Titel
Medikale Räume. Zur Interdependenz von Raum, Körper, Krankheit und Gesundheit


Herausgeber
Eschenbruch, Nicholas; Hänel, Dagmar; Unterkircher, Alois
Reihe
KörperKulturen
Anzahl Seiten
254 S.
Preis
26,80 €
Rezensiert für die Historische Bildungsforschung Online bei H-Soz-Kult von:
Annette M. Stroß, Institut für Bildungswissenschaft, Pädagogische Hochschule Karlsruhe

Der vorgelegte Sammelband vereint – neben einer Einleitung von Dagmar Hänel und Alois Unterkircher – zehn thematisch und method(olog)isch heterogene Beiträge, und er verbindet Autorinnen und Autoren unterschiedlicher Herkunft und Ausgewiesenheit in wissenschaftlichen Kontexten. Beides – sowohl Interdisziplinarität als auch gezielte Nachwuchsförderung – entsprechen der ausdrücklichen Verpflichtung nicht nur des vorliegenden Bandes, sondern zugleich der seit Mitte der 1990er-Jahre initiierten Arbeitstreffen des „Netzwerks Gesundheit und Kultur in der volkskundlichen Forschung“, aus denen dieser Sammelband hervorgegangen ist.

Repräsentiert sind – so die beiden (Mit-)Herausgeber Dagmar Hänel und Alois Unterkircher in ihrer Einleitung – die Disziplinen Volkskunde/Europäische Ethnologie/Kulturanthropologie, Geschichte, Medizingeschichte, Soziologie und Ethnologie. Im Band vertreten sind sowohl unpromovierte Nachwuchswissenschaftler/innen (Cornelia Bogen, Julia Thiesbonenkamp, Alois Unterkircher) als auch bereits promovierte (Monika Ankele, Bernhard Bremberger, Nicholas Eschenbruch, Andreas Golob, Dagmar Hänel, Wiebke Lisner, Heiko Pollmeier, Sigrid Stöckel) beziehungsweise habilitierte (Eberhard Wolff) Wissenschaftler/innen sowie ein Hochschullehrer aus der Fachhochschule Kufstein (Gernot Wolfram). Ziel des dem Band zugrundeliegenden Symposiums war nicht die Suche nach einem ‚einheitlichen Raumkonzept‘, sondern vielmehr die „kulturwissenschaftliche Perspektivierung von Raumkonzepten in Kontexten des Medikalen“ (S. 10). Gleichwohl muss auch dieser Sammelband sich danach befragen lassen, ob es gelungen ist, Heterogenes unter einer einheitlichen Fragestellung/Herangehensweise zu vereinen. Schließlich sollten – so die beiden (Mit-)Herausgeber – die Begriffe ‚Raum‘ und ‚Räumlichkeit‘ den hier vorgelegten Fallstudien als grundlegende Analysekategorien dienen (vgl. ebd.).1

Die sehr informative Einleitung markiert wichtige Eckpfeiler in den einschlägigen Debatten um raumwissenschaftliche Konzepte, Modelle und Theorien. Bezug genommen wird dabei ausführlich auf die raumsoziologischen Ansätze von Martina Löw und Markus Schroer. Andere Raumtheorien geraten (hier wie auch in den nachfolgenden Beiträgen) bedauerlicherweise nicht in den Blick, so etwa die historisch-anthropologisch geprägten Raumvorstellungen August Nitschkes, oder werden marginalisiert, wie zum Beispiel der kritisch-soziologische Zugang Pierre Bourdieus (vgl. ebd.). Gegenüber dem ‚Raum‘ als einer (vor-)gegebenen Struktur überwiegt hier die Lesart vom ‚Raum‘ als durch Handlungen zu Erschaffendem.

Die Beiträge selbst berücksichtigen den mit der Einleitung gesetzten Zugang in unterschiedlichem Maße. Eberhard Wolf, Monika Ankele und Andreas Golop verweisen in ihren Beiträgen explizit auf raumwissenschaftliche/-soziologische Literatur. Andere Beiträge beziehen raumwissenschaftliche Überlegungen in ihren Ausführungen mehr oder weniger stark mit ein, zum Teil lässt sich der Eindruck eines Appendix-Charakters hinsichtlich der Verwendung der Raummetapher nicht gänzlich vermeiden.

