V. Lampugnani: Die Stadt im 20. Jahrhundert

Titel
Die Stadt im 20. Jahrhundert. Visionen, Entwürfe, Gebautes


Autor(en)
Lampugnani, Vittorio M.
Erschienen
Anzahl Seiten
960 S.
Preis
€ 98,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Monika Grubbauer, FB Architektur, Interdisziplinäre Stadtforschung, TU Darmstadt

Der Architekturhistoriker Vittorio Magnago Lampugnani hat mit dem zweibändigen Werk eine umfangreiche Zusammenschau zur Geschichte von Architektur und Städtebau im 20. Jahrhundert vorgelegt. „Die Stadt im 20. Jahrhundert“ ist ein beeindruckendes und in seiner Detailfülle bestechendes, gleichzeitig aber auch gut lesbares und zugängliches Buch. Die beiden Bände sind reich bebildert und vom Wagenbach-Verlag sorgfältig editiert worden. Sie bieten auch fachlich nicht geschulten Leserinnen und Lesern einen Überblick über Persönlichkeiten, Debatten und Motive, die das „Projekt Stadt“ im vergangenen Jahrhundert geprägt haben.

Trotz des umfangreichen Materials und der Fülle an Details, die Lampugnani präsentiert, gibt es aus meiner Sicht zwei Hauptkritikpunkte, die den Wert des Buches für die wissenschaftliche Debatte und die Stadtforschung schmälern: Dies ist zum einen die – programmatische – Fokussierung auf eine (vornehmlich europäische und US-amerikanische) Architektur- und Städtebaugeschichte, die sich an den Biographien und Arbeitszusammenhängen der Protagonisten orientiert, dabei aber die sozialen, politischen und ökonomischen Kontexte sowie Fragen der Nutzung und Aneignung von Architektur nur am Rande wahrnimmt. Zum anderen ist dies die spärliche, teilweise erstaunlich unzulängliche Berücksichtigung von zeitgenössischen Debatten und entsprechenden Hinweisen auf weiterführende Literatur.

In 28 Kapiteln stellt Lampugnani seine Auswahl der wichtigsten Beiträge vor, die „die Stadt in ihrer architektonischen Dimension“ (S. 7) im 20. Jahrhundert geprägt haben. Sein Ziel ist die Analyse der Entwurfsstrategien, die versuchten, die Städte im 20. Jahrhundert als „urbane Orte zu schaffen“ (ebd.). Mit dieser Fokussierung verbindet der Autor ein Plädoyer für die Rückbesinnung auf die Qualitäten, die die traditionsreiche – aber in den letzten Jahrzehnten seiner Ansicht nach vernachlässigte – Disziplin des Städtebaus bietet, indem sie Analyse und Entwurf zu integrieren imstande ist.

Das Problem der Auswahl ist in einem derartigen Unterfangen trotz des Umfangs von circa 900 Seiten, den beide Bände zusammen haben, mit angelegt. Lampugnani löst dies auf elegante Weise, indem die Kapitel nicht streng chronologisch, sondern eher als voneinander unabhängige Essays angelegt sind. Der erste Band beginnt bei Ebenezer Howard und seinem Modell der Gartenstadt, dann folgen unter anderem Essays zur amerikanischen „City Beautiful“, zum frühen Wolkenkratzer in New York und Chicago, zum Wien der Jahrhundertwende und der Zwischenkriegszeit, zum Neuen Bauen und zur klassischen Moderne in den Niederlanden und Deutschland, zur Avantgarde der Zwischenkriegszeit in Italien und der Sowjetunion und schließlich zu Le Corbusier und dem Städtebau der Congrès International d’Architecture Moderne (CIAM). Im zweiten Band finden sich beispielsweise Kapitel zum Städtebau während des Faschismus in Italien, des Nationalsozialismus in Deutschland und in Spanien unter Franco sowie zum sozialistischen Realismus in der Sowjetunion. Weitere Essays thematisieren die autogerechten Planungen in den USA ab den 1920er-Jahren, den Wiederaufbau der Nachkriegsjahrzehnte in Deutschland und die funktionalistische Stadtplanung im Nachkriegseuropa. Die jüngere Geschichte seit den 1960er-Jahren wird in den letzten drei Kapiteln behandelt.

