J. Mahoney: Colonialism and Postcolonial Development

Cover
Titel
Colonialism and Postcolonial Development. Spanish America in Comparative Perspective


Autor(en)
Mahoney, James
Reihe
Cambridge Studies in Comparative Politics
Erschienen
Anzahl Seiten
424 S.
Preis
€ 71,80
Rezensiert für 'Connections' und H-Soz-Kult von:
Ulrich Mücke, Universität Hamburg

Die Debatte über die Gründe für die ökonomische und gesellschaftliche Entwicklung Lateinamerikas seit der Unabhängigkeit zu Beginn des 19. Jahrhundert ist so alt wie die unabhängigen Staaten selbst. Schon im 19. Jahrhundert konstatierten die lateinamerikanischen Eliten, dass sich ihre Länder anders veränderten als zum Beispiel Frankreich, Großbritannien und die USA. Und schon im 19. Jahrhundert blickte man auf die Kolonialzeit, um diese Andersartigkeit zu erklären. Die historische und sozialwissenschaftliche Forschung zu Lateinamerika hat vor allem seit den 1960er-Jahren eine Vielzahl von Modellen entwickelt, welche die nun als „Unterentwicklung“ bezeichnete Andersartigkeit erklären sollten. Mahoneys Buch ist ein Beitrag zu dieser Debatte, dessen Verdienst vor allem in seinem Plädoyer für stärkere Differenzierung besteht. Mahoney zufolge sollte man zwischen verschiedenen lateinamerikanischen Kolonialerfahrungen unterscheiden. Denn diese Verschiedenheit habe Konsequenzen für spätere Entwicklungen gehabt. Unter Ausklammerung Brasiliens unterscheidet Mahoney zwischen Kernregionen und Peripherien. Zwischen beiden gibt es noch einige Gebiete, die gewissermaßen Zwischenzonen bilden. Die unterschiedlichen Gebiete analysiert Mahoney vor allem hinsichtlich der Bevölkerung, der Kolonialinstitutionen und der wirtschaftlichen Tätigkeiten. Als besonders erfolgreich im Anschluss an die Unabhängigkeit erweisen sich in diesem Modell die Kerngebiete der Peripherien (Argentinien, Uruguay und Venezuela). Eher vom Zufall abhängig ist der Erfolg oder Misserfolg in den Peripherien der Peripherien (zum Beispiel Chile und Zentralamerika ohne Guatemala). Wenig Erfolg gibt es in den Peripherien der Kolonialzentren (Bolivien, Ecuador, Guatemala) und mittleren Erfolg in den Kernen der Zentren (Mexiko, Peru, Kolumbien).

Mahoneys Werk basiert auf einer breiten Literaturkenntnis und trägt im Detail zum Verständnis der frühneuzeitlichen Geschichte Lateinamerikas bei. Überzeugen kann die These von Mahoney aber nicht. Die Entwicklungen in den spanischamerikanischen Ländern und in Brasilien im 19. und 20. Jahrhundert lassen sich nur zu einem geringen Teil aus der frühneuzeitlichen Geschichte ableiten. Es gibt vor allem zwei Argumente, die gegen eine Pfadabhängigkeit sprechen. Erstens sind die Veränderungen im 19. und 20. Jahrhundert so bedeutsam, dass sie die Auswirkungen des „kolonialen Erbes“ deutlich relativieren. Das heutige Argentinien zum Beispiel entstand überhaupt erst an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert durch die millionenfache Einwanderung. Die historischen Wurzeln des modernen Argentiniens liegen daher ebenso in den Auswanderergesellschaften (vor allem Italien) wie in der spanischen Kolonialzeit. In Mexiko wiederum sind die USA von zentraler Bedeutung. Die Industrialisierung Mexikos ist ohne US-amerikanische Investoren und Märkte unvorstellbar. Die Bedeutung des kolonialen Erbes ist dementsprechend zu relativieren. Das zweite Argument bezieht sich auf den Naturraum. Die Umbrüche in Mittel- und Westeuropa im 19. Jahrhundert waren eng verbunden mit schiffbaren Flüssen, mit Landschaften, in denen man Kanäle bauen konnte, mit Kohle, Eisenerz und anderen naturräumlichen Voraussetzungen. Da die vermeintliche „Unterentwicklung“ Lateinamerikas sich an Europa misst, ist danach zu fragen, inwiefern nicht die anderen naturräumlichen Rahmenbedingungen – ganz unabhängig von den gesellschaftlichen Strukturen – es unmöglich machten, den europäisch-US-amerikanischen Weg der Industrialisierung zu beschreiten.

Wolfgang Knöbl hat darauf hingewiesen, dass wir die Entstehung der Moderne nur erklären können, wenn wir auch zufällige Aspekte und Entwicklungen ins Auge fassen.1 Dieser Argumentation zufolge gibt es langfristig keine Pfadabhängigkeit, da immer wieder Brüche oder Wendungen eintreten, welche zum Verlassen des Pfades führen. Das Buch von Mahoney ist ein sehr belesener und sehr kluger Versuch für die spanischamerikanischen Länder jahrhundertealte Pfade zu beschreiben. Die Stärke des Buches liegt dabei in der Beschreibung der kolonialzeitlichen Entwicklungen. Dass diese Entwicklungen aber für die Geschichte Lateinamerikas im 19. und 20. Jahrhundert so bedeutsam waren, wie Mahoney behauptet, kann das Buch nicht zeigen.

Anmerkung:
1 Wolfgang Knöbl, Die Kontingenz der Moderne. Wege in Europa, Asien und Amerika, Frankfurt am Main 2007.

Redaktion
Veröffentlicht am
Beiträger
Redaktionell betreut durch
Kooperation
Diese Rezension entstand im Rahmen des Fachforums 'Connections'. http://www.connections.clio-online.net/