E. Stein-Hölkeskamp u.a. (Hrsg): Erinnerungsorte der Antike

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Titel
Die griechische Welt. Erinnerungsorte der Antike


Herausgeber
Stein-Hölkeskamp, Elke; Hölkeskamp, Karl-Joachim
Erschienen
München 2010: C.H. Beck Verlag
Anzahl Seiten
683 S.
Preis
€ 38,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Ulrich Lambrecht, Institut für Geschichte, Universität Koblenz-Landau, Campus Koblenz

Vier Jahre nach dem Sammelband über römische Erinnerungsorte 1 folgen zur Vervollständigung des bemerkenswerten Ensembles von Erinnerungsorten der Antike, die die Geschichtskultur der Gegenwart auf verschiedenen Zeitstufen der Vergangenheit beeinflusst haben, nun die griechischen Erinnerungsorte. Die Herausgeber sind identisch, und gut ein Drittel der Mitarbeiter des griechischen Bandes hat auch schon Beiträge zu den römischen Erinnerungsorten geliefert; Intention und Anlage beider Bände sind also vergleichbar. Grundsätzliche Überlegungen mit Konsequenzen für den Aufbau des Buches erfordert natürlich das die Auswahl erschwerende „Phänomen der strukturellen Heterogenität der griechischen ‚Kultur‘“ (S. 14). Aus diesem Grunde kommt es für den griechischen Kulturbereich besonders darauf an, Erinnerungsorte mit solchen Gemeinsamkeiten zu Wort kommen zu lassen, die im „kulturellen Gedächtnis“ der Gegenwart eine Rolle spielen oder zu spielen vermögen. Dabei werden ihre in verschiedenen Zeitebenen entfalteten Rezeptionspotentiale aufgefächert und ihre wirksamen Erinnerungsdimensionen dargelegt, die einen Erinnerungsort durchaus zu vielfacher, auch widersprüchlicher Rezeption geeignet erscheinen lassen können. Auf diese Weise vermag der Band, richtig gelesen, mit seinen eine vielschichtige Antike-Rezeption erhellenden Beiträgen bei einem interessierten Publikum beachtenswerten Einfluss auf ein lebendiges Bewusstsein von der Einwirkung antiker Ideen auf diverse Gegenwarten zu nehmen. Verschiedene Zeitschnitte eines „Erinnerungsortes“ generieren mit ihrem gewissermaßen instrumentalisierten Erinnerungspotential ihrerseits für eine neue Gegenwart und ihre Interessen eine aktualisierte Erinnerung, die den im Laufe der Zeit akkumulierten Deutungspotentialen neue (Be)Deutung(en) zuwachsen lässt. Insofern können diese Erinnerungsorte, zum Sprechen gebracht, mit den Vergangenheitsbildern, die sie evozieren, Zeugen eines lebendigen Dialogs mit der Antike sein.

Die griechischen Erinnerungsorte sind in sechs Kategorien unterteilt, die – von konkreten Orten ausgehend – nach und nach zu größerer Abstraktion fortschreiten. Das erste Kapitel „Schauplätze und Schau-Plätze“ enthält insgesamt zehn Beiträge bekannter Archäologen und Althistoriker zu Stätten wie Troia, Olympia, Athen oder Alexandria. Sie alle besprechen Aspekte der Erinnerung auf verschiedenen Zeitstufen von der Antike bis in die Gegenwart und dokumentieren, wie auf diese Weise Erinnerungsgeflechte mit der Konstruktion von Geschichte immer wieder durch veränderte Zusammenhänge und Intentionen erneuert und angepasst werden. Alle Epochen durchzieht je nach den politischen Gegebenheiten und den aus unterschiedlichen Blickwinkeln sich ergebenden veränderlichen Bedürfnissen eine erstaunlich wandlungsfähige Rezeption antiker Überlieferung.