Eberhard Wolf legt in seinem luziden Beitrag am Beispiel des Bircher-Benner-Sanatoriums dar, dass eine Landschaft im Sinne der „Therapeutic Landscapes“ durch Merkmalsverdichtung, symbolische Repräsentationen (zum Beispiel des Rohkostgedankens), die Erzeugung von Ambivalenzen (Natur/Kultur), die emotionale Überhöhung von ‚Natur‘ und die bewusste Abgrenzung von der Umgebung (zum Beispiel gegenüber dem nahegelegenen Luxushotel Dolder) zu allererst ‚gemacht‘ wird. Insofern wird ‚Landschaft‘ hier – in Anlehnung an Wilbert M. Gesler – als ein relatives Abstraktum begriffen.

Für Monika Ankele stellt sich die Frage nach der Herstellbarkeit von ‚Privatheit‘ im psychiatrischen Raum, hier am Beispiel ausgewählter Krankenakten und Selbstzeugnisse bettlägeriger Frauen in der Psychiatrie um 1900. Wird das Bett in Anlehnung an Roland Barthes im Laufe der Zeit zu einem ‚proxemischen Ort‘, zu einer Art ‚Körperteil‘, in dem „frau“ sich verbirgt/verbergen kann, so ergänzen spezifische Gesten, hier: das Schließen der Augen, die (Möglichkeit der) Herstellung einer privaten Sphäre.

Bernhard Bremberger zeigt in seiner Studie, wie erkrankte ausländische Zwangsarbeiter während des Zweiten Weltkriegs in Deutschland mittels minutiöser Maßnahmen räumlich segregiert und von sogenannten deutschen Staatsangehörigen fern gehalten wurden. Auch die räumliche Unterbringung selbst (zum Beispiel dunkle, schmutzige Säle, Überwachung durch Hunde) – so Bremberger – lässt auf die Behandlung ausländischer Arbeitskräfte als Menschen ‚zweiter Klasse‘ schließen.

In seinem Artikel über „Schule und Gesundheit im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts“ legt Andreas Golob das Löwsche Raumparadigma idealtypisierend zugrunde. Dennoch müssen – so Golob – die im 18. Jahrhundert in (Preußen-)Deutschland unter dem Einfluss des Philanthropismus stehenden Schulen – bei gleichzeitig vorhandenen Stadt-Land-Unterschieden – faktisch eher als (Observations-)Raum einer umfassenden Sozialdisziplinierung gesehen werden denn als Stätten, in denen ein subjektorientiertes gesundheitliches Handeln möglich war.

Cornelia Bogen untersucht in ihrer Studie Laiendiskurse im Internet (Blogs, Online-Tagebücher, Selbsthilfegruppen), die der Krankheitsbewältigung (hier im Fall depressiver Erkrankungen) dienen. Den Hintergrund liefert die Schilderung von Wandlungsprozessen im Laien-/Expertenverhältnis seit dem 18. Jahrhundert und die Rekonstruktion der durch die Verbreitung des Internets massiv gestiegenen „Zugangs- und Publikationsmöglichkeiten für die individuelle Selbstäußerung und Krankheitsdarstellung“ (S. 116), die – wie Bogen betont – den Diskurs zur „Gesundheitskommunikation“ zunehmend „selbstreferentieller und selbstreflexiver“ werden lassen (S. 127).

Sigrid Stöckel – mit Brigitte Lohff Leiterin des DFG-Projektes „‘Politik‘ in deutschen und britischen medizinischen Fachjournalen von der Zwischenkriegszeit bis in die 1950er- Jahre“ – wertet zusammen mit Heiko Pollmeier und Wiebke Lisner vier britische und deutsche medizinische Wochenschriften im Zeitraum zwischen 1919 und 1960 aus. Heiko Pollmeier untersucht in seinem Beitrag den Diskurs über Geschlechtskrankheiten und den daraus resultierenden Umgang mit (vermeintlich oder tatsächlich) geschlechtskranken Personen in Deutschland und Großbritannien in den Jahren 1933-1945. Würden – so Pollmeier – in den britischen Journalen „die Rechte des Individuums über das Allgemeinwohl gestellt […], verhielt es sich in Deutschland umgekehrt: Aus dem individuellen Recht auf Gesundheit wurde eine Pflicht zur Gesundheit abgeleitet.“ (S. 170f.) Wiebke Lisner analysiert den Diskurs zu Tierversuchen in den Jahren 1919-1945, wobei die Differenzen zwischen dem britischen (hier: politische Diskussions- und Entscheidungsfindungsprozesse werden widergespiegelt) und dem deutschen Diskurs (hier: sich auf Forschungsergebnisse berufend, eher mit apodiktischen Setzungen arbeitend) wiederum frappierend sind. Wochenschriften – so fasst Stöckel resümierend zusammen – würden ‚Räume‘ eröffnen, indem sie zur „Ausbildung einer medikalen Kultur“ (S. 134) innerhalb der gebildeten Leserschaft beitrügen.

