K. Amann (Hrsg.): Das Pfäferser Passionsspielfragment

Cover
Titel
Das Pfäferser Passionsspielfragment. Edition – Untersuchung – Kommentar


Herausgeber
Amann, Klaus
Reihe
Innsbrucker Beiträge zur Kulturwissenschaft, germanistische Reihe 74
Erschienen
Anzahl Seiten
254 S.
Preis
€ 36,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Thomas Bein, Lehr- und Forschungsgebiet Germanistik/Mediävistik, RWTH Aachen

Die vorliegende Publikation stellt die überarbeitete Fassung der Doktorarbeit von Klaus Amann dar. Die Studie darf als grundsolide philologische Leistung betrachtet werden – schnörkellos, transparent in allen ihren Teilen und trotz der etwas spröden Aufgabenstellung ansprechend formuliert.

Amann widmet sich einer literarischen Textsorte, deren deutschsprachige Tradition erst recht spät im Mittelalter einsetzt: dem frühen (Schau-) Spiel. Während fast alle anderen literarischen Grundtypen bereits seit den Anfängen einer deutschsprachigen Schriftlichkeit (8./9. Jahrhundert) in Ansätzen zu finden sind, entwickelt sich eine ‚Dramatik‘ erst allmählich und in zunächst großer Abhängigkeit von der mittellateinischen Tradition während des (späteren) 13. und folgenden 14. Jahrhunderts. Es entstehen zwei Typen: das weltliche (Fastnacht-) Spiel und das geistliche (vor allem: Passions-, Oster-, Weihnachts-) Spiel. Amann geht auf das geistliche Spiel ein, genauer: das Passions- und Osterspiel, und hier stellt er der wissenschaftlichen Öffentlichkeit erstmals ein bislang kaum bekanntes Fragment eines Passionsspiels (mit einem Osterspielteil) vor, das wohl im Benediktinerkloster des Bergdorfes Pfäfers im Kanton St. Gallen im ersten Drittel des 13. Jahrhunderts aufgeschrieben worden ist. Es handelt sich um ein Fragment, ein Doppelblatt, das als „Deckelschutz“ (S. 46) beim (mittelalterlichen) Neueinband eines Codex aus dem 10./11. Jahrhundert zweckentfremdet wurde; dieses Doppelblatt wurde zu diesem Zweck arg beschnitten (Folge: Textverlust) – und die spätere Ablösung vom Buchdeckel brachte weitere Textverluste mit sich.

Keine leichte Aufgabe für einen Editor! Doch Amann geht sie beherzt und mit philologischem Talent an. Seine Arbeit weist vier Hauptkapitel auf, von denen das letzte der Edition gewidmet ist. Voran gehen ein Abriss zur Geschichte der Abtei Pfäfers, eine ausführliche kodikologische und sprachhistorische Untersuchung des Fragments sowie literaturgeschichtliche Exkurse zu den Traditionen mittelalterlicher Passionsspiele.

Der Abschnitt über die Abtei Pfäfers bietet, wenn auch gedrängt, einen historischen Überblick über die Verfasstheit des Klosters im Hochmittelalter. Gleichzeitig entsteht vor dem Auge des Lesers auch ein literatursoziologisches Panorama, was wichtig ist, um über die Entstehungsbedingungen von literarischen Werken Aufschluss gewinnen zu können. Das Kapitel über Kodikologie, Datierung und Sprache orientiert sich an älteren Mustern, was aber der Sache keineswegs schadet. Amann arbeitet verschiedene Eckpunkte heraus, die als Indizien – zusammen genommen – am Ende eine recht schlüssige Datierung („zwischen 1298 und spätestens 1336“, S. 51) und Lokalisierung („Region des heutigen Kantons St. Gallen und vielleicht des nördlichen Graubünden“, S. 52) ermöglichen.

Dabei sind Amann die Probleme rund um das Sammeln solcher Indizien bewusst, insbesondere fußt die regionalsprachliche und lautgeschichtliche Analyse (notgedrungen) noch auf älteren Hilfsmitteln (so unter anderem auf Hermann Pauls ‚Mittelhochdeutsche Grammatik‘ in der 24. Aufl. – hier hätte man zumindest die doch wesentlich bessere 25., neubearbeitete und erweiterte Auflage von 2007 benutzen können). Wenn einmal das Projekt einer vollständig neuen Mittelhochdeutschen Grammatik abgeschlossen sein wird, dürften viele regionale und zeitliche Verortungen von Handschriften zu überprüfen sein.1 Besonders vor dem Hintergrund der neuen Bemühungen um eine handschriftenorientierte deskriptive Grammatik ist Amanns folgende Ausführung methodisch etwas fragwürdig (obschon er dies selbst auf S. 55 einräumt): „Als Folie, vor der Unterschiede und Gemeinsamkeiten analysiert werden, wurde das so genannte ‚normalisierte‘ Mittelhochdeutsch herangezogen. [Dies hat sich] als praktikabel erwiesen, weil dadurch am ehesten die zum Teil erheblichen Unterschiede zwischen der Schreibsprache von PfPf und dem ‚Gemeinmhd.‘ herausgearbeitet werden konnten.“ (S. 55) Ich kann diese Perspektive durchaus verstehen, hätte aber selbst doch mehr Skrupel gehabt so vorzugehen, denn das ‚Gemeinmittelhochdeutsch‘ ist eine Erfindung Karl Lachmanns aus dem frühen 19. Jahrhundert.