So hebt Christoph Ulf in seinem Beitrag „Von Knossos nach Mykene“ Heinrich Schliemanns und Arthur Evans’ Anteile an der Legitimierung der neugriechischen Monarchie durch vorgebliche archäologische Erweise für die Historizität von Mythen hervor, von der die Wissenschaft im Zuge des Historismus schon längst Abstand gewonnen hatte. Mutatis mutandis vergleichbare Beobachtungen liefert Justus Cobet zu Troia, das von der heutigen Türkei „als Schauplatz bedeutender anatolischer Geschichte für eine nationale Antikenrezeption“ (S. 60) reklamiert wird. Neben den bedeutenden religiösen Zentren Delphi (Michael Maaß) und Olympia (Ulrich Sinn) mit ihrem die kleinräumige Polisstaatenwelt entgrenzenden Bezug auf den gesamtgriechischen Kulturraum bieten auch die Schlachtfelder an den Thermopylen (Mischa Meier) und bei Marathon (Michael Zahrnt) Erinnerungsräume besonderer Qualität. Sehr eindrucksvoll zeigt Meier, was die widersprüchliche Überlieferung zur Schlacht an den Thermopylen an „Deutungsoffenheit“ (S. 100) hervorbringt, die sie als Versatzstück für unterschiedlichste Intentionen einsetzbar macht, im Nationalsozialismus ebenso wie – durch Heinrich Böll dekonstruiert – nach dem Zweiten Weltkrieg. Die letzten vier Beiträge dieses Teils gelten den zu unterschiedlichen Zeiten griechische Kulturzentren ersten Ranges bildenden drei Städten Athen (Tonio Hölscher), Alexandria (Stefan Rebenich) und Byzanz (Franz Alto Bauer) sowie dem Ort Poseidonia, der späteren latinischen Kolonie Paestum in Unteritalien (Dieter Mertens), die als Brücke zwischen griechischem und römischem Kulturraum und Vermittlungsinstanz für die Wiederentdeckung griechischer Architektur seit dem 18. Jahrhundert fungierte.

Der zweite Abschnitt enthält Beiträge von Susanne Muth, Rolf Michael Schneider, Fernande Hölscher, Lambert Schneider und Wulf Raeck zum Erinnerungspotential archäologischer Denkmäler: Vertreten sind die Mythenbilder griechischer Amphoren und Schalen, die je nach narrativem Profil der Unterhaltung des Betrachters oder – gegenwartsbezogen – der Vermittlung aktueller gesellschaftlicher Wertvorstellungen dienen; sodann Korai und Kuroi, archaische Marmorstatuen, mit denen bestimmte Rollenbilder in Bewegung zu geraten scheinen; die Tyrannenmörder Harmodios und Aristogeiton in ihrer Bedeutung für die attische Demokratie und das Freiheitsdenken; ferner der Parthenonfries mit seiner Botschaft an den Betrachter, sich mit Athen und dem historisch-politischen Selbstverständnis der Polis zu identifizieren, dabei aber auch einen individuellen Anteil an den Gemeinschaftsaufgaben zu leisten; und schließlich der Pergamonaltar als Beispiel für das Ineinandergreifen kultureller, wissenschaftlicher und politischer Motive mittels instrumentalisierter Erinnerung unterschiedlicher Ausrichtung auf verschiedenen Zeitebenen.

Im dritten Teil wird mit Ausführungen von Ralf von den Hoff, Karl-Joachim Hölkeskamp, Josef Wiesehöfer, Egon Flaig und Paul Cartledge zu den mythischen Personen Theseus und Lykurg, zum Orakelwesen, zu olympischer Agonistik und zu Alexander dem Großen das Erinnerungspotential von „Mythen, Festen, Ritualen“ vorgestellt. Der vierte Abschnitt erfasst als „Kanonische Texte“ Homer (Jonas Grethlein), Herodot und Thukydides (Uwe Walter), die „Orestie“ des Aischylos (Martin Hose), die „Lysistrate“ des Aristophanes (Bernhard Zimmermann) sowie Platon und Aristoteles (Otfried Höffe). In diesem Abschnitt beeindruckt besonders die Interpretation der „Orestie“ durch Hose, sie sei „nicht nur ein Erinnerungsort für die Demokratie und ihre Rechtsordnung, sondern auch für die politische Leistungsfähigkeit des Mythos und der Tragödie“ (S. 434). Es folgen als fünfter und kürzester Teil „Konzepte, Ideen und Ideale“ als Erinnerungsorte; sie werden mittels der Teilhabe an der Polis (Peter Funke, Bürgerschaft und Bürgersein), der Demokratie (Elke Stein-Hölkeskamp) und der Redekunst (Frank Bücher) exemplifiziert.

