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Titel
Lesevorgänge. Prozesse des Erkennens in mittelalterlichen Texten, Bildern und Handschriften


Herausgeber
Lutz, Eckart Conrad; Backes, Martina; Matter, Stefan
Reihe
Medienwandel, Medienwechsel, Medienwissen 11
Erschienen
Zürich 2010: Chronos Verlag
Anzahl Seiten
728 S.
Preis
€ 44,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Gabriel Viehhauser, Institut für Germanistik der Universität Bern

Der zu besprechende Band versammelt Beiträge eines interdisziplinär ausgerichteten Colloquiums aus dem Herbst 2007, das sich im Rahmen des Schweizerischen Nationalen Forschungsschwerpunkts „Medienwandel – Medienwechsel – Medienwissen. Historische Perspektiven“ mit der Rekonstruktion von vormodernen Lesevorgängen beschäftigte.1 Wie der Untertitel des Bandes ankündigt, werden diese Lesevorgänge näher als „Prozesse des Erkennens in mittelalterlichen Texten, Bildern und Handschriften“ bestimmt. Ausgangspunkt ist demnach die Annahme, dass Leseprozesse direkt aus mittelalterlichen Texten und deren materiellen Überlieferungsträgern rekonstruiert werden können, da diesen bestimmte Indizien eingeschrieben sind, die Aufschlüsse über die intendierte und tatsächliche Rezeption zu geben vermögen. Im Fokus der Fragestellung stehen damit weniger theoretische Vorüberlegungen als vielmehr konkret nachweisbare Strukturen und Modelle von mittelalterlichen Rezeptionsvorgängen, die in einzelnen Fallstudien exemplarisch aufgearbeitet werden können.

Die Konzeption fügt sich damit insofern in die Zielsetzungen des Nationalen Forschungsschwerpunkts ein, als mit der Rekonstruktion der Lesevorgänge „angewandtes oder doch anwendungsrelevantes Medienwissen“ (S. 5) beschreibbar gemacht werden soll.2 Die Annäherung über den Begriff des „Medienwissens“ ist durchaus mit Bedacht gewählt, denn diese soll gemäß den Grundpositionierungen des Forschungsschwerpunkts eine historische Einordnung mittelalterlicher Medialität ermöglichen, die eine allzu rigide Fokussierung auf mediale Zäsuren (etwa zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit oder zwischen Handschrift und Druck) überwindet und damit nicht der Gefahr erliegt, die Vorstellung eines medialen Umbruchs bzw. einer medialen Andersartigkeit der Vormoderne unter teleologischer Perspektive in eine mediale Fortschrittsgeschichte bzw. eine Medienrevolutionsgeschichte einzupassen.3 Mittelalterliche Medialität bleibt damit nicht nur als defizitäre Vorgeschichte heutiger Vermittlungsformen beschreibbar, sondern kann in ihren vielfältigen Ausprägungsformen im Spannungsfeld zwischen Alterität und Kontinuität bestimmt werden.

Die Beschreibung des Medienwissens nimmt gemäß der anwendungsorientierten Ausrichtung des Bandes in den meisten Beiträgen an der Materialität der Textüberlieferung ihren Ausgang, lassen sich doch Hinweise darauf, wie ein Text zu lesen sei, am augenfälligsten aus der Einrichtung der Handschriften erschließen. Ins Zentrum der Betrachtung rücken dabei vor allem Gliederungsmaßnahmen und das paratextuelle Beiwerk der Texte, die in ihrer offensichtlich zu Tage tretenden texterschließenden Funktion Auskünfte über den intendierten Rezeptionsvorgang zu geben vermögen. Ein ganzes Spektrum an solchen paratextuellen Einrichtungen bietet etwa die Überlieferung des ‚Roman de la Rose‘, bei der, wie Sylvia Huot zeigt, die Ausstattung der Handschriften mit Rubriken, Glossen und Registern auf unterschiedliche Leseinteressen und Lesevorgänge (etwa lineare vs. nichtlineare Lektüre) der Benutzer schließen lässt.4 Der ‚Roman de la Rose‘ hält demnach vielfältige Rezeptionsangebote bereit, die durch die je unterschiedliche Einrichtung der Handschriften aktualisiert werden.

Paratexte haben nicht nur in ihrer inhaltlichen, sondern auch in ihrer formalen Gestaltung an der Steuerung von Rezeptionsprozessen teil. Dies geht aus dem Beitrag von Susanne Wittekind hervor, die zeigen kann, wie sich die Kanonisierungstendenzen, die der Dekretalensammlung Gregors IX. programmatisch zu Grunde liegen, bis in die Gestaltung des Layouts der Handschriften hinein auswirken: Durch die Einfügung von Inhaltsverzeichnissen und die Etablierung eines standardisierten Rahmenlayouts für die Glossierung des Rechtstextes wird versucht, den Eindruck einer abgeschlossenen Sammlung von kanonischen Texten zu betonen.5 Text und Glossen bilden einen kompakten Schriftblock, der nur wenig Freiräume für Ergänzungen bieten soll. Freilich wird gerade diese Abgeschlossenheit von individuellen Benutzern der Handschriften wieder unterlaufen, die durch eigene Einträge das starre Textgefüge aufbrechen und damit Zeugnis ablegen von weiteren, der ursprünglichen Layout- und Textintention widersprechenden Lesevorgängen.

