag
Anzahl Seiten
691 S.
Preis
€ 82,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Susanne Hilger, Wirtschaftsgeschichte der Neuzeit, Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf

Die historische Analyse von Netzwerken erfreut sich in den letzten Jahren eines wachsenden Interesses. Der ursprünglich aus der Soziologie stammende Netzwerkbegriff fand dabei Eingang in unterschiedliche Fachdisziplinen wie die Wissenschaftsgeschichte, die Medizingeschichte, die Kulturgeschichte, die Familien- und Verwandtschaftsgeschichte sowie die Geschichte der wirtschaftlichen und sozialen Eliten.1 Seit dem Siegeszug der „Neuen Institutionenökonomie“ hat die Analyse und Darstellung von Netzwerken ebenso eine zunehmende Beachtung bei Wirtschafts- und Unternehmenshistorikern erfahren.2 Dies nicht zuletzt, weil im Zuge der Finanzmarktkrise soziale wie kulturelle Aspekte wirtschaftlicher Austauschprozesse in einem stärkeren Maße in den Fokus ökonomischer Betrachtungen rücken. Insbesondere die historische Erforschung von Familienunternehmen hat sich verstärkt der Netzwerkanalyse als eines heuristischen Hilfsmittels bedient. Das ‚Chandlerian Model‘, das Eigentümer-Unternehmen lediglich als Übergangsmodell auf dem Weg zu managergeführten Firmen versteht, ist zuletzt als eine „Meistererzählung“ der Wirtschaftsgeschichte bezeichnet worden.3 Heute werden die netzwerkartigen Handlungsstrukturen von mittelständischen Unternehmen, die oft über einen langen Zeitraum Bestand haben, auch als unternehmerisches Erfolgsmodell untersucht.

In diese Forschungslandschaft lässt sich die hier anzuzeigende Studie von Michael Scherm, die im Wintersemester 2006/07 als Dissertation an der Universität Regensburg angenommen wurde, einordnen. In ihr werden die Handlungsoptionen kleiner und mittelständischer Unternehmen in Netzwerkverbünden analysiert (S. 43). Diese in der aktuellen betriebswirtschaftlichen Mittelstandsforschung diskutierte Frage versucht Michael Scherm am Beispiel der Unternehmergruppe der Reidemeister auf der Vollme im vor- und frühindustrialisierten Metallgewerbe der Grafschaft Mark zu beantworten (S. 46).

Die Reidemeisterunternehmen auf der Vollme, die den Produktionsprozess im Metallgewerbe in einer verlagsähnlichen Struktur organisierten, zeichneten sich laut Scherm durch ein ganz spezielles „netzwerkartiges Produktionssystem“ aus. Dieses sei durch eine Vielzahl von Abhängigkeiten der zahlreichen am Produktionsprozess beteiligter Anbieter gekennzeichnet und daher den heutigen mittelständischen Unternehmen, die in komplexe Wertschöpfungsketten („Cluster“) eingebunden sind, vergleichbar (S. 34).

Für seine Untersuchung greift der Autor auf einen regionalen Quellenbestand im Archiv des Märkischen Kreises in Altena zurück, der neben Geschäftsmaterial auch private Schriftstücke der beiden märkischen Reidemeisterfamilien Bredenbach und Vollmann enthält. Daneben fußt die Arbeit auf einer überaus hohen Anzahl an Primär-und Sekundärliteratur. Auf Grund des gewählten Untersuchungsgegenstandes und des langen Zeitraums von 150 Jahren zeichnet sich die Untersuchung durch ein hohes Maß an Komplexität aus, was allein schon der imposante Umfang von insgesamt 689 Seiten unterstreicht. Die Studie ist – mit einem einleitenden und einem abschließenden Kapitel – in insgesamt sechs Kapitel unterteilt. Nach der Einleitung, in der Fragestellung und Vorgehensweise ausführlich entwickelt werden (S. 17-47), beschreibt Scherm in Kapitel II (S. 47-103) den durch die Industrialisierung hervorgerufenen sozioökonomischen Wandel und dessen Auswirkung auf den Berufsstand der Reidemeister. Ausgehend von den verschiedenen Forschungsansätzen zum Unternehmertum, charakterisiert er dieses als sehr heterogen, weil die Unternehmer im Hinblick auf Wirtschaftsweise, Vermögen, sozialen Status und Rechtsverhältnisse deutliche Unterschiede aufwiesen (S. 115). Um die Reichweite des unternehmerischen Handelns auszuloten, wird in Kapitel III (S. 117-182) zunächst der institutionelle Kontext der märkischen Metallverarbeitung herausgestellt. Als deren Spezifika hebt Scherm das Zusammenspiel der aus merkantilen Interessen des preußischen Staates aufgebauten behördlichen Einrichtungen einerseits und der Selbstverwaltungsinstitutionen der Gewerbetreibenden andererseits hervor (S. 182). Anhand des Geld- und Währungswesens wird in Kapitel IV (S. 183-370) überprüft, ob und wie es den Reidemeistern vor dem Hintergrund einer starken institutionellen Einbindung gelungen ist, wirtschaftliche Stabilität zu erlangen. Nach einer sehr ausführlichen Skizzierung der komplexen Währungsverhältnisse in der Mark erarbeitet Scherm anhand von wirtschaftswissenschaftlichen Methoden zur Kaufkraft- und Inflationsanalyse ein isomorphes und stark abstrahierendes Modell zur Entwicklung der Kaufkraft der Reidemeister zwischen den Jahren 1750 und 1900 (S. 277). Anhand dieses Modells, welches von einer relativ großen Preisstabilität in diesem Zeitraum ausgeht, weist Scherm auf einen hypothetischen Handlungsspielraum der Reidemeister hin (S. 297).