Das folgende Kapitel „Das Pfäferser Passionsspiel: Aufbau und Quellen“ ist eine sehr informative und luzide Aufbereitung des literarhistorischen Traditionsnetzwerks, in das auch das Pfäferser Spiel gehört. Amann kennt sich gut in der einschlägigen Forschung aus, referiert, teils zustimmend, teils kritisch, die bisherigen Erkenntnisse und positioniert ‚sein‘ Fragment. Es wird auch einem weniger versierten Leser der Studie deutlich gemacht, dass mittelalterliche (geistliche) Spiele „immer Unikate“ sind (S. 86), insofern sie rückgebunden sind an eine je andere Aufführungssituation, die bei zahlreichen, vollständig überlieferten Spielen auch expressis verbis dokumentiert ist (Ort, Zeit). Gleichermaßen klar wird die Genese deutschsprachiger Spiele aus einer anfänglich lateinisch- und sodann mischsprachigen Tradition herausgearbeitet. Zahlreiche Einzelszenen des Passions- und Ostergeschehens werden analysiert und auf ihre zumeist biblischen (auch apokryphen) Grundquellen zurückgeführt. Das letzte Kapitel stellen Edition, Übersetzung und Stellenkommentar dar.

Die Edition hat Amann in zwei Stufen realisiert: Zunächst bietet er eine „Diplomatische Umschrift“ (S. 144ff.): Auf jeweils einer linken Seite wird der handschriftliche Text möglichst handschriftengetreu unter Beibehaltung von Graphem- und Sonderzeicheneigentümlichkeiten transkribiert; Lücken und Unleserliches sind durch Punkte gekennzeichnet. Auf einer jeweils rechten Seite finden sich synoptisch angeordnete Kurzkommentare, insbesondere Vorschläge für Emendationen, Konjekturen und Ergänzungen. Auf diese Weise kann sich der Leser ein recht gutes Bild vom handschriftlichen Wortlaut machen. Ein Farbfaksimile (S. 237f.) ermöglicht darüber hinaus, sich den Text auf dem Pergamentblatt zu vergegenwärtigen – allerdings ist die Reproduktion zu klein für ein ‚einfaches‘ Lesen der Handschrift.

In einem zweiten Schritt wird der Text in einer leicht normalisierten, interpungierten und – wo nötig – konjizierten Form präsentiert: ein (kritischer) Editionstext im traditionellen Sinn. Sicher war grundsätzlich die Entscheidung richtig, kein ‚Normalmittelhochdeutsch‘ herzustellen, meines Erachtens hätte man aber bei der Normalisierung gut ein Stück weiter gehen können als Amann: Zum Beispiel hätte es der leichteren Lesbarkeit gedient, die handschriftliche u-v-Varianz (konsonantisch versus vokalisch) auszugleichen, und auch superskribierte Vokale (zur Kennzeichnung von Diphthongen oder Umlauten) hätte man auflösen können (zu -uo-, -ue-/ü usw.).

Besonderes Lob verdient Amann für seinen Mut, dem kritischen Text eine neuhochdeutsche Übersetzung synoptisch beizugeben. Gerade in Zeiten, in denen mehr und mehr Interdisziplinarität eingefordert wird, sind solche Beigaben sehr zu begrüßen (denn nicht jeder romanistische Mediävist ist des Mittelhochdeutschen mächtig, nicht jeder germanistische Mediävist des Alt- und Mittelenglischen usw.). Freilich liefert man sich mit einer Übersetzung sofort hilflos aus, denn nichts ist in einer Philologie ähnlich strittig. Amann ist sich dessen bewusst und er weist deutlich darauf hin, dass seine Übertragung eine Verständnishilfe sein möchte, mehr nicht, und dass viele Details auch anders aufgefasst werden können. Spontan bin ich über die Übersetzung von mittelhochdeutsch obs mit neuhochdeutsch ‚Apfel‘ gestolpert – Kontext ist der Sündenfall im Paradies: Es liegt hier eine deutlich interpretierende Übersetzung vor, was Amann aber in seinen auf den Editions- und Übersetzungsteil folgenden Kommentaren knapp erläutert. In jedem Fall erleichtert die Übersetzung die Erschließung des Textes – und da Amann den historischen Text ja in zwei Editionsstufen bereit stellt, ist kein Benutzer der Übersetzung ausgeliefert.

Die Zeilenkommentare stellen den letzten Teil der Arbeit dar. Hier begründet Amann – manchmal vielleicht etwas knapp – seine textkritischen Entscheidungen und gibt hier und da hermeneutische Hilfestellungen.

Fazit: Klaus Amann ist eine runde Studie gelungen, deren Aufbau und Methodik für ähnliche Arbeiten zum Vorbild genommen werden kann. Mit Blick auf die weitere Zukunft der Philologien wäre es wünschenswert, wenn das Material auch digital zur Verfügung gestellt werden könnte – es wäre dies ein weiterer Baustein für das große Unternehmen, historische Textkultur in ein ‚Netzwerk des Weltwissens‘ einzubinden.

Anmerkung:
1 Vgl. dazu Thomas Klein / Hans-Joachim Solms / Klaus-Peter Wegera (Hrsg.), Studien zur mittelhochdeutschen Grammatik, Tübingen 2002ff.

Redaktion
Veröffentlicht am
Autor(en)
Beiträger
Redaktionell betreut durch