Das Material, mit dem Lampugnani die Konzeption, Imagination und Gestaltung von Stadt im 20. Jahrhundert präsentiert, ist reichhaltig: In der Zusammenschau ergibt sich ein dicht gesponnenes Netz aus Querverweisen und Bezügen. Es ist spannend zu lesen, wie einzelne Protagonisten in den Erzählungen vielfach wiederkehren, zum Beispiel der niederländische Architekt Hendrik Berlage, der mit seiner minimierten, dekorationslosen Wohnarchitektur ein Ideengeber für die uniforme und einheitliche „Architektur der Großstadt“ war, wie sie Anfang des 20. Jahrhunderts in Berlin von Karl Scheffler und anderen propagiert und diskutiert wurde (S. 285 f.). Sein Vortrag „Baukunst und Impressionismus“ (1894) stellte eine Vorarbeit für „Kunst und Technik“ von Walter Behrens (1910) (S. 300; S. 376) dar und leitete die Debatte um Wahrnehmung und Gestaltung der modernen, verkehrsgerechten Stadt ein, die schließlich in den städtebaulichen Konzepten der CIAM münden sollte, auf deren Gründungstreffen in La Sarraz Berlage die Hauptrede hielt (S. 408). Ebenfalls deutlich wird in den dichten Beschreibungen Lampugnanis, wie einzelne Werke über das gesamte Jahrhundert hinweg ihren Einfluss entfalten: Ebenezer Howards Gartenstadt, Camillo Sittes „Städtebau nach seinen künstlerischen Grundsätzen“ oder Patrick Geddes‘ „Cities in Evolution“ kehren mehrfach als Referenzen wieder und machen die komplexe und international verwobene Rezeptions- und Wirkungsgeschichte von Architektur und Städtebau im 20. Jahrhundert deutlich.

Der Großteil der Essays folgt den Spuren der bekannten Wegbereiter der Moderne, der Heroen der klassischen Moderne sowie der zentralen Protagonisten der Nachkriegs- und der Postmoderne. Über den etablierten Kanon der internationalen Architekturgeschichte geht Lampugnani vor allem in den Kapiteln hinaus, die städtebaulichen Entwicklungen in Italien gewidmet sind. Dazu gehören unter anderem die Behandlung der brachialen Stadtsanierungen und Großprojekte unter Mussolini (Kapitel 7, 16, 23, 28). Aber auch in den Darstellungen der holländischen Neuen Sachlichkeit (Kapitel 5), des sozialistischen Realismus der Sowjetunion in den 1960er-Jahren (Kapitel 19) oder der Planungen Auguste Perrets für den Wiederaufbau des völlig zerstörten Zentrums von Le Havre nach dem Zweiten Weltkrieg (Kapitel 22) – Lampugnani zufolge ein unterschätztes und zu wenig beachtetes Meisterwerk des modernen Städtebaus – erweitert er den gängigen Blick. Schließlich sprengt der Essay, der die Entstehung der autogerechten Stadtplanung anhand des Wirkens Victor Gruens – dem Hauptprotagonisten der Planung von Shopping Malls im Nachkriegsamerika – und der großmaßstäblichen Verkehrsplanungen Robert Moses‘ in New York nachzeichnet, die Grenzen der traditionellen, protagonisten- und epochenfixierten Architekturgeschichtsschreibung. Nur: Von derartigen Grenzüberschreitungen hätte man sich deutlich mehr gewünscht. Gerade für die knapp geratene Darstellung des Nachkriegswiederaufbaus in Deutschland (Kapitel 21) wäre eine stärkere Verknüpfung von planungshistorischen Details mit der Analyse ökonomischer Rahmenbedingungen und lokaler Akteurskonstellationen notwendig gewesen, um die autogerechten „Kahlschlagsanierungen und belanglosen Architekturen“ (S. 613) in vielen deutschen Städten der ersten Nachkriegsjahrzehnte verständlich zu machen. Das Gleiche gilt für den europäischen Wiederaufbau und Nachkriegsstädtebau (Kapitel 24): Hier versucht Lampugnani Beispiele aus unterschiedlichen europäischen Ländern zu berücksichtigen; die englischen „New Towns“ und die französischen „Villes nouvelles“ ebenso wie die skandinavischen Satellitenstädte und die deutschen Großsiedlungen werden jeweils auf wenigen Seiten knapp beschrieben – die ungeheure Dimension und gesellschaftliche Tragweite dieser Planungen geht aus diesen Schilderungen nicht hervor.