Bedeutsam als „Transformatoren“ von Erinnerung erscheinen die im sechsten Abschnitt behandelten „(Re-)Konstruktionen – Das antike Griechenland in der Moderne“. Johan Schloemann erweist an Johann Joachim Winckelmann die Brechungen der kunsthistorischen Rezeption des „klassischen“ Griechenland seit der Aufklärungszeit. Die „History of Greece“ aus der Feder George Grotes, vorgestellt von Wilfried Nippel, ist ein Beispiel für ein wissenschaftlich fundiertes und zugleich an ein allgemeines Bildungspublikum gerichtetes Werk aus der Feder eines erfahrenen Politikers, das „zu einer Historisierung der athenischen Demokratie beigetragen“ (S. 548) hat, ohne dass die politischen Wertvorstellungen des Autors die Darstellung dominierten. Anders als Grote urteilt Jacob Burckhardt in der „Griechischen Culturgeschichte“: Bei seinem Interesse an Denkweise und Anschauungen der Griechen im Spannungsfeld zwischen Individualismus und Erfordernissen der Gemeinschaft dokumentiert gerade die negative Haltung zur Demokratie eine konservative Einstellung, wie Leonhard Burckhardt ausführt. Abschließend veranschaulicht Raimund Wünsche die in der Münchener Glyptothek architektonisch gestaltete Griechenlandbegeisterung König Ludwigs I. von Bayern und die Wende zur wissenschaftlichen Betrachtung der Bestände dieser Institution im Zuge der sich hier seit Mitte des 19. Jahrhunderts durchsetzenden Historisierung.

Das Fazit zieht Hans-Joachim Gehrke mit einem abschließenden Essay über „Die Griechen und die ‚Klassik‘“. Dabei verfolgt er insbesondere den Gedanken der „Verbindung von Ästhetik und Polis-Politischem im Klassischen“ (S. 592). Aus der Tatsache, dass gerade in der „klassischen“ Zeit Griechenlands sich das später als „klassisch“ Verstandene als „Gegenstand von Debatte und Wettstreit“ (S. 594) darstellt und politisch wirken will, ergibt sich eine Diskrepanz zur heute geläufigen Auffassung vom Klassischen. So verleiht Gehrke dem Griechisch-Klassischen etwas erfrischend Unruhiges: Er sieht an der Ausrichtung am Klassischen geradezu etwas Agonales, dem es mittels Integration des Konkurrenzprinzips und der Vorbildorientierung auf aemulatio mehr als auf imitatio angekommen sei. Damit weist er dem Klassischen, auch wenn es „primär ein Rezeptionsphänomen“ (S. 599) sei, autonome Ästhetik und politische Bedeutung gleichermaßen zu. Die Transformation dieses Klassischen zunächst in Rom, dann in den europäischen Kulturen ließ dessen allgemeine Bedeutung in den Vordergrund treten, so dass ihm eine dialektische Spannung zwischen der Zeitgebundenheit und der Zeitlosigkeit innewohnt, die ihm einen spezifischen rezeptionsästhetischen Sinn verlieh und verleiht. Das macht das „Klassische“ zu einem griechischen Erinnerungsort par excellence, der ebenso allgegenwärtig wie fluid und daher schwer zu fassen ist.

Es kommt bei alledem darauf an, wessen sich die Gegenwart aus welchem Grund erinnert: Der Erinnerungsort ist darauf angewiesen, dass ein Anknüpfungspunkt vorhanden ist, um leben und sich mit der Zeit weiterentwickeln zu können. Das erweisen die vielen verschiedenen Beispiele aus der Antike, aus der griechischen Welt ebenso wie aus dem römischen orbis, nicht zuletzt das allgemeine exemplum des „Klassischen“ im Schlussbeitrag Gehrkes zu den griechischen Erinnerungsorten. Die beiden Sammelbände helfen also, die Erinnerung der Antike und an die Antike zu vergegenwärtigen. Das ist eine Voraussetzung für das Weiterleben der Antike im heutigen Bewusstsein.

Anmerkung:
1 Vgl. Ulrich Lambrecht: Rezension zu: Stein-Hölkeskamp, Elke; Hölkeskamp, Karl-Joachim (Hrsg.): Erinnerungsorte der Antike. Die römische Welt. München 2006, in: H-Soz-u-Kult, 02.04.2007, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2007-2-002> (23.03.2011).

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