Eine auch für die künftige Erforschung von Paratexten vielversprechende Perspektive dürfte der Beitrag von Nikolaus Henkel eröffnen.6 Henkel befasst sich am Beispiel einer aus dem 12. Jahrhundert stammenden glossierten Handschrift von Vergils ‚Aeneis‘ mit der kommentierenden Erschließung lateinischer Klassiker im Schulunterricht. Anhand der Glossierungen lässt sich belegen, dass die mittelalterliche Praxis des Fremdsprachenunterrichts nicht auf eine Wort-für-Wort-Übersetzung in die eigene Sprache abzielt, sondern auf eine kommentierende, den Text begleitende Erschließung im Rahmen des rhetorischen Verfahrens der Enarratio. Die Fragestellung, inwieweit rhetorische Verfahren bei der Erstellung von Paratexten eine Rolle spielen, dürfte sich mit Gewinn auf andere Überlieferungssituationen übertragen lassen.

Neben den Paratexten im eigentlichen Sinn kommt auch Kontexten eine tragende Rolle bei der Rezeptionssteuerung zu. Dies zeigt etwa Stefan Kwasnitza am Beispiel der Freiburger Handfeste, die durch die Integration in die Umgebung anderer Texte, so etwa in eine Handschrift des Schwabenspiegels, von der Urkunde zum Teil eines Rechtsbuchs und damit in einen veränderten Gebrauchszusammenhang eingeordnet wird.7 Wie auch im Beitrag von Stefan Matter zum ‚Ironischen Frauenpreis‘, einer in vielfältigen Beziehungen zu umgebenden Texten stehenden Minnerede aus dem ‚Liederbuch der Klara Hätzlerin‘ 8, zeigt sich damit einmal mehr, dass gerade mittelalterliche Texte in den meisten Fällen unterschiedliche Lektüreangebote bereithalten, die durch das Aufrufen intertextueller Bezüge zu handschriftlichen Kon- und Paratexten aktualisiert werden können. Freilich stellt sich die Frage, ob all diese Bezüge, die der heutige philologische Zugriff herstellen kann, von den Benutzern tatsächlich realisiert worden sind. Insbesondere wäre die Möglichkeit zu berücksichtigen, dass sich manche Textkonstellationen auch aus den Vorgaben der Überlieferung und somit gewissermaßen zufällig ergeben haben könnten.9 Hier zeigt die Methode, Rezeptionsvorgänge aus dem handschriftlichen Material zu rekonstruieren, ihre Grenzen: letzte Sicherheit ist nicht zu erreichen, dennoch dürften sich die Indizienketten in den meisten Fällen als tragfähig erweisen.

Wie die Beispiele belegen, gibt es in Bezug auf die rezeptionssteuernde Wirkung funktionale Überschneidungen zwischen Para- und Kontexten. An diese Beobachtung lässt sich die methodische Frage anknüpfen, wie das Verhältnis zwischen den beiden Formen zu bestimmen sei. Unter Umständen könnte es sinnvoll erscheinen, die beiden Erscheinungsformen unter dem weiträumigeren Begriff der ‚Rahmung‘ zusammenzufassen, der „im Grunde alle Zeichenkomplexe umfaßt, die in unmittelbarem rezeptionssteuernden Zusammenhang mit einem gerahmten Werk stehen“.10 Mit diesem Begriff wäre dann auch eine weitere ‚paratextuelle‘ Sonderform integrierbar, die schon traditionsgemäß in der mediävistischen Forschung eine große Rolle spielt, nämlich die Illustration von Texten durch Bilder. Unbestreitbar tragen auch Bilder zur Benutzerführung in mittelalterlichen Handschriften bei. Einen insbesondere für den interdisziplinären Dialog äußerst nützlichen Überblick über solche rezeptionssteuernden Vorgaben von Bildern liefert der Beitrag von Christel Meier, die auf einer umfassenden Materialbasis eine Typologie von Handschriftenillustrationen gemäß ihrer funktionalen Bedeutung für die Text-Bild-Lektüre erstellt.11 Ihre Unterteilung in ‚paratextuelle‘, textgliedernde, narrativ-diskursive, repräsentierende, kommentierende und abstrahierend-diagrammatische Illustrationstypen dürfte sich als Referenz auch für nicht kunstgeschichtlich ausgerichtete Studien anbieten.