Die eigentlichen „Handlungsoptionen im verdichteten Gewerbebezirk“ stehen im Fokus des umfangreichen nachfolgenden Kapitels V (S. 371-618). Die informelle Struktur, die im Verhältnis des Unternehmertums zu den Arbeitern, zu den Zulieferern oder Händlern sowie anhand der Heiratspolitik der Unternehmer dargestellt wird, habe, so Scherms Überzeugung, zu einem langfristigen Bestehen der Unternehmungen geführt. Die „social responsibility“ und das über Generationen gewachsene Vertrauen stelle einen Wettbewerbsvorteil gegenüber anderen Unternehmungen dar. Eine solche netzwerkartige Wirtschaftsweise könne folglich, so resümiert Scherm in seinem Schlusswort, auch für Unternehmungen des heutigen Mittelstandes vorteilhaft sein und zu deren langfristigem Erfolg beitragen (S. 624).

Methodisch wie inhaltlich präsentiert sich die Studie Scherms, trotz zahlreicher Längen, als überaus fundiert, stellenweise aber auch als zu ambitioniert. Damit erweist sich die regionale Wirtschafts- und Unternehmensgeschichte einmal mehr als ein spannendes Exerzierfeld für die frühneuzeitliche Netzwerkforschung, wie dies bereits die Arbeiten von Stefan Gorißen oder zuletzt Adelheid von Saldern unterstrichen haben.4 Ob indessen jedem einzelnen Kapitel ein Abschnitt zu dem jeweiligen Forschungsstand vorangestellt werden und wie ausführlich die Vorstellung einzelner theoretischer Ansätze ausfallen muss, was den Umfang der Arbeit enorm aufbläht, erscheint indessen fraglich. Ebenso deutet der ausgedehnte Fußnotenapparat an, dass der Verfasser wissenschaftliche Selektionsmechanismen nicht hinreichend beherrscht (z.B. S. 26, 49). Hier hätten die Herausgeber unterstützend eingreifen können, um gewisse Überfrachtungen zu reduzieren. Zugegebenermaßen handelt es sich um eine überaus fleißige Kompilation, doch ist eine Dissertation kein Handbuch. Daher gilt, dass hier ein gewisser Proporz gewahrt bleiben sollte, um das eigentliche Kernthema der Netzwerkökonomie nicht zu sehr aus dem Blick geraten zu lassen. Ähnliches gilt für die Unmengen an Datenmaterial, die der Verfasser in den Text aufgenommen hat, statt ihn in den Anhang zu geben. Für die Lesbarkeit der Arbeit ist auch dies kein Gewinn.

Insgesamt ist Michael Scherm mit dieser in den Beiheften zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte des Franz Steiner Verlages veröffentlichten Arbeit eine beeindruckende wirtschaftshistorische Studie gelungen, die die vorindustrielle Regionalgeschichte auf innovative Art und Weise beleuchtet. Ob sie indessen aufgrund ihrer methodischen und konzeptionellen Beschaffenheit eine große Leserschaft ansprechen kann, sei dahin gestellt.

Anmerkungen:
1 Heiner Fangerau / Thorsten Halling (Hrsg.), Netzwerke. Allgemeine Theorie oder Universalmetapher in den Wissenschaften? Ein transdiziplinärer Überblick, Bielefeld 2009.
2 Douglas C. North, Theorie des institutionellen Wandels, Tübingen 1988; Hartmut Berghoff (Hrsg.), Unternehmerische Netzwerke. Eine historische Organisationsform mit Zukunft? Stuttgart 2007; Margrit Schulte-Beerbühl, Deutsche Kaufleute in London. Welthandel und Einbürgerung (1660-1818) (Veröffentlichungen des Deutschen Historischen Instituts London 61), München 2006.
3 Susanne Hilger, „Under Reconstruction“ – Familienunternehmen als Gegenstand der jüngeren wirtschaftshistorischen Forschung, in: dies. / Ulrich S. Soénius (Hrsg.), Netzwerke – Nachfolge – Soziales Kapital. Familienunternehmen im Rheinland im 19. und 20. Jahrhundert (Schriften zur rheinisch-westfälischen Wirtschaftsgeschichte 47), Köln 2009, S. 9-25.
4 Stefan Gorißen, Vom Handelshaus zum Unternehmen. Sozialgeschichte der Firma J. C. Harkort 1720-1820, Göttingen 2002; Adelheid von Saldern, Netzwerkökonomie im frühen 19. Jahrhundert. Das Beispiel der Schoeller-Häuser, Stuttgart 2009.

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