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Titel
Susan Isaacs. A Life Freeing the Minds of Children


Autor(en)
Graham, Philip
Erschienen
London 2009: Karnac Books
Anzahl Seiten
352 S.
Preis
€ 36,80
Rezensiert für die Historische Bildungsforschung Online bei H-Soz-Kult von:
Patrick Bühler, Institut für Erziehungswissenschaft, Universität Bern

Am Anfang des 20. Jahrhunderts dauerte es, wie Anna Freud feststellte, nur „ein bis zwei Jahrzehnte[]“, bis es „die Analytiker aus guten Gründen drängte, sich in der praktischen Pädagogik zu versuchen“.1 Wie Anna Freuds Vater selbst erklärte, hatte von „allen Anwendungen der Psychoanalyse [...] keine so viel Interesse gefunden, so viel Hoffnungen erweckt und demzufolge so viele tüchtige Mitarbeiter herangezogen wie die auf die Theorie und Praxis der Kindererziehung“.2 Diese „Hoffnungen“ führten auch zu eigens für Pädagogen verfassten Darstellungen, wie zum Beispiel Oskar Pfisters „Was bietet die Psychanalyse dem Erzieher?“ (1917),3 und zu speziellen Ausbildungsgängen. So behandelte zum Beispiel Siegfried Bernfeld in den 1920er-Jahren am ,Berliner Psychoanalytischen Institut‘ „vor Pädagogen jeder Art in regelmäßigen Seminarien“, „die Möglichkeiten der praktischen Anwendung der Psychoanalyse in der Erziehung“.4 Solch „tüchtige Mitarbeiter“ lancierten auch eine Reihe kurzer, psychoanalytisch-pädagogischer ,Schulversuche‘ mit nur wenigen ,Teilnehmern‘, die Kindergärten, Heime und Schulen umfassten, so zum Beispiel das von August Aichhorn geleitete Jugendheim in Oberhollabrunn (1919–1921), das von Bernfeld geführte Kinderheim ,Baumgarten‘ (1919–1920), die ,Burlingham-Rosenfeld Schule‘ (1927–1932) sowie die ,Jackson Krippe‘ (1937–1938) in Wien oder Nelly Wolffheims Kindergärtnerinnen-Seminar in Berlin (1934–1939).

Am Anfang des 20. Jahrhunderts gab es allerdings nicht nur im deutschen Sprachraum Pädagoginnen und Pädagogen, die sich mit Psychoanalyse beschäftigten, und Psychoanalytikerinnen und Psychoanalytiker, die über Erziehung nachdachten. In Frankreich und in der französischen Schweiz zum Beispiel hatte sich dafür jedoch weder eine eigene Bezeichnung herausgebildet, noch gab es spezielle Ausbildungsgänge, Zeitschriften oder psychoanalytisch-pädagogische ,Schulversuche‘ wie im deutschen Sprachraum.5 Dasselbe galt etwa auch für Großbritannien. 1929 bedauerte die englische Psychoanalytikerin Barbara Low, eine ausgebildete Lehrerin, dass man „es noch nicht zu systematischen psychoanalytischen Kursen für Lehrer“ wie in Deutschland und der Schweiz gebracht habe. Auch gäbe es keine Schule, „die man absolut als psychoanalytisch bezeichnen“ könne. Als einzige Ausnahme ließ Low Susan Isaacs’ ,Malting House School‘ (1924–1927) gelten.6 Während zur Geschichte der ,Psychoanalytischen Pädagogik‘ im deutschen Sprachraum immerhin einige Studien vorliegen, hat Isaacs (1885–1948) bisher nur wenig Beachtung gefunden. Es ist Philip Grahams großes Verdienst, ihr nun eine ebenso sorgfältig recherchierte wie elegant geschriebene Biographie gewidmet zu haben.

Ein gutes Beispiel für Grahams geschickte Verbindung von historischer Forschung und kurzweiligem Erzählstil liefert gleich der Anfang der Biographie, die 1909 einsetzt. Isaacs – damals noch Fairhurst – war 23 Jahre alt, ihr Vater gerade gestorben. Graham malt sich unaufdringlich die Beerdigung aus und nutzt gleichzeitig dieses ,Arrangement‘, um die Karriere von Isaacs’ Vater, einem Journalisten, Sportler und engagierten Methodisten, nachzuzeichnen und dann im folgenden Kapitel die Geschichte der Familie und des Viertels zu erzählen, in dem die Familie Fairhurst in Bolton im Nord-Westen Englands wohnte. Ob die Ausbreitung der methodistischen Kirche oder die Schule, die Isaacs besuchte, Graham verbindet gewandt Lokal- mit Sozialgeschichte. In ähnlicher Manier folgt Graham Isaacs’ Biographie von ihrer Lehrerinnenausbildung und ihrem Studium bis zu ihrer Arbeit am Institut für Psychologie in Cambridge. 1919 begann Isaacs sich für Psychoanalyse zu begeistern; bereits zwei Jahre später war sie Mitglied der ,British Psycho-Analytical Society‘. Wie viele der psychoanalytischen Pädagogen war also auch Isaacs zuerst und à la lettre Pädagogin.