Werden Schmerzen in Sprache übersetzt, so eröffnen diese über metaphorische Erzählstrategien Raumbilder, die als subjektive ‚Erfindungen‘ zugleich auf eine Genauigkeit der Beschreibungen zielen, so Gernot Wolfram in seinem anregenden Beitrag zum „Sprechen über den Schmerz als kulturelle Bindung“. Über die hiergenannte Paradoxie hinausgehend verweist Wolfram darauf, dass ‚Erzählung‘ und ‚Heilung‘ im vormodernen beziehungsweise religiösen Denken (zum Beispiel in der jüdischen Mystik) häufig in einem magischen Zusammenhang gesehen wurden. Er bindet individuelle ‚Schmerzgeschichten‘ an einen „Raum gemeinsamer kultureller Kenntnis“ (S. 217) wie auch historisch und kulturell variierender Wahrnehmungs- und Umgangsweisen. Gegenüber dem „Schmerzmanagement“ in modernen medikalen Räumen (ebd.) wird hier die wichtige – forschungsleitende – Frage nach der über eine bloße Indikatorenfunktion hinausgehenden Funktionalität metaphorischer Schmerzerzählungen gestellt, die nach Wolfram zum Beispiel im „Akt des Sich-Näherns“ (S. 220) an den Zuhörer gesehen werden kann.

Julia Thiesbonenkamp untersucht den Umgang philippinischer Migrantinnen und Migranten aus der Gemeinde El Shaddai in Frankfurt am Main, den sie (in Anlehnung an Foucault und andere) als durch ‚Selbst- und Fürsorge‘ charakterisiert bezeichnet. Die Gemeinde stellt – wie Thiesbonenkamp anhand ihrer Untersuchungsergebnisse systematisch rekonstruiert – einen geographischen, religiösen und heilenden Raum dar, der geprägt ist von spezifischen Vorstellungen gelebter Religiosität, zu denen geistiges Wachstum wie auch der Anspruch, ‚Göttlichkeit‘ in den eigenen Handlungen umzusetzen, gehören. Ihr in seinem Fazit bescheidener und zugleich analytisch-klarer Beitrag bildet den Abschluss des Bandes.

Auch wenn die vorgelegten Beiträge von unterschiedlicher Qualität sind und eine stärkere Explikation der methodischen Herangehensweise zuweilen wünschenswert wäre, regen die hier vorgelegten Studien in ihrer inhaltlichen Originalität zum Weiterdenken an. Wenn, wie im vorliegenden Band der Fall, Nachwuchswissenschaftler/innen ausdrücklich mit einbezogen werden und Interdisziplinarität gefördert werden soll, sollte sich das allerdings auch in der Verantwortung der Herausgeber niederschlagen, indem beispielsweise in einem Nachwort rückblickend auf einzelne Beiträge eingegangen wird, die von den Autor/innen vorgenommenen Perspektivierungen ergänzt, diese – anhand weiterführender Fragestellungen – in (unterschiedliche) raumwissenschaftliche Konzepte/Modelle/Theorien eingeordnet werden usw. So bleibt die/der interessierte Leser/in nach der Lektüre des Bandes am Schluss etwas ratlos zurück.

Fazit: Ein stärker systematisch-analytischer, Untersuchungsgrundlagen und -methoden explizierender Zugang hätte einzelnen Beiträgen gut getan, ebenso wünschenswert wäre ein übergreifender „roter Faden“ durch die Herausgeber (zum Beispiel durch ein zum Weiter- bzw. Querdenken anregendes Nachwort). So wirken die Beiträge insgesamt mosaikhaft zusammengesetzt und verbleiben in weiten Teilen auf einem narrativ-kursorischen Niveau. Inspirierend sind die hier vorgelegten Studien – auch als Anregung für weitere Disziplinen (zum Beispiel die Allgemeine Erziehungswissenschaft) – allemal.

Anmerkung:
1 Bedauerlicherweise konnte ein Teil der Vorträge nicht abgedruckt werden (so z.B. Majerus Benoît‘s Vortrag zur ‚Heterogenität psychiatrischer Räume‘ oder Astrid Seltrecht‘s Vortrag zur ‚Spurensuche nach Orten der Gesundheit und Krankheit‘ am Beispiel einer Universität); vgl. S. 17.

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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit der Historischen Bildungsforschung Online. (Redaktionelle Betreuung: Philipp Eigenmann, Michael Geiss und Elija Horn). https://bildungsgeschichte.de/