Generell gilt, dass die Dichte der Beschreibungen mit dem zeitlichen Verlauf deutlich abnimmt. Der Schwerpunkt der Ausführungen liegt auf dem Zeitraum von Anfang des 20. Jahrhunderts bis in die 1960er-Jahre; die jüngeren Entwicklungen hingegen werden in den letzten drei Kapiteln vergleichsweise knapp und anhand der bereits hinlänglich bekannten Protagonisten (zum Beispiel die Architektengruppen Team X und Archigram, das Office for Metropolitan Architekture (OMA), die Architekten Robert Venturi und Peter Eisenman) behandelt. Es mag an der noch nicht vorhandenen historischen Distanz liegen, dass diese Zusammenschau der jüngeren Geschichte eher mager ausfällt. Wichtige Debatten und Beispiele der vergangenen Jahrzehnte, etwa im Zusammenhang mit der Umnutzung ehemaliger innerstädtischer Industrie- und Hafenareale und einer neuen Generation großmaßstäblicher Stadtentwicklungsprojekte, bleiben völlig unbeleuchtet. Ein Grund hierfür mag jedoch auch sein, dass für Lampugnani Städtebau nur als Architektur und als klar umrissenes Projekt von Interesse ist – gerade die Entwicklungen der vergangenen Jahrzehnte entbehren unter dem Einfluss immobilienwirtschaftlicher Zwänge jedoch vielfach eines „großen Plans“.

Die Fokussierung des letzten Kapitels ist daher sicher programmatisch zu werten: Hier beschreibt Lampugnani die „Wiederentdeckung der historischen Stadt“ (S. 836) anhand der Beiträge Aldo Rossis und der italienischen Rationalisten, des Städtebaus der Brüder Krier, Oswald Maria Ungers und Ricardo Bofills sowie der Internationalen Bauausstellung in Berlin (1984–1986) und der Stadtmodernisierung Barcelonas im Zuge der Olympischen Spiele von 1992. Lampugnanis Sympathie gilt dem Versuch, eine Stadt des 20. Jahrhunderts zu schaffen, „die sich an jener der Vergangenheit orientiert, ohne sie zu kopieren, zu paraphrasieren oder zu negieren“ (S. 846).

Für die an der Fachdebatte interessierten Leser und Leserinnen stellen schließlich die spärlichen Verweise des Buches auf Fachliteratur ein großes Manko dar. Lampugnani bezieht sich in der Regel auf Originalquellen (die auch ausführlich belegt werden). Er macht sich jedoch kaum die Mühe, auf aktuelle Forschungen zu verweisen oder diese gar explizit zu diskutieren. So führt der Autor im Literaturverzeichnis für das sechste Kapitel „Skyscraper City“ mit „The American Skyscraper. Cultural Histories“ 1, „Form Follows Finance“ 2 und „The Chicago Tribune Tower Competition“ 3 drei wichtige jüngere Publikationen zur Geschichte des Hochhauses an; keine von diesen findet im Text oder in den Fußnoten Erwähnung, es bleibt völlig unklar, welche Erkenntnisse aus diesen Publikationen gewonnen wurden. Ähnliches gilt für die anderen Kapitel. Man hätte aber gerne gewusst, warum sich beispielsweise im Literaturverzeichnis zur autogerechten Stadtplanung in New York und Mexiko City (Kapitel 18) Kenneth Framptons „Ten Points on an Architecture of Regionalism“ 4 oder Manfredo Tafuris „Architecture and Utopia“ finden.5 Die mangelnden Verweise im Text machen es unmöglich, Lampugnanis Anteil von dem seiner Vorarbeiter und Vorarbeiterinnen zu trennen; es fällt damit auch schwerer, die Position des Autors zu erfassen bzw. diese in die Debatten einzuordnen. So liest man die dichten Beschreibungen Lampugnanis als die eines genauen Beobachters und Kenners der Quellen – die intellektuelle Auseinandersetzung des Autors mit dem Material wird nur an wenigen Stellen explizit gemacht; den Lesern und Leserinnen bleibt es überlassen, ihr eigenes Fazit zu ziehen.

Anmerkungen:
1 Roberta Moudry, The American Skyscraper. Cultural Histories, Cambridge / Massachusetts 2005.
2 Carol Willis, Form Follows Finance. Skyscrapers and Skylines in New York and Chicago, New York 1995.
3 Katherine Solomonson, The Chicago Tribune Tower Competition. Skyscraper Design and Cultural Change in the 1920s, Cambridge / Massachusetts 2001.
4 Kenneth Frampton, Ten Points on an Architecture of Regionalism. A Provisional Polemic, in: Center. A Journal for Architecture in America, 3 (1987), S. 20–27.
5 Manfredo Tafuri, Architecture and Utopia. Design and Capitalist Development, Cambridge / Massachusetts 1976.

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