1924 wurde – dank des wohlhabenden Geoffrey Pykes – die ,Malting House‘-Schule in Cambridge eröffnet, die Isaacs leitete. Die Kinder sollten ihre Neugierde ausleben und möglichst zu nichts gezwungen werden. Das Zusammenleben in der Schule scheint sich jedoch nicht ganz einfach gestaltet zu haben, denn: „Reading about the behaviour of the children today, one is struck by just how disturbed many of them appear“ (S. 111). Graham zitiert auch die beißenden Kommentare James Stracheys – des späteren Herausgebers der Standard Edition von Freuds Werken –, der Isaacs nicht ausstehen konnte. Nachdem ein Kind sie angespuckt habe, sei Isaacs den ganzen Tag mit Spucke im Gesicht herumgelaufen, weil das Kind sich geweigert habe, ihr das Gesicht zu säubern (S. 119). Die Methode, die in Cambridge zur Anwendung gelangte, scheint also eine ähnliche zu sein wie etwa in Bernfelds ,Baumgarten‘: Man erlaubte den Kindern fast alles und unternahm fast nichts. Des „neuen Erziehers Tun“ sei, so Bernfeld, „viel mehr ein Nichttun, viel mehr Beobachten, Zusehen, Leben, als ein stetes Mahnen, Strafen, Lehren, Fordern, Verbieten, Anfeuern und Belohnen“.7 Isaacs hob allerdings später hervor, dass ihre Schule keineswegs eine psychoanalytische gewesen sei und warnte davor, Schule und Analyse zu vermengen (S. 234). Die ,Malting House School‘ schloss 1927, nachdem Pyke sein Vermögen verloren hatte. Danach arbeitete Isaacs als Psychoanalytikerin und verfasste einen erfolgreichen Ratgeber über Kleinkindererziehung, „The Nursery Years“ (1929). Als ,Ursula Wise‘ beantwortete sie über Jahre hinweg in einer Ratgeber-Kolumne Fragen von Eltern. Ab 1933 leitete sie das neu geschaffene Institut ,Child Development‘ an der Londoner Lehrerinnen- und Lehrerausbildung, bis sie 1948 starb.

Das knappe Resumé vermag nicht annähernd zu zeigen, auf welch breiter und liebevoll recherchierter Basis Graham argumentiert und wie gut es ihm gelingt, den Lebensweg Isaacs’ mit der Darstellung historischer Hintergründe zu verbinden. Verdrießlich stimmen können höchstens Kleinigkeiten. So wird ohne konkrete Grundlage wiederholt über Isaacs’ „serious psycho-sexual problems“ (S. 150) spekuliert. Obwohl Graham mehrmals auf den Antisemitismus eingeht, dem zum Beispiel Isaacs’ Lehrer oder auch ihr Mann ausgesetzt sind, kann ihm zufolge trotzdem jemand „obviously Jewish in appearance“ (S. 96) sein. Gelegentlich grast Graham auch auf äußert zweifelhaften Allgemeinplätzen, so etwa wenn er behauptet, dass ,die Juden‘ und ,die Methodisten‘ sich glichen, weil beide Bildung hoch hielten, einen festen Glauben und auch meist ein starkes Interesse an Kindererziehung hätten (S. 79–80). Ähnlich fragwürdig ist Grahams Behandlung der ,Reformpädagogik‘. So versteigt er sich zu gewagten historischen Dreisprüngen, mit denen er etwa von Rousseau über Fröbel flott bei Montessori landet. Mit einer derart schwungvoll konstruierten Genealogie sitzt Graham der bereits zu Beginn des Jahrhunderts gepflegten ,reformpädagogischen‘ Rhetorik auf, die allerdings bis heute in der Pädagogik selbst häufig noch gutgläubig wiederholt wird.8

Anmerkungen:
1 Anna Freud, Wege und Irrwege in der Kinderentwicklung, Frankfurt am Main 1987, S. 2124.
2 Sigmund Freud, Geleitwort zu August Aichhorns Verwahrloste Jugend, in: Gesammelte Werke, 14. Band, 3. Aufl., Frankfurt am Main 1963, S. 565–567, hier S. 565.
3 Oskar Pfister besteht auf ,Psychanalyse‘, da es sich beim Kompositum mit o um eine falsche Ableitung aus dem Griechischen handle. Der Terminus wird nicht nur von Pfister verwendet und hat sich im Französischen eingebürgert.
4 Carl Müller-Braunschweig, Historische Übersicht über das Lehrwesen, seine Organisation und Verwaltung, in: Sándor Radó / Otto Fenichel / Carl Müller-Braunschweig (Hrsg.), Zehn Jahre Berliner Psychoanalytisches Institut (Poliklinik und Lehranstalt), Wien 1930, S. 20–44, hier S. 25.
5 Mireille Cifali / Jeanne Moll, Zur Begegnung zwischen Pädagogik und Psychoanalyse in Frankreich und in der romanischen Schweiz, in: Jahrbuch für Psychoanalytische Pädagogik 7 (1995), S. 63–71.
6 Barbara Low, Der Einfluss der Psychoanalyse auf die Erziehung in England während der letzten 18 Jahre, in: Internationale Zeitschrift für Psychoanalyse 15 (1929), S. 340–346, hier S. 344.
7 Siegfried Bernfeld, Kinderheim Baumgarten. Bericht über einen ernsthaften Versuch mit neuer Erziehung, in: Sozialpädagogik. Schriften 1921–1933, Weinheim 1996, S. 8–155, hier S. 43 (= Sämtliche Werke in 16. Bänden, 11. Band).
8 Vgl. zu dieser Rhetorik Jürgen Oelkers, Reformpädagogik. Eine kritische Dogmengeschichte, 4. Aufl., Weinheim 2005.

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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit der Historischen Bildungsforschung Online. (Redaktionelle Betreuung: Philipp Eigenmann, Michael Geiss und Elija Horn). https://bildungsgeschichte.de/
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