Die Frage hingegen, ob auch die Rezeption von Bildwerken im selben Maße als ‚Lesen‘ bezeichnet werden kann, wie dies bei Texten der Fall ist, erscheint strittig. Sie steht im Zentrum des Beitrags von Michael Grandmontagne.12 Grandmontagne bringt zahlreiche Belege dafür, dass es im Rahmen mittelalterlicher Wahrnehmungstheorien zu vielfältigen Überschneidungen zwischen dem ‚Lesen‘ von Bildern und dem Lesen von Texten kommen kann. Dieser Nachweis bietet ihm die Grundlage für die Aufdeckung eines ‚Lektüreangebots‘, welches das von Claus Sluter geschaffene Portal der Kartause von Champmol bereithält. Die Deutung des Skulpturenensembles am Portal, dessen Semantik sich dem Betrachter erst in einem prozesshaften Nachvollzug der Relationen zwischen den einzelnen Figuren erschließt, erscheint durchaus überzeugend. Dennoch stellt sich die Frage, ob eine solche ‚Lektüre‘, ungeachtet der terminologischen Überschneidungen zeitgenössischer Theorien, von einem heutigen Standpunkt aus gesehen kategorial vom Lesen von Texten unterschieden werden müsste.

Die einzelnen Beiträge des Bandes, die im Rahmen der Rezension nicht alle ausführlich besprochen werden können, bieten in überzeugender Weise ein weitgefächertes Spektrum von vormodernen Leseszenen. Der Ausgang von einzelnen Fallstudien erweist sich dabei als besonders geeignet, die Vielfalt mittelalterlicher Medialität abzubilden. Trotz der Fokussierung auf zum Teil abgelegene Texte und Texttraditionen bleiben die Beiträge durch die Perspektive auf den gemeinsamen Nenner des Lesevorgangs über den Einzelfall hinaus aufschlussreich.

Abgerundet wird der positive Eindruck, den der Band hinterlässt, durch die sorgfältige formale Gestaltung. Beeindruckend ist insbesondere der umfangreiche Bildanhang, der nicht weniger als 131 überwiegend farbige Illustrationen umfasst.13

Anmerkungen:
1 Die Beiträge stammen aus dem Gebiet der deutschen, französischen und lateinischen Philologie sowie aus dem Gebiet der Geschichte und Kunstgeschichte. Zum Nationalen Forschungsschwerpunkt vgl. die Webseite <http://www.mediality.ch> (1.3.2011) sowie den programmatischen Aufsatz von Christian Kiening, Medialität in mediävistischer Perspektive, in: Poetica 39 (2007), S. 285-352.
2 Dieses „Medienwissen“ wird im Vorwort zum Band näher bestimmt als „ein Wissen der Produzenten um die Handhabung und die Wirksamkeit der Mittel, deren Einsatz Erkenntnisprozesse im Leser auszulösen und zu steuern vermag; ein Wissen, an dem Autoren, Schreiber und Rezipienten in unterschiedlicher Weise Anteil haben und dessen Aktivierung gerade in verschiedenen Formen des – Interferenzen fördernden – vermittelnden mündlichen Austauschs, des ‚Gesprächs‘, geschieht“ (S. 5).
3 Vgl. Kiening, Medialität, S. 339-342.
4 Sylvia Huot, ‚Finding-Aids‘ for the Study of Vernacular Poetry in the Fourteenth Century: The Example of the ‚Roman de la Rose‘.
5 Susanne Wittekind, Ut hac tantum compilatione universi utantur in iudiciis et in scholis. Überlegungen zu Gestaltung und Gebrauch illuminierter Handschriften der Dekretalen Gregors IX.
6 Nikolaus Henkel, Text – Glosse – Kommentar. Die Lektüre römischer Klassiker im frühen und hohen Mittelalter.
7 Stefan Kwasnitza, Stadtrechte zwischen Urkunde und Handschrift. Lesepraktiken, Ostentationsakte und Traditionsbildung am Beispiel der Freiburger Handfeste.
8 Stefan Matter, Was liest man, wenn man in Minneredenhandschriften liest? Exemplarische Lektüren des ‚Ironischen Frauenpreises‘ (Brandis 22) in der Prager Handschrift des sog. ‚Liederbuches der Klara Hätzlerin‘.
9 So ist beispielsweise die Ausstattung eines Textes mit einem Überschriften- oder Bildprogramm auch davon abhängig, ob auf eine entsprechende Gliederungs- oder Illustrationstradition zurückgegriffen werden kann.
10 Vgl. Werner Wolf, Prologe als Paratexte und/oder dramatische (Eingangs-)Rahmungen? ‚Literarische Rahmung‘ als Alternative zum problematischen Paratext-Konzept, in: Frieder von Ammon / Herfried Vögel (Hrsg.), Die Pluralisierung des Paratextes in der Frühen Neuzeit. Theorie, Formen, Funktionen, Berlin 2008, S. 79-98, hier S. 95.
11 Christel Meier, Typen der Text-Bild-Lektüre. Paratextuelle Introduktion – Textgliederung – diskursive und repräsentierende Illustration – bildliche Kommentierung – diagrammatische Synthesen.
12 Michael Grandmontagne, ‚Lesen im Marmor‘ oder: Vom erkenntnisstiftenden Sehen. Lesevorgänge im Werk von Claus Sluter.
13 In einigen seltenen Fällen sind die Abbildungen zu klein geraten. Dies kann angesichts der Fülle der Illustrationen jedoch nur als marginaler Kritikpunkt gelten.

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